Der neue Lohntarifvertrag, den die Deutsche Post AG und die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft Verdi am Mittwoch beschlossen haben, ist für Postarbeiter ein offener Hohn. Wochenlang wurden sie als „Corona-Helden“ und systemrelevante Arbeiter bezeichnet. Jetzt werden sie mit einem Butterbrot abgespeist, das angesichts der steigenden Lebenshaltungskosten für viele einer Nullrunde oder Reallohnsenkung gleichkommt.
Der Abschluss bei der Post wirft zudem ein grelles Licht auf die viel größere Tarifrunde für 2,3 Millionen Beschäftigte im öffentlichen Dienst: Für sie bereitet Verdi gerade einen ähnlichen Ausverkauf vor. Die Sozialistische Gleichheitspartei betont seit langem, dass Arbeiter ihre Interessen nur im Kampf gegen die Gewerkschaft verteidigen können, indem sie sich zu unabhängigen Aktionskomitees zusammenschließen und einen Generalstreik vorbereiten.
Bei der Post hat Verdi in der dritten Verhandlungsrunde den kaum begonnenen Arbeitskampf rigoros abgewürgt. In der Woche davor hatten 22.000 Postbeschäftigte sich an Warnstreiks beteiligt und große Kampfbereitschaft demonstriert. Darauf folgte am Montag der Abschluss, dem die Verdi-Konzerntarifkommission am Mittwoch, 23. September, einhellig zustimmte.
Der Abschluss wurde vom Post-Management ausdrücklich gelobt. Post-Personalvorstand Thomas Ogilvie hob in einer Mitteilung die „gute Gesamteinigung“ hervor, welche „in einer sehr unsicheren wirtschaftlichen Gesamtsituation“ neue Planungssicherheit biete. Die Verhandlungsführerin und stellvertretende Verdi-Vorsitzende, Andrea Kocsis, fand sehr ähnliche Worte. „Ein gutes Verhandlungsergebnis“ sei erzielt worden. Der neue Tarif werde „für die Beschäftigten eine nachhaltige Lohnerhöhung, Sicherheit und Perspektive“ bringen.
Das Gegenteil ist der Fall. Die vereinbarte Lohnerhöhung von 5,0 % gilt nicht, wie anfangs gefordert, für ein Jahr, sondern hat eine Laufzeit von 28 Monaten. Damit unterliegen die Postler bis Ende 2022 der Friedenspflicht. Zudem beginnt sie mit einer Nullrunde für die ersten sieben Monate, von Juni bis Dezember 2020. Am 1. Januar 2021 sollen die Löhne um 3,0 % und ein Jahr später noch einmal um 2,0 % steigen. Diese Zuwächse fallen derart bescheiden aus, dass sie die steigenden Mieten, Benzin- und anderen Kosten des täglichen Lebens bei weitem nicht ausgleichen.
Die „Heldinnen und Helden der Arbeit“ (Kocsis) werden außerdem mit einem Corona-Bonus von 300 Euro brutto abgespeist, der als „Würdigung ihres Engagements in den letzten Monaten“ angepriesen wird. Er ist nicht einmal ein Tropfen auf den heißen Stein.
Der Abschluss gilt nur für die 140.000 festangestellten Postbeschäftigten, die noch darüber hinaus längerfristig um ihren Arbeitsplatz bangen müssen. „Der Schutz vor der Fremdvergabe von Zustellbezirken“ sei um ein Jahr, bis zum 31. Dezember 2021, verlängert worden – ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Abbau sicherer Arbeitsplätze im Sortier- und Zustelldienst weiter gehen soll.
In der Branche arbeiten eine halbe Million Menschen, und schon heute hat nicht einmal mehr jeder dritte einen unbefristeten, tariflich bezahlten und sicheren Arbeitsplatz. Tausende Paketsortierer, Postler und Kuriere sind längst als Geringverdiener in die Post-Tochter DHL Delivery ausgegliedert worden, oder sie arbeiten für die konzerneigene Leiharbeiterfirma DPD Service GmbH, oder sie sind für Sklavenbedingungen bei einem der zahlreichen Subunternehmer, der so genannten „Systempartner“ der Deutschen Post AG, beschäftigt.
Unter Corona-Bedingungen hat sich ihr Arbeitspensum noch verdoppelt, da die Online-Bestellungen ständig zugenommen haben. Schon seit März müssen die Postler ein Paket-Aufkommen bewältigen, das sich je nach Region um 40 bis 100 Prozent erhöht hat. „Fast wie an Weihnachten – nur dass die Aushilfen fehlen“, wie ein Kurierfahrer vor einiger Zeit einem Reporter sagte.
Gleichzeitig sind die Postler infolge unerträglicher Arbeitsbedingungen überdurchschnittlich durch das Coronavirus gefährdet. Arbeitsdruck, Lohndumping und überlange Arbeitszeiten führen dazu, dass Arbeiter auf ihre Gesundheit wenig Rücksicht nehmen können, um über die Runden zu kommen.
Nicht verwunderlich, ist es bereits zu mehreren Ausbrüchen gekommen, so im DPD-Paketdepot Hückelhofen, Kreis Heinsberg (NRW), wo im letzten Mai 82 Arbeiter Corona-positiv getestet wurden. Auch im DHL-Paketzentrum Neumünster und bei UPS in Langenhagen gab es größere Covid-19-Ausbrüche, bei denen sich Dutzende Beschäftigte infizierten. Mit den steigenden Infektionszahlen kann es jederzeit zu einem neuen Ausbruch kommen.
Dennoch wurden aus den Verhandlungen alle Fragen eines verbesserten Arbeitsschutzes unter Corona-Bedingungen ausgeklammert. Regelmäßige Tests, Informationspflicht über Covid-19-Fälle, Kontakteverfolgung und volle Lohnfortzahlung für alle Beschäftigten in häuslicher Quarantäne, Schutz der Risikogruppen – alles Fehlanzeige! Damit stellt sich die Gewerkschaft Verdi auf die Seite derjenigen Entscheidungsträger, die eine „Herdenimmunität“ und „Durchseuchung“ der Bevölkerung anstreben und dafür buchstäblich über Leichen gehen.
Mit dem jüngsten Abschluss für die Postler und seinem erbärmlichen Corona-Bonus von 300 Euro brutto für eine mehrere Monate währende Pandemie zeigen Deutsche Post AG und Verdi deutlich, wie wenig ihnen das Leben und Wohlergehen der Postler und ihrer Familien bedeutet.
Darüber hinaus lassen sie erkennen, was den Beschäftigten im öffentlichen Dienst, den Krankenschwestern und -Pflegern, Kita-Erzieherinnen und allen öffentlichen Bediensteten bei einem Tarifausverkauf im Oktober blüht. Gewerkschaftschefs wie Andrea Kocsis und Verdi-Chef Frank Werneke sind sich längst mit den Vertretern von Bund und Kommunen einig, dass die Arbeiterklasse für die Kosten der Corona-Krise aufkommen muss.
Gleichzeitig geht die Deregulierung der Staatskonzerne mit Hilfe der Gewerkschaften weiter. Seit 1995 haben Kapital und Kabinett die Deutsche Post in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und an die Börse gebracht. Wie Flug- und Bahnverkehr, Bau und Gesundheitspflege werden auch der Postdienst und die Telekommunikation immer weiter aufgegliedert und privatisiert. Im Ergebnis liefern sich Deutsche Post, DHL Delivery und DPD mit FedEx, UPS, Hermes und GLS auf den Knochen der Arbeiter einen gnadenlosen Wettbewerb.
Vom Boom im Online-Handel konnte die Deutsche Post nachhaltig profitieren. An den Gewinnen ist auch die Gewerkschaft mitbeteiligt und interessiert. Ihre Funktionäre sitzen in den Aufsichtsräten an der Seite der Aktionärsvertreter. Andrea Kocsis, im Verdi-Bundesvorstand zuständig für Postdienste, Spedition und Logistik, sitzt als stellvertretende Vorsitzende im Aufsichtsrat sowohl der DHL Group als auch der Deutschen Post AG. Dafür kassiert sie jährlich etwa eine Viertelmillion Euro, die sowohl an sie persönlich als auch an die gewerkschaftseigene Hans-Böckler-Stiftung fließt.
„Ich hoffe nicht, dass es zu Kampfhandlungen kommt“, erklärte Verdi-Chef Frank Werneke am 1. September im Morgenmagazin zur Tarifrunde im öffentlichen Dienst. Inzwischen tut Verdi alles, um einen wirklichen Arbeitskampf zu vereiteln und unmöglich zu machen. Deshalb trennt sie bewusst die Tarifrunde im öffentlichen Dienst von derjenigen im öffentlichen Nahverkehr, der Bahn AG, der Schulen und vieler anderer Bereiche, die in ihre Verantwortung fallen. Der rasche Abschluss mit der Deutschen Post AG hat diese Spaltungstaktik erneut bestätigt.
Siehe auch:
Tarifrunde im Öffentlichen Dienst: Verdi und Kommunen bereiten Lohnabbau vor
[3. September 2020]
Coronavirus breitet sich bei Paket- und Kurierdiensten aus
[19. Mai 2020]
Wie Konzerne und Regierung die Gewerkschaften finanzieren
[4. Juli 2020]