Keine Seenotrettung mehr im Mittelmeer

Zwölf Tage lang hat das Rettungsschiff Alan Kurdi mit 150 Flüchtlingen an Bord erfolglos darauf gewartet, einen europäischen Hafen anlaufen zu dürfen. In einem zynischen Akt hatten Malta und Italien die eigenen Häfen wegen der Covid-19-Pandemie für unsicher erklärt. Erst am gestrigen Freitag wurden die Flüchtlinge und die Besatzung des deutschen Rettungsschiffes auf eine italienische Fähre verlegt, wo sie auf Corona getestet werden und vierzehn Tage in Quarantäne verbringen müssen.

Rettungsschiff Alan Kurdi im Mittelmeer (Bild: Sea Eye, Fabian Heinz)

Die Folgen dieser Politik sind dramatisch. Auf der Alan Kurdi hatte ein Flüchtling versucht, sich das Leben zu nehmen. Auf einem Schlauchboot mit 63 Flüchtlingen an Bord sind zwölf ertrunken und verdurstet, weil ihnen tagelang jede Seenotrettung verweigert wurde.

In der Woche vor Ostern waren infolge des besseren Wetters und der sich verschlechternden Situation in den libyschen Flüchtlings- und Internierungslagern nach Informationen der Hilfsorganisation Alarmphone mehr als 2000 Flüchtlinge auf rund 20 Booten Richtung Europa aufgebrochen, zehn Boote forderten Hilfe an.

Die Alan Kurdi rettete am 6. April insgesamt 150 Flüchtlinge von zwei Holzbooten, doch seither wartete das Rettungsschiff auf die Erlaubnis zur Einfahrt in einen europäischen Hafen. Die Lage an Bord der Alan Kurdi, die nicht darauf ausgelegt ist, so viele Flüchtlinge über einen so langen Zeitraum zu beherbergen, spitzte sich immer weiter zu.

Bereits die Aufnahme der Flüchtlinge war äußerst dramatisch verlaufen. Die Alan Kurdi unter Kapitänin Bärbel Beuse war am Morgen des 6. April zu einem in internationalen Gewässern vor der Küste Libyens in Seenot geratenen Holzboot mit 68 Flüchtlingen an Bord geeilt. Während der Rettung tauchte ein Schnellboot der selbsternannten, von der EU unterstützten libyschen Küstenwache auf. Ohne jede Vorwarnung schossen die Libyer in die Luft, und die Hälfte der Flüchtlinge sprang ohne Rettungsweste panisch ins Wasser. Die Mannschaft der Alan Kurdi warf alle vorhandenen Rettungsmittel ins Meer, aber erst als das libysche Küstenwachboot abzog, konnten die Flüchtlinge geborgen werden.

Noch während dieser Rettungsaktion wurde der Alan Kurdi ein weiterer Seenotfall weiter nördlich gemeldet. Dort waren 82 Flüchtlinge in einem weiteren Holzboot in Seenot geraten. Der italienische Bohrinselversorger Asso Ventinove, der bereits mehrere Stunden vor der Alan Kurdi an der Unglücksstelle eingetroffen war, hatte mit dem Verweis, dass er sich für ein mögliches Unglück auf einer Bohrinsel bereithalten müsse, jede Rettungsaktion verweigert. Daher evakuierte die Alan Kurdi auch dieses Boot und erbat die italienischen Behörden mit nun 150 aus Seenot geretteten Flüchtlingen an Bord um Einfahrt in einen sicheren Hafen.

Die Alan Kurdi nahm Kurs auf die Gewässer nördlich der sizilianischen Hafenstadt Palermo, doch die Anlandung wurde ihr verboten. Am 8. April erließ die italienische Regierung ein neues Dekret, laut dem italienische Häfen während des Corona-Notstands keine sicheren Häfen für Menschen sind, die von Schiffen mit nicht-italienischer Flagge aus Seenot gerettet wurden. Einen nahezu gleichlautenden Erlass hatte zuvor die maltesische Regierung beschlossen. Malta und Italien machten zudem deutlich, dass sie eine Anlandung von Rettungsschiffen selbst dann nicht genehmigen würden, wenn zuvor die Verteilung der Flüchtlinge auf andere EU-Staaten abgesprochen worden sei.

Als Begründung wurde genannt, dass man keinen Migranten mehr helfen könne, da Polizei und Militär ihre Ressourcen auf die Bekämpfung der Covid-19-Pandemie konzentrierten. Zudem könne keine medizinische Betreuung mehr gewährleistet werden, da das Gesundheitssystem mit der Versorgung der an Covid-19 Erkrankten schon überlastet sei.

Doch das ist ein zynisches Ausspielen von Menschenleben gegen Menschenleben. Das Leiden der Opfer der Corona-Krise dürfe nicht der Grund dafür sein, „jenen Hilfe zu verwehren, die nicht Gefahr laufen, in einem Intensivbett zu ersticken, sondern zu ertrinken“, heißt es dazu in einer gemeinsamen Erklärung der Organisationen Ärzte ohne Grenzen, SOS Méditerranée, Sea Watch und Open Arms.

Dennoch haben die Mittelmeeranrainerstaaten jede Hilfeleistung für in Seenot geratene Flüchtlinge eingestellt. Sie werden dabei auch von der deutschen Bundesregierung unterstützt. Das von Horst Seehofer geleitete Bundesinnenministerium forderte alle Flüchtlingshilfsorganisationen im Mittelmeer auf, die Seenotrettung einzustellen: „Angesichts der aktuellen schwierigen Lage appellieren wir deshalb an Sie, derzeit keine Fahrten aufzunehmen und bereits in See gegangene Schiffe zurückzurufen“, schrieb der Abteilungsleiter Migration im Bundesinnenministerium unter anderem an Sea-Eye.

Der Vorsitzende von Sea-Eye, Gorden Isler, erklärte in der Süddeutschen Zeitung dazu: „Das sind dieselben Politiker, die seit Wochen betonen, dass die Menschen in der Corona-Krise alle freiheitlichen Einschränkungen hinnehmen müssen, weil es darum gehe, Leben zu retten – und jedes einzelne Leben sei kostbar. Auf der anderen Seite sagen sie, wir sollen die Rettungsarbeit einstellen? Das kommt der Aufforderung gleich, Menschen sterben zu lassen.“

Doch genau das ist offensichtlich das Ziel der europäischen Regierungen. Der Alan Kurdi wurde zunächst dringend benötigtes Trinkwasser, Nahrung und Treibstoff verweigert. Am Sonntag dem 12. April wurde der Besatzung versprochen, dass ein italienisches Quarantäneschiff die geretteten Flüchtlinge innerhalb weniger Stunden aufnehmen werde. Doch erst fünf Tage später stach das Schiff in See.

Durch die angespannte Situation an Bord der Alan Kurdi, die Enge und die Ungewissheit kam es immer öfter zu Konflikten. Am Mittwoch versuchte ein Flüchtling, der zuvor monatelang in einem libyschen Internierungslager gefangen gehalten worden war und schreckliche Gewalterfahrungen durchlebt hatte, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Er wurde zusammen mit seinen zwei Cousins von drei Booten der italienischen Küstenwache aufgenommen.

Dabei hätten sich beinahe weitere Flüchtlinge ins Meer gestürzt. „Die Menschen sind total verzweifelt und werden seit zehn Tagen auf der Alan Kurdi festgehalten. Sie deuteten an, ins Wasser springen zu wollen, um die italienischen Boote zu erreichen. Sie ließen sich kaum beruhigen“, sagte Jan Ribbeck, Einsatzleiter von Sea-Eye.

Das gleiche Schicksal wie die Alan Kurdi erleidet derzeit die unter spanischer Flagge fahrende Atai Mari, die 43 Flüchtlinge an Bord hat und nun ebenfalls keinen Hafen ansteuern darf.

Doch die Behörden verweigern nicht nur den Rettungsschiffen die Einfahrt in die Häfen, sie haben auch die Seenotrettung praktisch komplett eingestellt, mit schrecklichen Konsequenzen für die Flüchtlinge.

Die Hilfsorganisation Alarmphone erhielt in der Nacht vom 9. auf den 10. April Notrufe von vier Schlauchbooten, vollgepackt mit Flüchtlingen. Während zwei Boote noch aus eigener Kraft die sizilianische Küste erreichen konnten und eines von der spanischen Atai Mari evakuiert wurde, fehlte vom letzten Boot über Tage jede Spur. Während die italienische und die maltesische Küstenwache völlig regungslos blieben, erklärte die selbsternannte libysche Küstenwache, dass sie „derzeit keine Rettungsaktionen durchführen könne, da sie keine Gesichtsschutzmasken habe“.

Die Situation an Bord des mit 63 Flüchtlingen vollgepackten Schlauchboots verschlechterte sich zusehends. Wasser drang ein, die Kinder schrien vor Durst. Erst am 14. April, vier Tage nach der ersten Seenotmeldung, als das Schlauchboot schließlich in die maltesische Seenotrettungszone trieb, gaben die maltesischen Behörden die Order, nach dem Schlauchboot Ausschau zu halten. Das portugiesische Frachtschiff Ivan stoppte eine Meile vom Schlauchboot entfernt und beobachtete die weitere Entwicklung. Aufgrund seiner Größe und des hohen Wellengangs konnte die Ivan aber selbst keine Rettungsaktion durchführen.

Aber sieben Flüchtlinge sprangen verzweifelt ins Meer, um zum Frachtschiff zu gelangen. Alle sieben ertranken. Stunden später wurden die verbliebenen 56 Flüchtlinge von einem Fischkutter aufgenommen, der sie widerrechtlich nach Libyen zurückbrachte. Fünf Flüchtlinge überlebten die Fahrt nicht und starben an Hunger und Dehydrierung. Von den maltesischen Behörden wurde demnach bewusst eine nach internationalem Recht illegale Push-Back-Aktion koordiniert, die fünf Menschen nicht überlebten und die 51 weitere in akute Lebensgefahr brachte.

In Libyen toben die Kämpfe zwischen den Milizen der international anerkannten Regierung von Fayiz as-Sarradsch und den Milizen des Generals Haftar unerbittlich weiter. Artilleriebeschuss ist in Tripolis an der Tagesordnung und mitunter so stark, dass 280 Flüchtlinge, die von der selbsternannten libyschen Küstenwache aufgegriffen worden waren, nicht an Land gebracht werden konnten.

Die Ausbreitung der Covid-19-Pandemie erschwert die Lage der Flüchtlinge zusätzlich. Viele internationale Hilfsorganisationen haben sich aus Libyen zurückgezogen. Flüchtlinge berichten davon, dass die Versorgung mit Nahrung und Trinkwasser für sie zusammengebrochen ist.

In dieser Situation die Seenotrettung einzustellen ist ein Verbrechen und der Versuch, diese Menschen in den sicheren Tod zu schicken. Maltesische Militärs sollen sogar gezielt versucht haben, Migranten zu töten. Die 70 Flüchtlinge an Bord eines Schlauchbootes berichteten, dass das maltesische Marineschnellboot P52 bei den Schiffbrüchigen gestoppt habe, aber nur, um die Kabel des Motors zu durchschneiden und mit den Worten, „Wir lassen Euch hier sterben. Keiner von Euch wird nach Malta gelangen“, wieder zu verschwinden. Erst Stunden später seien sie doch noch gerettet und nach Valletta gebracht worden.

„Die Situation in diesen Tagen ist die schlimmste, die ich in all den Jahren erlebt habe“, sagte die Alarmphone-Mitarbeiterin Britta Rabe am Dienstag im Gespräch mit der Tageszeitung Die Welt: „Die Küstenwachen in Italien, Malta und Libyen retten nicht mehr. Niemand, der in Seenot gerät, erhält Hilfe.“

Die Covid-19-Pandemie wird so zur billigen Ausrede, die Hilfe für Flüchtlinge einzustellen und das Grundrecht auf Asyl in der Europäischen Union abzuschaffen. Der Vorsitzende der Rettungsorganisation Sea-Eye erklärt ganz richtig: „Es ist nicht zu akzeptieren, dass für die Industrie milliardenschwere Rettungspakete bereit gestellt werden, aber zur gleichen Zeit behauptet wird, dass es keine Ressourcen gibt, um Migranten zu schützen. Europa hat eine Situation heraufbeschworen, in der humanitäre Katastrophen gegeneinander ausgespielt werden.“

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