Europaweit wirft die Covid-19-Epidemie ein Licht auf die desaströsen Zustände des Gesundheitssystems. Überall herrscht Mangel an Betten, Personal, Medizingeräten und Schutzausrüstung. Der Aufenthalt in Kliniken und Pflegeeinrichtungen ist für Patienten, Ärzte und Pfleger mittlerweile lebensgefährlich.
Entgegen den zahlreichen Kommentaren von Politikern und Journalisten, die suggerieren, ein ansonsten stabiles und leistungsfähiges Gesundheitssystem käme angesichts der Corona-Infektionen verständlicherweise an Grenzen, sieht die Wahrheit anders aus. Die aktuelle Krise im deutschen Gesundheitswesen wurde von allen etablierten politischen Parteien bewusst herbeigeführt. Das deutsche Gesundheitssystem wurde in den letzten dreißig Jahren radikal kaputtgespart, privatisiert und seine Institutionen auf Profit getrimmt.
In Deutschland waren bis Sonntagabend über 58.000 bestätigte Fälle gemeldet. 455 Menschen starben bereits an dem Virus. Aufgrund der Krise könnte nach Ansicht des Präsidenten des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler, das deutsche Gesundheitssystem an seine Grenzen geraten. Man müsse damit rechnen, dass die Kapazitäten nicht ausreichen, sagte Wieler der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Man könne nicht ausschließen, dass es hierzulande ebenfalls mehr Patienten als Beatmungsplätze gebe, sagte er unter Verweis auf die Situation in Italien.
Schon jetzt ist allen klar, dass die bestehenden 28.000 Intensivpflegebetten in Deutschland bei weitem nicht ausreichen. Ganz zu schweigen von fehlendem Personal. Schon vor der Krise fehlten im Land über 17.000 Pflegekräfte an Kliniken. Durch fehlende Schutzkleidung und Material fallen täglich Ärzte und Pflegekräfte aus und erkranken selbst an dem Virus. Auch in Pflegeheimen kommt es reihenweise zu Todesfällen. Zuletzt starben in einem Pflegeheim in Wolfsburg zwölf Menschen.
Heute zeigen sich die katastrophalen Folgen der Politik der letzten 30 Jahre, die von Kürzungen, Privatisierung und Wettbewerb im Gesundheitswesen geprägt war. Kliniken sollten nach dem Willen der Regierungen nicht mehr am Wohle der Bevölkerung ausgerichtet sein, sondern an der Erwirtschaftung von Profit.
Aktuell besteht die Kliniklandschaft zu 29 Prozent aus öffentlichen Krankenhäusern, zu 34 Prozent aus freigemeinnützigen (bspw. kirchlichen) und zu 37 Prozent aus privaten Trägern. Seit Jahren gibt es ein schleichendes Krankenhaussterben. 1998 gab es in Deutschland 2263, 2007 noch 2087 und im Jahr 2017 nur noch 1942 Krankenhäuser. Heute sind es noch rund 1400. Entsprechend wurde die Zahl der Krankenhausbetten innerhalb von zehn Jahren um rund 10.000 reduziert, von 506.954 (2007) auf 497.200 (2017).
Die Schließung von Kliniken hat die wohnortnahe Versorgung drastisch eingeschränkt. Gerade die Intensiv- und Notfallmedizinversorgung hat unter den Privatisierungen und Schließungen gelitten. Immer mehr Notfälle werden von den wohnortnahen Krankenhäusern abgewiesen, oder es existieren dort keine Kliniken mehr, und in weit entfernte Krankenhäuser eingeliefert.
Nach einer Erhebung der DIVI (Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin) haben ein Viertel der für die Umfrage erfassten Kinderintensivstationen zwischen 50 bis 100 Kinder pro Jahr an andere Krankenhäuser verwiesen. Grund dafür sei, dass viele örtliche Krankenhäuser ihre Kinder- und Kinderintensivstationen mittlerweile geschlossen haben.
Eine gute Übersicht über die Entwicklung der Krankenhausbetten gibt die Anzahl pro 100.000 Einwohner. In den öffentlichen Krankenhäusern gab es 2005 noch 367,7 Krankenhausbetten pro 100.000 Einwohner und zehn Jahre später nur noch 332. In den gemeinnützigen Kliniken sank die Zahl im selben Zeitraum von 257,3 auf 236,6. Allein bei den privaten Krankenhausträgern stieg die Bettenzahl von 221,8 auf 244,6.
Fallpauschalen
Nach der Wiedervereinigung gingen die Kohl-Regierung und der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer dazu über, neben der Privatisierung auch Wettbewerb in den Kliniken einzuführen. Dazu wurde die Krankenhausfinanzierung durch die Einführung sogenannter Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups) grundlegend verändert. Sie sollten Konkurrenz zwischen den Kliniken erzwingen. Krankenhäuser konnten nur noch überleben, wenn sie die Betten optimal auslasteten.
Unter der rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder wurde das System der Fallpauschalen 2004 dann verpflichtend umgesetzt. Als Folge sank die durchschnittliche Krankenhausverweildauer von 10 (1998) auf 7,3 Tage (2017). Der Grund hierfür ist, dass Kliniken nicht mehr nach der Aufenthaltsdauer ihrer Patienten, sondern nach festgelegten Fallpauschalen bezahlt werden. Die Zahl der Krankenhausaufenthalte stieg dagegen von 18,6 Millionen Patienten (2012) auf 19,4 Millionen (2017).
Die Fallpauschalen haben sich gravierend auf die Patientenversorgung sowie den Arbeitsalltag der Ärzte ausgewirkt. Nur wenn ein Patient so früh wie möglich wieder aus der Klinik entlassen wird, macht die Klinik Gewinn. Muss der Patient aber länger im Krankenhaus bleiben, als durch die Fallpauschale abgedeckt wird, weil die Behandlung aufwendiger ist, wird dies in der Regel nicht von den Krankenkassen erstattet und die Klinik bleibt auf den Kosten sitzen.
Als Folge der Fallpauschalen kommt es zu den so genannten „blutigen Entlassungen“. Um vorgegebene Liegezeiten zu erfüllen, werden Patienten, die eigentlich noch nicht dazu bereit sind, nach Hause geschickt. Dies führt zu einer hohen Komplikationsrate mit enormen Folgekosten für das Gesundheitssystem. Die Nachbehandlungen müssen dann von den niedergelassenen Ärzten durchgeführt werden, die aber durch geltende Budgets finanziell stark eingeschränkt sind.
Besonders chronisch kranke Patienten und Schwerverletzte werden im Fallpauschalen-System schlechter behandelt, da sie für Kliniken in der Regel nicht profitabel sind. Dr. Arne Manzeschke, Professor für Anthropologie und Ethik für Gesundheitsberufe, erklärt die Problematik so: „Lukrative Patienten werden hofiert, weniger lukrative – nicht DRG-relevant – nach Möglichkeit weitergereicht.“ Sein Fazit zu den diagnosebezogenen Fallpauschalen: „Aufs Ganze gesehen mindert der ökonomisch induzierte Stress im DRG-System die Qualität der medizinischen Leistungen.“
Es ist bezeichnend, dass selbst in der gegenwärtigen Krise an dem System von Wettbewerb und Profit festgehalten wird. Während Ärzte und Pflegekräfte unter desaströsen Bedingungen bis zur Erschöpfung arbeiten und sich in Gefahr begeben, wurden bislang alle Vorschläge, das praktizierte Abrechnungssystem auszusetzen, abgelehnt.
„Weitgehend Business as usual“, meldet der Tagesspiegel dazu. „Dies bedeutet, dass jede einzelne Krankenhausleistung, ob für Corona-Patienten erbracht oder für normale Patienten, mit den Krankenkassen nach dem Vergütungssystem der diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRG)“ abgerechnet wird. Lediglich geringe „Sonderentgelte“ solle es geben.
Multiresistente Keime
Schon unter „normalen“ Bedingungen, also vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie, wurden massive hygienische Probleme in den Kliniken bekannt, die auf Kürzungen, überarbeitetes Personal und fehlende Schulungen zurückzuführen sind. MRSA (methicillinresistenter Staphylococcus aureus) ist seit Jahren ein riesiges Problem in deutschen Krankenhäusern, Pflege- und Altenheimen.
Die MRSA-Bakterien sind für viele Patienten gefährlich, weil ihre Immunabwehr geschwächt ist und die Bakterien gegen fast alle Breitband-Antibiotika resistent sind. Entsteht eine Infektion mit MRSA, können sich die Bakterien vermehren und schwere Erkrankungen verursachen. Zu den wichtigsten Übertragungswegen gehören der direkte Kontakt mit der Hand zwischen immungeschwächten Patienten und dem Pflegepersonal. Ansonsten können die MRSA durch verunreinigte Gegenstände (z.B. medizinische Geräte, Katheter oder Atemschläuche) oder Flüssigkeiten übertragen werden.
Nach Schätzungen von Krankenhaushygienikern sterben in Deutschland jährlich etwa 40.000 Patienten durch Krankenhauskeime, 25.000 davon durch multiresistente Keime. Davon könnten ein Drittel durch bessere Krankenhaushygiene vermieden werden. Ursachen für die zunehmenden multiresistenten Erreger sind besonders der häufige Einsatz von Antibiotika, auch in der Massentierhaltung. Komplikationen, die durch die MRSA-Bakterien entstehen können, sind z.B. Blutvergiftungen, Lungen- oder Hirnhautentzündungen. In einigen Fällen müssen auch Gliedmaßen amputiert werden.
Ein Milliardengeschäft
Um die Profite einer schmalen Schicht an der Spitze der Gesellschaft weiter zu erhöhen, wird diese Politik weiter vorangetrieben. Im vergangenen Sommer hat die Bertelsmann-Stiftung die Schließung jeder zweiten Klinik in Deutschland gefordert und in einer Studie vorgeschlagen, dass von den heute rund 1400 Krankenhäusern nicht einmal 600 überleben sollen.
Mittlerweile ist der Gesundheitsmarkt ein Milliardengeschäft, von dem nicht nur die Pharmakonzerne, sondern auch die Privatkliniken und Pflegeheime sowie deren Aktionäre an den Börsen profitieren. Hinter der Bertelsmann-Stiftung steht der Bertelsmann-Konzern, dessen zentrale Figur, Liz Mohn, zu den reichsten Frauen der Welt gehört. Sie ist eng mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) befreundet, und ihre Familie ist auch gut mit den privaten Klinikkonzernen vernetzt.
Tochter Brigitte Mohn sitzt im Aufsichtsrat der Rhön-Klinikum AG, einer börsennotierten Betreibergesellschaft, die 54 Krankenhäuser und 35 Medizinische Versorgungszentren betreibt und schon im Jahr 2009 einen Umsatz von 2,32 Milliarden Euro erwirtschaftet hat. Rhön gehört zusammen mit Helios, Asklepios und den Sana-Kliniken zu den größten Konzernen im Klinikbereich.
Vor diesem Hintergrund sind auch die gegenwärtigen Maßnahmen von Gesundheitsminister Spahn zu verstehen. Spahn steht für die weitere rücksichtslose Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung. Anfang des Jahres legte er einen Gesetzentwurf vor, der die Notfallversorgung in Deutschland weiter dramatisch zusammenstutzt. Im Zentrum steht dabei die Reduzierung der Notfallstandorte um 50 Prozent.
Kliniken, die nicht zu den ausgewählten Standorten gehören, sollen 50 Prozent weniger Vergütung erhalten, wenn sie ambulante Notfallleistungen durchführen. In den dann noch als Notfallstandort gewählten Kliniken würde es zu extremen Wartezeiten und Arbeitshetze kommen. Die Anfahrtswege würden sich deutlich verlängern.
Nachdem Spahn die Corona-Krise lange Zeit heruntergespielt hat, sieht er mittlerweile mehr oder weniger untätig zu, wie die Kliniken an ihre Grenzen kommen. Die von der Bundesregierung nach Angaben von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) zur Verfügung gestellten Gelder von 55 Milliarden Euro sind nicht annähernd genug, um selbst die notwendigsten Maßnahmen zu treffen.
Krankenhäuser sollen einen finanziellen Ausgleich für verschobene planbare Operationen und Behandlungen erhalten, um mehr Patienten mit einer Corana-Infektion behandeln zu können. Für jedes leere Krankenhaus-Bett, das nicht belegt wird, gibt es eine Pauschale in Höhe von 560 Euro pro Tag. Dies bedeutet, dass Kliniken weiter wirtschaftlich abwägen werden, ob sie ein Bett für Corona-Patienten nutzen oder nicht.
Die aktuelle Krise im Gesundheitswesen macht deutlich, dass die herrschende Klasse weder Willens noch in der Lage ist, die Bevölkerung hinreichend zu schützen und für eine flächendeckende, adäquate Behandlung zu sorgen. Nicht Almosen, sondern umfangreiche finanzielle Mittel müssen unverzüglich in den Auf- und Ausbau von Kliniken und medizinischen Einrichtungen fließen. Sämtliche Kürzungen der letzten Jahrzehnte müssen rückgängig gemacht werden. Kliniken und Einrichtungen müssen in öffentliches Eigentum umgewandelt werden und nicht mehr der Profitgier von Aktionären, sondern dem Wohl der Gesellschaft dienen.