Der Komponist Francesco Lotoro rettet Musik der Konzentrationslager

Der Komponist und Musiker Francesco Lotoro (Jahrgang 1964) widmet sich seit 30 Jahren der Aufgabe, die von Häftlingen in den Konzentrationslagern der Nazis komponierte Musik zu retten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Vor Kurzem strahlte das US-Nachrichtenmagazin „60 Minutes“ unter dem Titel „The Lost Music“ einen Beitrag darüber aus.

Lotoros begann mit seinen Nachforschungen 1988, als er erstmals von der Musik erfuhr, die Häftlinge im Konzentrationslager Theresienstadt komponiert hatten. Das Lager Theresienstadt, im heutigen Tschechien gelegen, hat traurige Berühmtheit erlangt, weil die Nazis es nutzten, um ihren Massenmord zu verschleiern. Zumindest einige der Gefangenen erfuhren eine weniger brutale Behandlung; allerdings nur, damit sie an musikalischen Darbietungen teilnehmen konnten, die die Nazis für Propagandazwecke missbrauchten. Theresienstadt selbst war kein Vernichtungslager, diente aber als Durchgangsort, um Zehntausende nach Auschwitz zu deportieren.

Francesco Lotoro (Foto: Giuseppe Marchisella)

Es gibt weitere, wichtige Initiativen, um die Musik wiederaufleben zu lassen, die durch den Völkermord der Nazis verloren ging oder vergessen wurde. Lotoros Bemühungen stechen heraus, da sie sich auf das Schaffen in den Konzentrationslagern fokussieren. Gemeinsam mit seiner Frau Grazia, die im örtlichen Postamt arbeitet, um die Familie finanziell zu unterstützen, lebt Lotoro in der südostitalienischen Stadt Barletta. Zusammen haben die beiden Überlebende aus verschiedenen Lagern ausfindig gemacht. Viele von ihnen waren bereits über 80 oder sogar 90 Jahre alt, als Lotoro Kontakt mit ihnen aufnehmen konnte. Er hat außerdem mit vielen Familienangehörigen der Lagerinsassen gesprochen, die sich über die Bedeutung der Partituren, in deren Besitz sie sind, nicht bewusst waren.

Im Laufe der Jahrzehnte hat Lotoro unzählige Dachböden, Archive und Bibliotheken durchforstet und rund 8.000 Musikstücke gesammelt und aufgenommen. Dem Guardian sagte er 2018, dass „einige [der Musikstücke] in Notizbücher geschrieben [wurden], auf Kohlesäcke, Lebensmittelverpackungen und Eintrittskarten.“ Eine Oper in fünf Akten wurde auf Toilettenpapier niedergeschrieben. „Mehr als 10.000 Stücke habe ich noch nicht mal angesehen und muss sie erst noch entziffern“, erklärte Lotoro in dem Interview.

Lotoros Ziel ist es, mit dem Istituto di Letteratura Musicale Concentrazionaria eine Art „Festung“ für die gerettete Musik zu erschaffen. Das Institut soll eine Bibliothek, ein Museum und ein Theater umfassen – gewidmet der „Musik der Konzentrationslager“. Die italienische Regierung hat einen Zuschuss bewilligt, daneben wirbt Lotoro weltweit um Spenden.

In der Sendung „60 Minutes“ kommt auch die 94-jährige Anita Lasker-Wallfisch zu Wort, eine der letzten Überlebenden des Frauenorchesters von Auschwitz. Alma Rosé, Nichte von Gustav Mahler und eine versierte Geigenspielerin, war die Dirigentin des Orchesters. Die erstaunliche und gleichzeitig erschütternde Geschichte des Orchesters und wie einige der Mitglieder den Holocaust überlebten, waren Thema der von Arthur Miller und der Holocaust-Überlebenden Fania Fénelon geschriebenen TV-Produktion „Playing For Time“ mit Vanessa Redgrave (dt. Titel: Spiel um Zeit – Das Mädchenorchester in Auschwitz, 1980).

Anita Lasker-Wallfisch (Foto: CBS News)

Kurz nach ihrer Ankunft in Auschwitz wurde Lasker-Wallfisch „zu einem Mädchen gebracht, ebenfalls eine Gefangene, und es fand ein fast normales Gespräch statt. Sie fragte mich, was ich vor dem Krieg gemacht habe … Ich antwortete: ‚Ich habe früher Cello gespielt.‘ Daraufhin sagte sie: ‚Das ist fantastisch. Du wirst gerettet‘ … Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.“

Die Nazis brauchten die Musik, und das rettete einigen der Lagerinsassen das Leben. Ein Bericht der New York Times zitiert Guido Fackler, Professor an der Universität Würzburg. Er erklärt, dass „[Musik] ein konstanter und maßgeblicher Bestandteil des Alltags in den Lagern der Nazis [war].“ Das Orchester spielte Märsche für die Gefangenen, „um buchstäblich das Tempo für den Arbeitstag vorzugeben.“ Es spielte ebenfalls auf, wenn neue Häftlinge ankamen, und es spielte auf dem Höhepunkt der Vergasungen, als jeden Tag mehrere Zehntausend Männer, Frauen und Kinder ums Leben kamen. „Wir waren in der Nähe der Krematorien inhaftiert. Wir konnten sehen, was da vor sich ging“, erklärt Lasker-Wallfisch.

Fackler kontrastiert die schreckliche Aufgabe des Musizierens zur Disziplinierung und Organisation der Mitgefangenen mit jener Zeit, „als die Insassen aus freien Stücken Musik machten“. Es „tröstete und unterstützte sie und gab ihnen Zuversicht. Es erinnerte sie an ihr früheres Leben.“

Lotoro konvertierte vor fast zwanzig Jahren zum Judentum und fand heraus, dass er teilweise ebenfalls jüdischer Abstammung ist. Seine Arbeit zur Rettung und Wiederbelebung von Musik der KZ-Häftlinge umfasst jedoch auch Beiträge und das Leiden vieler weiterer Opfer. Darunter sind Roma, politische Gefangene und Soldaten in Kriegsgefangenenlagern. Wie die Times berichtet, hat Lotoro zunächst damit „begonnen, Überlebende des Holocaust zu interviewen … später sprach er auch mit politischen Gefangenen und solchen anderer Religionsgemeinschaften aus vielen Ländern … mit Musikern ‚jeder nationalen, sozialen und religiösen Herkunft‘.“

„In den Lagern gab es eine unglaubliche Kreativität“, sagt Lotoro. „Wenn Ihr Leben in Gefahr ist, erschaffen Sie mehr, als eine Art Testament für die Zukunft.“

Besondere Aufmerksamkeit widmete die Sendung Jozef Kropinski, einem damals jungen Polen, der wegen Unterstützung des polnischen Widerstands gefangen genommen und zuerst nach Auschwitz und später nach Buchenwald deportiert wurde. Er war „vielleicht der produktivste und vielseitigste Komponist sämtlicher Lager.“ Lotoro konnte Kropinskis Sohn Waldemar ausfindig machen, der bei Nürnberg lebt. Jozef Kropinski schrieb während seiner vierjährigen Haftzeit hunderte Musikstücke, „Tangos, Walzer, Liebeslieder und sogar eine Oper“. Als Buchenwald im April 1945 evakuiert wurde und die Nazis während der letzten Wochen des Dritten Reichs die Häftlinge auf die Todesmärsche schickten, schmuggelte er seine Geige und viele hundert Musikstücke aus dem Lager.

Grazia and Francesco Lotoro (Foto: CBS News)

Wie bereits erwähnt, gibt es noch weitere wichtige Bemühungen, die Musik, die während des Terrors der Nazis verloren ging, vergessen oder unterdrückt wurde, wiederzubeleben. Der Dirigent James Conlon, gebürtiger Amerikaner, ist einer der prominentesten Dirigenten, die sich für die Wiederbelebung und Aufführung der Werke einsetzt. Er bringt uns Komponisten wie Erwin Schulhoff und Viktor Ullmann in Erinnerung, die im Holocaust ums Leben gekommen sind, daneben Walter Braunfels, Hanns Eisler, Mieczyslaw Weinberg und viele andere, die vor den Nazis fliehen mussten. Conlons Stiftung, die Orel Foundation, bietet eine Fülle an Informationen und Materialien zu diesem Thema.

Der Bericht der New York Times nennt auch das Projekt exil.arte an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien. Es wurde vor einigen Jahren initiiert, um während der Nazi-Zeit verbotene Musik wiederzubeleben und zu studieren. Mitbegründer des Projekts ist Michael Haas, Autor des bedeutenden Werks Forbidden Music: The Jewish Composers Banned by the Nazis (2013).

Die Arbeit von Lotoro, Conlon, Haas und anderen trägt zu einem besseren Verständnis der Musikgeschichte und insbesondere der Musik des 20. Jahrhunderts bei. Lotoro sagt, dass ein Teil dieser Musik, wäre er nicht jahrzehntelang begraben gewesen, „den Weg der Klangsprache in Europa nachhaltig [hätte] verändern können“. Das Werk der Komponisten, die ihr Leben verloren oder deren Karrieren zerstört wurden, hätte in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die Gegenwart einen enormen Einfluss auf die Musik ausüben können. Diese Musik zu retten bedeutet nicht nur, das Leben ihrer Schöpfer zu ehren und ihrer zu gedenken. Es dient auch der Orientierung für Komponisten und Musiker des 21. Jahrhunderts. Nicht zuletzt können daraus Lehrern gezogen werden, um einen Rückfall in die Barbarei zu verhindern, die das 20. Jahrhundert heimgesucht hat.

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