Es ist nicht lange her, da überboten sich Politiker aller Parteien mit Lob auf Krankenschwestern und -pfleger, Erzieherinnen, Busfahrer, Müllwerker und andere Beschäftigte des öffentlichen Diensts, die in der Corona-Pandemie trotz schlechter Bezahlung, massivem Stress und Gefahr für Leib und Leben gesellschaftlich unverzichtbare Dienste aufrechterhielten. Ende März spendete ihnen der Bundestag auf Anregung seines Präsidenten Wolfgang Schäuble sogar stehenden Applaus.
Fünf Monate später sind dieselben Parteien dabei, die Beschäftigten des öffentlichen Diensts ein weiteres Mal zu schröpfen. Unterstützt werden sie dabei von den Gewerkschaften Verdi und Beamtenbund.
Am Dienstag haben in Potsdam die Tarifverhandlungen für die 2,5 Millionen Beschäftigten der Kommunen und des Bundes begonnen. Wie in solchen Fällen üblich, diente das erste Treffen dazu, das Terrain zu sondieren und viel Wind zu erzeugen. Zwei weitere Verhandlungsrunden sind für den 19./20.September und den 22./23. Oktober geplant.
Die Forderungen von Verdi sind, selbst wenn man sie an den bescheidenen Maßstäben der Gewerkschaft misst, minimal und garantieren eine weitere Verarmung der öffentlich Beschäftigten. Verdi, die auch für kleinere Gewerkschaften – wie die Lehrergewerkschaft GEW und die Gewerkschaft der Polizei – verhandelt, fordert 4,8 Prozent, mindestens aber 150 Euro mehr Lohn, sowie die Senkung der Arbeitszeit im Osten um eine Stunde auf 39 Stunden wie im Westen.
Das ist deutlich weniger als Verdi bei der letzten Tarifrunde vor zweieinhalb Jahren verlangt hatte; und die Dienstleistungsgewerkschaft hat ebenso wenig wie damals die Absicht, diese Forderung durchzusetzen.
2018 hatte Verdi sechs Prozent mehr Lohn bei einer Laufzeit von zwölf Monaten und eine Mindesterhöhung von 200 Euro gefordert. Sie reagierte damit auf die explosive Stimmung unter den öffentlich Beschäftigten, die in jahrelangen Nullrunden die Kosten für die Milliarden-teure Bankenrettung nach der Finanzkrise 2008 und für die Politik der „Schwarzen Null“ getragen hatten. Zu den Niedriglöhnen, die – vor allem in Großstädten mit explodierenden Mieten – kaum den täglichen Bedarf deckten, gesellten sich marode Gebäude und Einrichtungen sowie ständige Überstunden und Stress als Folge des chronischen Personalmangels.
Um Dampf abzulassen, hatte Verdi damals zahlreiche Warnstreiks und Proteste organisiert, an denen sich Zehntausende beteiligten. Der Tarifvertrag, den die Gewerkschaft dann unterzeichnete, war ein Schlag ins Gesicht aller Beschäftigten des öffentlichen Diensts.
Auf dem Papier stand zwar die Zahl von 7,5 Prozent mehr Lohn – aber verteilt in mehreren Stufen auf eine Laufzeit von 30 Monaten! Aufs Jahr umgerechnet deckte der Zuwachs kaum die Inflationsrate. Er war zudem höchst ungleich verteilt. Bevorzugt wurden vor allem gut bezahlte Fachkräfte, die in der Privatwirtschaft wesentlich besser verdienen. Die unteren Lohngruppen erreichten dagegen auch nach 30 Monaten nicht die 200 Euro, die Verdi ursprünglich mit sofortiger Wirkung gefordert hatte.
Dass Verdi nun mit einer noch geringeren Forderung in die Tarifverhandlungen zieht, zeigt, dass in den Hinterzimmern längst weit umfassendere Angriffe auf die Beschäftigten des öffentlichen Diensts geplant werden. Wie nach der Finanzkrise sollen sie auch jetzt wieder für die Milliarden bluten, die Bundesregierung und Europäische Zentralbank in die Großkonzerne und Geldmärkte gepumpt haben, um die Aktienkurse nach oben zu treiben.
Der Verhandlungsführer der Kommunen ließ daran keinen Zweifel. „Eigentlich müssten wir angesichts der schwierigen Lage die Gehälter kürzen“, sagte Ulrich Mägde (SPD), der auch Oberbürgermeister von Lüneburg ist, der F.A.Z.. Soweit wolle er aber nicht gehen. Es bleibe aber dabei, „dass die Forderungen der Gewerkschaften völlig überzogen sind und es nichts zu verteilen gibt“. Auch die Angleichung der Arbeitszeit im Osten von 40 auf 39 Stunden sei „nicht akzeptabel“.
Reinhard Sager, der Präsident des kommunalen Spitzenverbandes Deutscher Landkreistag, drängte darauf, dass die Gewerkschaften von ihren Forderungen abrücken. Es sei unverantwortlich, wenn in Zeiten von Steuerausfällen und Krisenpaketen Milliardenforderungen gestellt würden, erklärte er.
Verdi signalisierte Verständnis. „Wir sehen das Umfeld“, sagte Christine Behle, die im Vorstand der Gewerkschaft für den öffentlichen Dienst zuständig ist. „Aber wir wollen auch nicht, dass die Beschäftigten abgehängt werden“, fügte sie vorsichtshalber hinzu.
Verdi-Chef Frank Werneke machte in Potsdam deutlich, dass die Gewerkschaft in dieser Tarifrunde keine Arbeitskämpfe anstrebt. „Ich drohe nicht mit Streiks“ und „wir wollen keine Eskalation“, versicherte er. Das setze aber voraus, „dass die Arbeitgeber zu einem sehr frühen Zeitpunkt ein konstruktives Angebot vorlegen“.
Verdi hatte sogar darauf gedrängt, die Tarifverhandlungen gegen eine Einmalzahlung um mehrere Monate zu verschieben – was die Kurve des Lohnanstiegs weiter abgeflacht hätte. Die kommunalen Arbeitgeber lehnten dies aber ab.
Das SPD-Mitglied Frank Werneke hat vor einem Jahr den Grünen Frank Bsirske an der Spitze der Dienstleistungsgewerkschaft abgelöst. Unter Bsirske hatte Verdi maßgeblich zum Lohn- und Arbeitsplatzabbau im öffentlichen Dienst beigetragen, dessen katastrophale Folgen in der Coronakrise nun so deutlich zu Tage treten. Er steht wie kaum ein anderer für die Verwandlung der Gewerkschaften aus reformistischen Arbeiterorganisationen in Co-Manager, die den Klassenkampf unterdrücken und die Arbeiter disziplinieren. Werneke, der 17 Jahre lang als Bsirskes Stellvertreter diente, setzt diese Politik nahtlos fort.
Die Tarifrunde im öffentlichen Dienst fällt in eine Zeit, in der sich die Klassengegensätze in Deutschland und weltweit enorm verschärfen. Mit der Öffnung der Schulen ohne wirksame Schutzmaßnahmen und der Ankurbelung der Produktion setzen die Regierungen unzählige Menschenleben aufs Spiel, damit die Profite der Konzerne und Banken wieder sprudeln. In der Auto-, Maschinen- und Zulieferindustrie stehen Hundertausende Arbeitsplätze auf dem Spiel, vom Dienstleistungs- und Kulturbereich ganz zu schweigen.
Unter Arbeitern, Lehrern, Eltern und Schüler wächst der Widerstand gegen diese menschenverachtende Politik. Doch beim Versuch, sich dagegen zur Wehr zu setzen, treffen die Betroffenen auf eine Mauer des Widerstands, die von sämtlichen im Bundestag vertretenen Parteien bis zu den Gewerkschaften reicht. Sie alle sind entschlossen, die Interessen der „Wirtschaft“ – d.h. die Profite der Reichen – gegen die Bedürfnisse der Mehrheit zu verteidigen.
Die Sozialistische Gleichheitspartei ruft deshalb Arbeiter in allen Bereichen auf, unabhängig von den Gewerkschaften ein Netzwerk von Aktionskomitees aufzubauen, um einen Generalstreik gegen die Schulöffnungen und die gesamte Politik der herrschenden Klasse vorzubereiten. Die Tarifrunde im öffentlichen Dienst sollte benutzt werden, um diese Initiative voranzutreiben. Es darf nicht zugelassen werden, dass Verdi den Beschäftigten des öffentlichen Diensts erneut in den Rücken fällt.