Am 28. und 29. Mai fand in Berlin eine Konferenz unter dem Titel „Revolution und Krieg: Die Ukraine in den großen Transformationen des neuzeitlichen Europa“ statt. Es war die erste Tagung der im Februar gegründeten Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission.
Unter den 170 Teilnehmern befanden sich bekannte Osteuropahistoriker aus der Ukraine, Deutschland und den USA, Journalisten, Mitglieder von NGOs, die Spitze der grünen Heinrich-Böll-Stiftung sowie der ukrainische Botschafter in Deutschland und Vertreter des Auswärtigen Amts und der amerikanischen Botschaft. Die meisten kannten sich von der gemeinsamen Arbeit zur Unterstützung des Maidan-Umsturzes in Kiew.
Martin Schulze Wessel, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Ludwigs-Maximilian Universität München und Vorsitzender der neuen Kommission, eröffnete die Konferenz mit der Bemerkung, die Kommission folge „nur der wissenschaftlichen Logik“ und werde „selbstverständlich nicht zum Agenten einer bestimmten Geschichtspolitik“ werden.
Bei einer Historikerkommission müsste das eigentlich selbstverständlich sein. Dass Schulze-Wessel es dennoch eigens betonte, unterstreicht, dass dies hier nicht der Fall ist und auch nicht zutrifft. Wie der weitere Verlauf der Tagung zeigen sollte, ist die Kommission nicht nur „Agent einer bestimmten Geschichtspolitik“, sie stellt vielmehr die Geschichte selbst in den Dienst der Politik und biegt sie im Interesse der deutschen und amerikanischen Außenpolitik zurecht.
Schulze Wessel bedankte sich ausdrücklich bei der Bundesregierung für die Finanzierung der Kommission – was auch nicht für deren Unabhängigkeit spricht. Das Imre-Kertész-Kolleg in Jena und das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LMU München, die gemeinsam mit dem Historikerverband die Kommission initiiert haben, werden vom Bundesbildungsministerium bezahlt.
Es ist bezeichnend, dass der Yale-Historiker Timothy Snyder in Berlin die Auftaktrede hielt. Snyder ist Mitglied des regierungsnahen US-Thintanks Council on Foreign Relations und seit Monaten als Propagandist in Sachen ukrainischer Nationalismus unterwegs. Die WSWS schrieb über ihn: „In den Schriften Timothy Snyders tritt uns eine ungesunde und gefährliche Tendenz entgegen: die Verwischung des Unterschieds zwischen Geschichtsschreibung und der Fabrikation von Propaganda.“ (David North, „Die Russische Revolution und das unvollendete 20. Jahrhundert“, Mehring Verlag 2015, S. 420)
Snyders Rede bestätigte diese Einschätzung. Er wollte die Arbeit der Kommission nicht auf die Erforschung der ukrainischen Geschichte und ihrer Beziehungen zu Deutschland beschränkt sehen. Vielmehr habe sie die Aufgabe, „das Verständnis einer gemeinsamen europäischen Geschichte“ zu entwickeln. Dies sei „ohne die Ukraine nicht möglich.“
Was er damit meinte, war ein Umschreiben der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts aus Sicht des ukrainischen Nationalismus. Er tat das in einer Weise, die einem unbefangenen Zuhörer die Sprache verschlug. Ohne neue Fakten oder Argumente zu präsentieren, entwickelte er ein Narrativ, das anerkannte historische Zusammenhänge ins Gegenteil verkehrte, verfälschte oder unterschlug.
Den Ersten Weltkrieg, einen imperialistischen Krieg um die Neuaufteilung der Welt zwischen den kapitalistischen Großmächten, bezeichnete Snyder als „Höhepunkt einer Ära der De-Kolonisierung“. Serbien, das den Weltkrieg mit seinem Kampf um nationale Souveränität begonnen habe (!!), sei daraus nicht nur militärisch, sondern mit seinem Konzept der De-Kolonisation auf internationaler Ebene auch intellektuell als Sieger hervorgegangen.
Die Zwischenkriegszeit sei dann vom „intellektuellen Sieg der De-Kolonisierung“ geprägt gewesen: Die „Lösung auf dem Balkan“ – die Schaffung einer Vielzahl neuer kleiner Nationalstaaten – sei auf den Rest Europas angewandt worden. Dies wiederum habe die „zwei rivalisierenden Mächte in Europa, die Sowjetunion und Deutschland“, dazu eingeladen, eine neo-imperiale Politik zur Kolonisierung dieser Länder zu entwickeln.
In der Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs, von 1938 bis 1941, hätten diese beiden Mächte das europäische Nationalstaatensystem zerstört. Ab 1941 sei es dann zum „Zusammenstoß“ (!) zwischen den beiden Rivalen gekommen. Snyder verwandelte so den deutschen Überfall auf die Sowjetunion unter der Hand in einen „Kampf um die Ukraine“, die beide Mächte als das wichtigste, zentrale Ressourcengebiet Europas „für sich als Kolonie“ beansprucht hätten.
Hitlers erklärtes Ziel, die Sowjetunion auf der Weltkarte auszuradieren, der „Generalplan Ost“ und der „Hungerplan“ der Nazi-Führung, die 30 Millionen Menschen vernichten und „Lebensraum im Osten“ schaffen sollten, sowie viele andere geschichtliche Fakten lässt Snyder einfach unter den Tisch fallen, oder er erklärt sie für „stark übertrieben“ und bezeichnet sie als „Mythen“. All das verkündete er keine 200 Meter vom Jüdischen Museum entfernt, einem der vielen Orte, die an die bestialischen Verbrechen der Nazis erinnern, die erst von der sowjetischen Armee gestoppt wurden.
Ernst Nolte hatte im Historikerstreit 1986 den Nationalsozialismus verharmlost, indem er ihn als verständliche Antwort auf die „Vernichtungsvorgänge der Russischen Revolution“ bezeichnete. Snyder geht noch weiter: Er streicht den deutschen Überfall auf die Sowjetunion kurzerhand aus der Geschichte und verwandelt den Krieg in den Kampf zweier Aggressoren um die Ukraine – die ein fester Bestandteil der Sowjetunion war.
Die politischen Motive dieser Geschichtsrevision sind leicht zu durchschauen. Sie dient der Rechtfertigung des Regimes in Kiew, das sowjetische Symbole unter Strafe stellt, Nazi-Kollaborateure aus dem Zweiten Weltkrieg als Freiheitshelden verehren lässt und eng mit Berlin und Washington zusammenarbeitet. Nicht zufällig hat Snyder seine kruden Konzepte zur ukrainischen Geschichte dem Propagandaarsenal der ukrainischen Rechten entnommen.
Den Rest seiner Rede widmete Snyder der Glorifizierung der Europäischen Union. Hatte er den Ersten Weltkriegals Höhepunkt der De-Kolonisation und den Zweiten als Versuch zweier neo-imperialen Rivalen Europa zu rekolonisieren dargestellt, bezeichnete er nun die EU und ihre Vorgänger als „post-koloniale“ und „post-imperiale Projekte“ einer „Zivilgesellschaft“, die der russische Präsident Putin zerstören wolle.
Die EU sei der einzig mögliche Weg, die nationale Souveränität kleiner Staaten zu gewährleisten. Im Prinzip betrachte Deutschland Luxemburg oder die Tschechische Republik als „Partner auf Augenhöhe“, behauptete Snyder. Das wirkt angesichts der europäischen Realität geradezu grotesk, erhebt doch die deutsche Regierung offen den Anspruch, wieder „Führungsmacht“ in Europa zu sein, und zwingt schwächeren Ländern ein brutales Spardiktat auf.
Snyder wurde nicht müde zu betonen, dass die Zukunft der EU in der Ukraine ausgefochten werde. Es gehe um einen existentiellen Konflikt der EU gegen das imperiale Russland. In der anschließenden Diskussion erklärt er: „Ihr [Europäer] könnt Russland die Ukraine geben, aber das bedeutet nicht, dass ihr gewinnt.“ Kompromisse und Zugeständnisse würden „Putin nicht davon abhalten, das Ganze aufzurollen. Putin will das Projekt EU zerstören.“
Snyder erntete viel Applaus und keinen offenen Widerspruch. Vladislav Hrytsak (Katholische Universität Lemberg), der zu den Begründern der Kommission gehört, dankte Snyder für „diese brillante Rede“. Martin Schulze Wessel, der auch Vorsitzender des Deutschen Historikerverbandes ist, rühmte Snyders Konzeptionen als „frische Interpretation der ukrainischen Geschichte und der russisch-ukrainischen Geschichte“.
Für Snyder waren diese Lobhudeleien ein Ansporn, in der anschließenden Diskussion noch schärfer zum Krieg gegen Russland zu hetzen. In völliger Verdrehung der Realität behauptete er, die Ukraine habe für die amerikanischen Eliten nur sehr niedrige Priorität. Die USA würden „dieses Mal in der Ukraine nicht für Europa helfend einspringen“.
Wie bereits im März bei einer Veranstaltung der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, plädierte Snyder für eine europäische Armee. Selbst 30,000 Mann wären ausreichend, um die russischen Streitkräfte zu schlagen, in denen nur einige wenige tausend Mann wirklich kampffähig seien, behauptete er.
Nicht alle Teilnehmer der Tagung waren bereit, Snyder in allen Punkten zu folgen. So gab es Diskussionen darüber, wie weit man bei der Verharmlosung der Organisation ukrainischer Nationalisten (OUN) und der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA), die zehntausende Polen, Juden, und Ukrainer umgebracht haben, gehen könne.
Tanja Penter (Universität Heidelberg), die ebenfalls in der neuen Kommission sitzt, plädierte dafür, dass nur eine kritische Aufarbeitung der „Tätergeschichte der Ukraine“ langfristig politische Stabilität und „Demokratie“ in der Ukraine gewährleisten könne.
Dem trat Martin Schulze Wessel aus Gründen der politischen Zweckmäßigkeit entgegen. „Die Ukraine befindet sich de facto im Krieg“, sagte er. „Eine kritische Aufarbeitung kann man nur unter post-heroischen Bedingungen erwarten. Jetzt befinden wir uns dort sozusagen noch unter heroischen Bedingungen.“
Włodzimierz Borodziej (Imre Kertész Kolleg Jena – Universität Warschau) erklärte unumwunden, die „grenzenlose Glorifizierung der UPA“, wie sie in den Romanen der ukrainischen Schriftstellerin Oksana Sabuschko anzutreffen sei, sei der „Preis“, den man für ein „Master-Narrativ“ der ukrainischen Geschichte zahlen müsse. Zudem laufe man Gefahr, der „russischen Propaganda noch mehr Argumente zu liefern“, wenn man die Geschichte des ukrainischen Faschismus aufarbeite.
Derartige Argumente zeigen, worum es der Historikerkommission eigentlich geht: um die Prostitution der Geschichtswissenschaft für reaktionäre politische Ziele. Ihre Gründung steht im Rahmen der Rückkehr Deutschlands zu einer aggressiven Großmachtpolitik, die die Bundesregierung seit der Münchener Sicherheitskonferenz 2014 systematisch propagiert.
Zu den größten Hindernissen zählt dabei ein öffentliches Bewusstsein, das den Ersten und den Zweiten Weltkrieg und die Rolle, die Deutschland darin spielte, als Verbrechen und Katastrophe sieht. Das Umschreiben der Geschichte des 20. Jahrhunderts ist daher eine wichtige Voraussetzung, um den ideologischen Boden für neue Kriege zu schaffen.
Diesem Zweck diente die Konferenz in Berlin, an der nicht nur Historiker, sondern auch Politiker und Journalisten teilnahmen. Letztere haben die Aufgabe, das neue historische Narrativ zu verbreiten, und sind sich ihrer Aufgabe bewusst.
Gerd Koenen, der als Vertreter des Imre-Kertész-Kolleg Jena an der Konferenz teilnahm, hatte eine Woche vorher in der Zeit unter der Überschrift „Was Putin treibt“ festgestellt: „So breit die Mehrheiten im Bundestag und in der Koalition noch sind und so unbeirrbar das Gros der Journalisten seine Arbeit tut – es ist nicht zu übersehen, dass in dieser Frage Parteien wie Medien sich in einer gravierenden, zum Teil schrillen Dissonanz zu einem erheblichen Segment der deutschen Öffentlichkeit bewegen.“
Putins Propaganda habe Wirkung gezeigt, beklagte Koenen, weil Deutschland auf Grund seiner Geschichte dafür „ein potenziell fruchtbarer Boden“ sei, geprägt von „Kriegsangst und Konfliktscheue“, von der Neigung, „sich wohlstandschauvinistisch abzuschirmen und gutschweizerisch im Trockenen zu halten“.
Den Rest seines Artikels widmete Koenen der Aufgabe, das traditionelle Geschichtsbild der Deutschen mit den Konzepten und im Jargon Snyders „zurechtzurücken“, so dass sie gegenüber dem „neoimperiale Projekt Putins“ wieder „Standhaftigkeit“ zeigen.