Heike Kleffner, Matthias Meisner (Hg.), „Extreme Sicherheit. Rechtsextreme in Polizei, Verfassungsschutz, Bundeswehr und Justiz“, Verlag Herder, Freiburg 2019
Das Buch „Extreme Sicherheit“ legt „erstmals in Buchform eine umfassende Analyse zu rechten Netzwerken im Staatsapparat in Deutschland vor“, schreiben die Herausgeber. Rund drei Dutzend investigative Journalistinnen und Journalisten tragen in 30 Einzelbeiträgen eine Fülle von Material über gewaltsame Neonazi-Gruppen, über rechtsextreme Netzwerke in Polizei, Justiz, Bundeswehr und Verfassungsschutz, sowie über deren Verbindungen und Interaktion zusammen.
Wer verstehen will, wie es möglich ist, dass fast 75 Jahre nach dem Untergang des Dritten Reichs ein Neonazi in Halle einen Anschlag auf eine volle Synagoge verübt und warum Deutschland wieder ein ernsthaftes Nazi- und Antisemitismus-Problem hat, sollte dieses Buch lesen. Die meisten Beiträge stützen sich auf frühere Recherchen, die Berichte parlamentarischer Untersuchungsausschüsse, Aussagen in Gerichtsprozessen und ähnliches Material – berichten also bereits Bekanntes. Trotzdem ist das Buch lesenswert, weil es auf 300 Seiten Informationen zusammenbringt, über die bisher nur vereinzelt und getrennt voneinander berichtet wurde.
So zeichnet es ein eindrückliches Bild, das eine Schlussfolgerung zwingend nahelegt: Es ist schlichtweg unmöglich, die rechtsradikalen Netzwerke im Staatsapparat und ihre Verbindungen zur militanten Neonazi-Szene auf „Einzelfälle“ oder „Pannen“ zu reduzieren. Vielmehr ist der staatliche Sicherheitsapparat selbst eine Brutstätte des Rechtsextremismus. Verfassungsschutz, Bundeswehr und Teile von Polizei und Justiz sind nicht einfach nur „auf dem rechten Auge blind“, sondern sie verharmlosen, fördern, organisieren und finanzieren gezielt rechtsextreme Netzwerke und schirmen sie vor der Öffentlichkeit ab.
Das hat sich mit dem Aufstieg der AfD weiter verstärkt. Das Buch weist nach, dass die rechtsextreme Partei, die gegen Ausländer hetzt, Hitlers Wehrmacht verherrlicht und die Verbrechen der Nazis verharmlost, wie keine andere im Staatsapparat verankert ist. 15 Prozent ihrer Bundestags- und 10 Prozent ihre Landtagsabgeordneten haben einen militärischen Hintergrund, der über den Grundwehrdienst hinausgeht. Acht Prozent sind ehemalige oder freigestellte Polizeibeamte. Bei allen anderen Parteien ist dieser Anteil lediglich halb bis ein Viertel so hoch.
Doch an dieser Stelle macht das Buch abrupt halt. Die Autoren scheinen fest entschlossen, die Augen vor dem Abgrund zu verschließen, den sie selbst aufgedeckt haben. Nicht einer stellt die Frage, was die tieferen gesellschaftlichen Ursachen des wachsenden Rechtsextremismus sind. Obwohl es in fast allen Ländern ähnliche Entwicklungen gibt und historische Parallelen zum Nationalsozialismus unübersehbar sind, blicken sie weder über den nationalen Tellerrand hinaus, noch in die Geschichte zurück, um daraus politische Schlussfolgerungen zu ziehen. Stattdessen finden sich in dem Buch moralische Appelle sowie Vorschläge, den Rechtsextremismus im Staatsapparat durch Sensibilisierung, Aufklärung und andere homöopathische Mittel zu bekämpfen.
In den Augen der Herausgeber und Autoren besteht die Aufgabe von Verfassungsschutz, Bundeswehr und Polizei darin, die Demokratie zu schützen. Es gehe „um die Institutionen und ihre Funktionsträger, deren zentrale Aufgaben darin bestehen, den demokratischen Rechtsstaat und die Menschen zu schützen, die hier leben“, schreiben sie im Vorwort. „Wir fragen, wie viele Sorgen wir uns darum machen müssen, wer die demokratische Grundordnung schützt – und wo sie plötzlich schutzlos scheint.“ Diese Auffassung, die tief in der Tradition des deutschen Obrigkeitsstaats wurzelt und eher zu einer Militärdiktatur als zu einer Demokratie im Sinne von Volksherrschaft passt – macht die Autoren blind gegenüber der Rechtsentwicklung, die nicht nur im Staatsapparat, sondern in der gesamten herrschenden Klasse stattfindet.
Die Rückkehr Deutschlands zu Militarismus und Großmachtpolitik, die 2014 durch die Große Koalition eingeleitet wurde, die Übernahme der Flüchtlingspolitik der AfD durch die Bundesregierung und die ständige Verschärfung der Polizeigesetze haben die Rechtsextremen in Staat und Gesellschaft gestärkt und ermutigt. Dieser Rechtsruck wird von allen etablierten Parteien unterstützt. Die herrschende Klasse reagiert damit auf die zunehmenden sozialen Spannungen. Wie in den 1930er Jahren setzt sie auf den starken Staat und auf Faschismus, um die wachende Opposition der Arbeiterklasse und der Jugend gegen soziale Ungleichheit und Kapitalismus zu unterdrücken.
Dagegen helfen keine homöopathischen Mittel, sondern nur die Mobilisierung einer breiten Bewegung auf der Grundlage eines antikapitalistischen, sozialistischen Programms. Der Verfassungsschutz, die Bundeswehr und die rechten Zellen in Polizei und Justiz müssen aufgelöst werden. Auch wenn die Autoren des Buches diesen Fragen ausweichen, liefern sie doch anschauliches Material, das sichtbar macht, wie sehr die rechtsradikalen Netzwerke im Staatsapparat mit terroristischen Nazi-Gruppen und den höchsten Ebenen der Politik verflochten sind.
Vom NSU zum Lübcke-Mord
Sehr deutlich zeigt dies der Komplex, der von der Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) bis zum Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke reicht. Mehrere Beiträge in dem Buch beschäftigen sich mit verschiedenen Aspekten dieses Komplexes. Sie zeichnen das Bild eines weitgefächerten Netzes, das sich von der Neonazi-Szene und dem Verfassungsschutz Thüringens und Hessens bis in höchste Regierungsämter erstreckt, und dessen Linien sich immer wieder überraschend kreuzen.
Die Ursprünge dieses Netzes gehen auf den Anfang der 1990er Jahre zurück, als nach der deutschen Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern der Verfassungsschutz und die Landeskriminalämter (LKA) aufgebaut wurden. Für diese Aufgabe wurden meist „Experten“ aus dem Westen herangezogen, deren wichtigste Qualifikation ihr vehementer Antikommunismus war.
In Thüringen waren dies Helmut Roewer, der seine Karriere im Bundesinnenministerium begonnen hatte, für den Verfassungsschutz und Uwe Kranz, ein hoher Polizeibeamter aus Rheinland-Pfalz, für das LKA. Beide sind heute „gern gesehene Redner und Autoren bei Rechtspopulisten und Verschwörungstheoretikern. Ihre Biografien stehen stellvertretend für eine in der alten Bundesrepublik sozialisierte Generation von hochrangigen Vertretern aus Polizei und Geheimdiensten, die sich offen zu rechtsextremen Positionen bekennen“, bemerkt der MDR-Redakteur Axel Hemmerling in dem Buch.
Vor allem Roewer spielte eine Schlüsselrolle beim Aufbau der Neonaziszene, aus welcher der NSU hervorging. Deren führenden Köpfe wurden vom Verfassungsschutz als „Quellen“ geführt, großzügig finanziert, gegenüber der Öffentlichkeit verharmlost und vor Nachforschungen der Polizei geschützt.
Die bekannteste dieser Quellen oder V-Männer ist Tino Brandt, der Chef des Thüringer Heimatsschutzes (THS), einer straff durchorganisierten Neonazi-Organisation, aus der auch der spätere Kern des NSU (Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe) hervorgeht. Brandt erhält vom Verfassungsschutz insgesamt 200.000 D-Mark steuerfrei als Spitzellohn. „Der Verfassungsschutz zahlt auch seine Fahrtkosten und seine Ausrüstung – Handys, Computer, Faxgerät, Modem. Brandt vernetzt sich bundesweit und baut den Thüringer Heimatschutz weiter auf – mit Unterstützung des Verfassungsschutzes.“ Roewer sorgt auch für den Schutz seiner „Quelle“: „Alle gegen Brandt laufenden 30 Ermittlungsverfahren werden eingestellt.“
Brandt war nicht die einzige „Top-Quelle“ Roeders. Auch Thomas Dienel, ehemaliger NPD-Mann und Ex-Bundeschef der Deutschen Nationalen Partei mit mehreren Haftstrafen, traf sich 93 Mal mit dem Verfassungsschutz und kassierte dafür 30.000 D-Mark. Eine weitere Spitzenquelle befand sich im rechtsextremen, militanten Neonazinetzwerk Blood and Honour.
Roewer beschränkt sich nicht auf die Finanzierung führender Neonazis. Er wird auch selbst einschlägig aktiv. Unter dem Tarnnamen Stephan Seeberg gründete er mit einem Stammkapital von 50.000 D-Mark (aus Steuergeldern) den Tarnverlag Heron. „Ein ‚Think Tank‘ entsteht“, so Hemmerling, „der sich vor allem aus rechtskonservativen, geschichtsrevisionistischen und antisemitischen Denkmustern und -texten speist.“
Als Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe 1998 nach der Entdeckung einer Bombenwerkstatt in Jena in den Untergrund gehen, werden sie von Roewer unterstützt. „Seine Top-Quelle Brandt hält sogar einen Telefonkontakt zu den Untergetauchten. Selbst über eine Bewaffnung und die Fluchtrichtung ist das Landesamt im Bilde. Verraten wird es das alles der Polizei nicht.“ Der Verfassungsschutz stellt den dreien über Brandt sogar 2000 Mark zur Verfügung, damit sie falsche Pässe kaufen können.
Auch über die ersten Banküberfälle des NSU-Trios wusste der Thüringer Verfassungsschutz Bescheid, gab die Informationen aber nicht weiter. Der erste thüringische NSU-Untersuchungsausschuss, der sich mit diesen Vorfällen befasste, gelangte zum Schluss, es sei nicht mehr vertretbar, „hier nur von ‚unglücklichen Umständen‘, ‚Pannen‘ oder ‚Fehlern‘ zu sprechen“. Vielmehr liege auch der „Verdacht gezielter Sabotage oder des bewussten Hintertreibens des Auffindens der Flüchtlinge“ nahe.
Roewer konnte sich dank der Unterstützung des sozialdemokratischen Innenministers Richard Dewes bis 2000 im Amt halten. Danach wurde er von dessen Nachfolger Christian Köckert (CDU) im Alter von 50 Jahren in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Seither tritt der staatlich bezahlte Pensionär als rechtsextemer Redner und Publizist auf, schreibt für das rechtsextreme Compact-Magazin und die Junge Freiheit und veröffentlicht Bücher im äußerst rechten Ares-Verlag in Graz.
Roewer war nicht allein. Sein Stellvertreter an der Spitze des Thüringischen Verfassungsschutzes, Peter-Jörg Nocken, war für das Anwerben der „Quellen“ verantwortlich und unterhielt engen Kontakt zu ihnen. Nocken steht im Verdacht, den Thüringer Blood-and-Honour-Chef Marcel D., der Kontakt zum NSU-Unterstützerkreis unterhielt, im Herbst 2000 vor einer Polizei-Razzia gewarnt zu haben.
Nockens Rolle ist auch deshalb wichtig, weil er enge Verbindungen zum Verfassungsschutz in Hessen unterhielt, aus dem er ursprünglich kam. Bereits dort hatte er für einen Skandal gesorgt. Er wurde 1989 verdächtigt, im Fall des bis heute ungeklärten Mords am Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, eine falsche Spur zur angeblich dritten Generation der Roten Armee Fraktion gelegt zu haben.
Nicht nur die Geheimdienste, auch die Neonazi-Szenen von Thüringen und Hessen und die entsprechenden „Quellen“ sind eng verflochten. So sollen die NSU-Mitglieder Böhnhardt und Mundlos wenige Tage vor ihrem neunten Mord, den sie in Kassel verübten, an der Geburtstagsfeier eines führenden Neonazis in der nordhessischen Stadt teilgenommen haben, auf der vermutlich auch der spätere Lübke-Mörder Stephan Ernst anwesend war.
Als am 6. April 2006 dann Halit Yozgat in seinem Kasseler Internetcafé durch zwei Kopfschüsse getötet wurde, war Andreas Temme, ein Beamter des hessischen Verfassungsschutzes, persönlich vor Ort. Der Grund dafür konnte nie zufriedenstellend geklärt werden. Temme behauptete völlig unglaubwürdig, er sei rein zufällig dort gewesen und habe nichts bemerkt, während sein Dienstherr, der damalige hessische Innenminister und heutige Ministerpräsident Volker Bouffier, dafür sorgte, dass Akten, die Aufschluss geben könnten, jahrzehntelang unter Verschluss bleiben.
Der Historiker Jens Eumann von der Freien Presse Chemnitz berichtet in dem Buch, gestützt auf Untersuchungen des hessischen NSU-Ausschusses, über enge Verbindungen zwischen Temme, Bouffier und Nocken. Sie liefen über einen inoffiziellen „CDU-Arbeitskreis“ im hessischen Verfassungsschutz, an dessen Treffen sich alle drei beteiligt hatten. So trafen Temme und Bouffier bereits am 12. September 2000 – drei Tage nach dem ersten NSU-Mord und sechs Jahre vor dem Kasseler Mord – in diesem Kreis persönlich zusammen.
Nordkreuz, Hannibal und Franco A.
Die zweite umfassende Verschwörung im Staatsapparat, mit der sich mehrere Beiträge des Buches befassen, konzentriert sich auf Eliteeinheiten der Bundeswehr und der Polizei. Sie geriet im April 2017 in die Schlagzeilen, als der Bundeswehroffizier Franco A. festgenommen wurde, weil er sich unter falscher Identität als Flüchtling hatte registrieren lassen und offenbar rechtsextreme Anschläge plante.
Franco A., der sich trotz laufender Ermittlungen auf freiem Fuß befindet, war Oberleutnant des Jägerbataillons 291 der deutsch-Französischen Brigade, als seine Aktivitäten entdeckt wurden. Er war bereits während seines militärischen Studiums durch rechtsextreme Standpunkte aufgefallen, was aber von seinen Vorgesetzten vertuscht wurde und seiner militärischen Karriere nicht schadete. Inzwischen ist klar, dass Franco A. nur ein Glied in einem umfangreichen Netzwerk ist, das große Waffenarsenale gehortet und Todeslisten linker Gegner erstellt hat. Die Mitglieder dieses Netzwerks wurden lange Zeit als sogenannte „Prepper“ verharmlost und von höchsten Stellen gedeckt.
Zentrale Figur dieses Netzwerks ist der 1985 in Halle geborene André S., ein Elitesoldat des streng geheim operierenden Kommandos Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr. Über Chatgruppen, in denen er unter dem Namen „Hannibal“ auftrat, und über den von ihm gegründeten Verein Uniter leitet S. ein rechtsextremes Netzwerk, das sich über das gesamte Bundesgebiet und bis nach Österreich und in die Schweiz erstreckt. Der Verein Uniter, der sich als Hilfsorganisation für Mitglieder von Eliteeinheiten der Bundeswehr, der Polizei und privater Sicherheitsdienste tarnt, führt unter anderem paramilitärische Übungen durch und verfügt über „ein eigenes Verteidigungskommando“. Hannibal unterhält auch gute Kontakte zum Militärischen Abschirmdienst MAD.
Franco A. stand mit Hannibal in Kontakt und traf sich mehrmals persönlich mit ihm. Von Uniter führen auch direkt Verbindungen zum Terrornetzwerk des NSU. So war Ringo M., der Uniter gemeinsam mit Hannibal gründete, Mitarbeiter des Verfassungsschutzes von Baden-Württemberg. Und ehe er „2015 zum Verfassungsschutz stieß, war er als Polizist ausgerechnet Mitglied jener Polizeieinheit in Böblingen, in der auch die Polizistin Michèle Kiesewetter Dienst tat, die im April 2007 unter bis heute nicht völlig geklärten Umständen vom rechtsterroristischen NSU in Heilbronn erschossen worden ist“, heißt es im Kapitel „Hannibals Netz“.
Zwei weitere Mitglieder dieser kleinen Polizeieinheit, darunter Kiesewetters unmittelbarer Vorgesetzter, waren frühere Mitglieder des Klu-Klux-Klan. Diesem deutschen Ableger des amerikanischen KKK gehörte auch die Verfassungsschutzquelle „Corelli“ an, die im unmittelbaren Umfeld des NSU agierte und 2014 im Alter von 40 Jahren überraschend starb, angeblich an einer unerkannten Diabetes. Die wirklichen Motive für den Mord an Kiesewetter sind bis heute nicht aufgeklärt. Akten werden unter Verschluss gehalten und Beteiligte vor Polizeidurchsuchungen gewarnt. Auch Hannibals Unterkunft in der Bundeswehrkaserne Calw war „sauber“, als sie die Bundesanwaltschaft im September 2017 durchsuchen ließ.
Der bekannteste Teil des Netzwerkes um Hannibal ist die Gruppe Nordkreuz. Gegen sie ermittelt seit August 2017 der Generalbundesanwalt. Es gibt aber auch weitere Gruppen in anderen Teilen des Landes, über die bisher wenig bekannt ist. Der Generalbundesanwalt hatte den Fall an sich gezogen, nachdem ihn das Innenministerium Mecklenburg-Vorpommerns unter Lorenz Caffier (CDU) systematisch verharmlost und vertuscht hatte.
Die Gruppe Nordkreuz hat rund 30 mutmaßliche Mitglieder, unter denen sich ehemalige Elitesoldaten sowie Mitglieder des Sondereinsatzkommandos (SEK) der Landespolizei und der Kriminalpolizei befinden. Sie bereiteten sich auf einen Tag X vor, der „beispielsweise durch eine weitere Aufnahme einer größeren Zahl von Flüchtlingen in Deutschland“ eintreten kann, wie Tagesspiegel-Korrespondent Robert Kiesel in dem Buch schreibt.
Die Ermittler fanden bei den Hauptverdächtigen „sogenannte Feindeslisten, auf denen sich rund 25.000 Namen befinden“. Sie sollten am Tag X „abgeholt, in ausgewählten Bundeswehrkasernen interniert und ermordet werden“. Laut Verfassungsschutz haben die Beschuldigten „ihre Planungen ‚mit enormer Intensität‘ vorangetrieben“. So berichteten im Juni 2019 Medien „über eine von mutmaßlichen Nordkreuz-Mitgliedern angefertigte Bestellliste, auf der unter anderem 200 Leichensäcke und Ätzkalk verzeichnet waren“.
Obwohl die Ermittlungen bereits seit zwei Jahren liefen, wurde erst im Juni 2019 ein Waffenlager bei einem der Hauptverdächtigen, dem ehemaligen SEK-Mitglied Marko G., ausgehoben. Die Durchsuchung förderte „mehr als 10.000 Schuss Munition“ zutage, die offenbar drei weitere SEK-Beamte seit 2012 entwendet hatten, sowie „ein Maschinengewehr vom Typ ‚Uzi‘ und einen Schalldämpfer“.
Die Hauptverdächtigen im Nordkreuzverfahren sind „nicht nur untereinander gut vernetzt. Ihre Kontakte reichen bis ins Parlament und den Innenausschuss des Schweriner Schlosses“. So waren zwei Beteiligte, „Horst S. und Jörg S., jahrelang Mitglied der 2013 in Dienst gestellten regionalen Sicherungs- und Unterstützungskompanie (RSU) Mecklenburg-Vorpommern“. Horst S. war sogar Kompanieführer. Die RSU soll im Ernstfall die Bundeswehr unterstützen und hat Zugang zu Waffen. Horst S. und Jörg S. hatten auch Verbindungen „zum Thule-Seminar, einer rechtsextremen und in Kassel gegründeten Vereinigung“.
Als Soldaten waren die beiden in derselben Kaserne wie Nikolaus Kramer stationiert, der Fraktionsvorsitzende der AfD im Schweriner Landtag. Nach Beginn der Ermittlungen solidarisierte sich Kramer demonstrativ mit Nordkreuz, indem er einen der Hauptverdächtigen, das AfD-Mitglied Haik J., zum stellvertretenden Vorsitzenden des AfD-Landesausschusses „Innere Sicherheit, Justiz und Datenschutz“ wählen ließ.
Ein weiterer Verdächtiger, der Rostocker Rechtsanwalt Jan-Hendrik H., hatte bei einer Geburtstagsfeier „laut einer Zeugenaussage hinter seinem Haus ein Wettschießen veranstaltet und für den Sieger einen Wanderpokal mit dem Namen des Rostocker NSU-Mordopfers Mehmet Turgut ausgelobt“.
Das Buch räumt auch mit dem Mythos auf, die Bundeswehr würde gegen rechtsextreme Tendenzen in ihren Reihen vorgehen. Nach der Entlarvung von Franco A. hatte die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen mit großem Lärm angekündigt, mit der Wehrmacht-Traditionspflege und Nazi-Symbolen in der Bundeswehr aufzuräumen. Doch das war nur für die Öffentlichkeit bestimmt. Mehrere Beiträge in dem Buch schildern die weiter bestehende rechte Atmosphäre in der Bundeswehr.
„Ich habe erlebt, dass Kameraden zwangsversetzt werden, weil sie rechte Vorkommnisse angezeigt haben und das in der Einheit nicht gut ankam,“ zitiert Caroline Walter, Redakteurin beim ARD-Magazin Panorama, einen Offizier. Wer intern melde, stehe eher am Pranger als der Gemeldete. Die Kriterien des Militärischen Abschirmdiensts, um einen Soldaten als Extremisten einzustufen, seien „so hoch angesetzt, dass oft nicht einmal ‚Sieg Heil’ rufende Neonazis darunter fallen“. Obwohl 2017 auf einer Abschiedsfeier für einen Kompaniechef der Eliteeinheit KSK rechtsextreme Musik gespielt und der Hitlergruß gezeigt wurden, antwortete der MAD 2019 auf eine Anfrage des Bundestags, man habe seit 2012 keinen „erkannten Extremisten“ im KSK festgestellt.
Auch Einheiten der Wehrmacht, die an Kriegsverbrechen beteiligt waren, werden von der Bundeswehr weiter geehrt. „Reagiert wird meist erst, wenn ein Skandal öffentlich wird.“ „Der Kult um die Wehrmacht, das Beschwören eines vermeintlichen Kämpfertypus dieser Zeit bestehet in manchen Einheiten der Bundeswehr fort“, schreibt Caroline Walter. Neben mehreren anderen Beispielen führt sie das Luftwaffengeschwader 74 im bayrischen Neuburg an, das nach wie vor seinen früheren Namensgeber Werner Mölders ehrt, obwohl es 2005 umbenannt worden war, weil Mölders tief in die Verbrechen des Nazi-Regime verstrickt war.
Weitere Fälle
Neben den beiden angeführten dokumentiert das Buch zahlreiche weitere Fälle von rechtsextremen Netzwerken im Staatsapparat.
Drei Beiträge befassen sich mit solchen Netzwerken in der Polizei Hessens, Baden-Württembergs und Bayerns. So erhielt die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz, die NSU-Opfer verteidigt hat, Morddrohungen gegen sich und ihre zweijährige Tochter, die mit „NSU 2.0“ unterzeichnet waren. Nachforschungen ergaben, dass ihr Adresse aus einem Frankfurter Polizeicomputer abgerufen worden war und dass dort eine Chat-Gruppe, an der sich mehrere Polizisten beteiligten, rechtsextreme und antisemtische Nachrichten austauschten. Basay-Yildiz hat ein Vorwort zu dem Buch verfasst.
Auch über rechtsextreme Richter und Staatsanwälte enthält das Buch drei Beiträge. Sie befassen sich unter anderem mit Martin Zschächner, Staatsanwalt im thüringischen Gera, der schon als Student den Spitznamen „Jura-Nazi“ trug und als Staatsanwalt eine Künstlergruppe wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung verfolgte, die gegen den thüringischen AfD-Führer Bernd Höcke protestiert hatte.
Derselbe Beitrag geht auf den Dresdener Richter Jens Maier ein, der zum völkischen Flügel der AfD gehört und für sie im Bundestag sitzt. Maier hatte unter anderem den norwegischen Attentäter Andres Breivik mit der Begründung in Schutz genommen, er sei „aus Verzweiflung heraus zum Massenmörder geworden“.
Ein Essay ist dem Freiburger Staatsanwalt Thomas Seitz gewidmet, der Geflüchtete als „Invasoren“ und „Migrassoren“ und US-Präsident Barack Obama als „Quotenneger“ bezeichnete. Inzwischen ist Seitz Bundestagsabgeordneter. Er ist einer von 46 Beamten, die für die AfD in Bundes- und Landesparlamenten sitzen – und einiger der wenigen, gegen die ein Verfahren zur Aberkennung des Beamtenstatus läuft.
Ein weiteres Kapitel behandelt die „Grauzonen“ zwischen Staat und rechtsextremen Netzwerken. Es befasst sich mit zahlreichen Fällen, in denen staatliche Sicherheitsbehörden und Neonazis gegen Linke zusammenarbeiteten.
Und schließlich geht das Buch auf den ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen ein, dessen öffentliche Verteidigung der AfD und einer rechtsextremen Demonstration in Chemnitz vielen die Augen darüber geöffnet hat, dass der Verfassungsschutz nicht die Verfassung, sondern die Nazis schützt.