David North ist Leiter der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site und nationaler Vorsitzender der Socialist Equality Party (US). Dieser Essay basiert auf dem Transkript des Beitrags, mit dem er am 17. Januar eine Online-Diskussion über den faschistischen Angriff vom 6. Januar auf das Kapitol in Washington eröffnete.
Die erste Reaktion innerhalb der Vereinigten Staaten, aber auch weltweit, auf die gewalttätigen Ereignisse des 6. Januar 2021 und ihre Folgen ist verständlicherweise ein Schock.
Bei der Amtseinführung von Joseph Biden als 46. Präsident der Vereinigten Staaten wird die Hauptstadt von 25.000 Soldaten der Nationalgarde besetzt sein, was – wie ein Offizier anmerkte – ungefähr dem Zehnfachen der aktuellen amerikanischen Truppenstärke in Afghanistan entspricht. Es ist bezeichnend für die politische Lage in Washington, dass die Amtseinführung des Präsidenten, seit mehr als 200 Jahren eines der zentralen Rituale der amerikanischen Politik, unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgehalten wird.
Als Abraham Lincoln im Februar 1861 am Vorabend des Bürgerkriegs von Springfield (Illinois) nach Washington D.C. reiste, wurde er durch Baltimore geschleust, um einer Attentatsverschwörung der Konföderierten zu entgehen. Doch am 4. März 1861 konnte er vor einer großen und friedlichen Menge den Amtseid ablegen und seine erste Antrittsrede halten. Zu Lincolns zweiter Antrittsrede vier Jahre später, während der letzten Wochen des Bürgerkriegs, fand sich ein riesiges Publikum ein.
Es gibt in der historischen Erfahrung der Vereinigten Staaten nichts, das mit der gegenwärtigen Situation vergleichbar wäre. Nicht nur in Washington D.C. herrscht Belagerungszustand. Auch in allen Bundesstaaten sind die Parlaments- und Regierungsgebäude geschlossen, weil die Behörden gewalttätige Übergriffe rechtsextremer Kräfte befürchten.
So schockierend die Ereignisse des 6. Januar auch waren, die Behauptung, der Angriff auf das Kapitol sei nicht vorhersehbar gewesen, hält keiner ernsthaften Analyse stand. Die beste Widerlegung solcher Argumente sind die Artikel der World Socialist Web Site, die immer wieder vor Trumps Diktaturplänen gewarnt hat – was, wie man sich erinnern sollte, bereits bei der Zeremonie zu seiner Amtseinführung vor vier Jahren sichtbar wurde. Damals zogen unvermittelt uniformierte Soldaten hinter Trump auf, als dieser in faschistischer Manier den drohenden Untergang Amerikas beschwor. Genauso unvermittelt zogen sich die Soldaten dann wieder zurück. Dieser Vorfall, den die Medien weitgehend ignorierten, wurde von der WSWS kommentiert.
Die Anzeichen für die Vorbereitung eines politischen Staatsstreichs – geplant im Weißen Haus und abgestimmt mit Elementen innerhalb des Militärs und der Polizei sowie lokalen paramilitärischen und faschistischen Kräften – waren das ganze letzte Jahr über unübersehbar. In den letzten Wochen des Wahlkampfs und nach Trumps Wahlniederlage nahmen die Pläne für einen Staatsstreich, mit dem das Wahlergebnis 2020 rückgängig gemacht werden sollte, fieberhaften Charakter an.
Die Genossen Joseph Kishore und Eric London werden die politische Situation und die Ereignisse, die zum faschistischen Überfall auf das Kapitol führten, Revue passieren lassen. Ich möchte an dieser Stelle versuchen, die Ereignisse des 6. Januar in einen breiteren historischen Kontext zu stellen. Um die im Titel der Veranstaltung gestellte grundlegende Frage „Wohin geht Amerika?“ zu beantworten, muss die Entwicklung über einen längeren historischen Zeitraum und vor allem im internationalen Kontext untersucht werden. Das ist vom Standpunkt des Marxismus der einzige Ansatz, der zu einer richtigen Einschätzung der gegenwärtigen Lage führen kann. Die Hauptursache für die explosiven Ereignisse des 6. Januar ist in der globalen Krise des kapitalistischen Systems zu suchen und nicht in spezifisch amerikanischen Verhältnissen.
Der internationale Kontext ist entscheidend, um die Bedeutung und die längerfristigen Folgen der Ereignisse vom 6. Januar zu bewerten. Diejenigen, die den faschistischen Aufstand in Washington D.C. lediglich auf innenpolitische Verhältnisse zurückführen, die sich aus Trumps Persönlichkeit ergeben und ganz von ihm abhängen, gelangen zu ganz anderen politischen Schlussfolgerungen als diejenigen, die sich auf eine marxistisch-trotzkistische Einschätzung stützen, die die nationale Situation in den Kontext der internationalen Krise einordnet.
Es lässt sich nicht leugnen, dass zwischen der Covid-19-Pandemie, die im Jahr 2020 ausbrach und sich weltweit ausbreitete, und dem politischen Ausbruch im Januar 2021 ein tiefer kausaler Zusammenhang besteht. Vor fast einem Jahr definierte die World Socialist Web Site die Pandemie als ein „Trigger-Event“, ähnlich dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Dieses „Trigger-Event“ hat, wie von der WSWS vorhergesagt, die globale kapitalistische Krise und deren Manifestation in jedem Land intensiviert und beschleunigt. Die offizielle Antwort auf die Krise – bestimmt von den ökonomischen Zwängen des kapitalistischen Systems, die in den gesellschaftlichen Interessen der herrschenden Eliten zur Geltung kommen – hat zu einer sozialen Katastrophe geführt, die den ökonomischen, politischen, intellektuellen und moralischen Bankrott der bestehenden Gesellschaftsordnung ans Tageslicht gebracht hat. Weltweit sind bereits mehr als zwei Millionen Menschen dem Virus erlegen. In den Vereinigten Staaten nähert sich die Zahl der Opfer der Marke von 400.000. Es erscheint fast unausweichlich, dass nach einem weiteren Monat mehr als eine halbe Million Amerikaner an dem Virus gestorben sein werden.
Die Pandemie ist kein entlegenes Ereignis, das die meisten Menschen aus der Ferne verfolgen könnten. Die Tragödie des Verlusts so vieler Menschenleben wurde durch wirtschaftliche Verwerfungen von erschütternden Ausmaßen verschlimmert. In den Vereinigten Staaten sind Millionen Menschen ohne Arbeit und leiden Hunger. Ein erheblicher Prozentsatz der Bevölkerung kann ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten oder sieht sich dieser Gefahr unmittelbar ausgesetzt. Die Pandemie ist ein gesellschaftliches Trauma, das wie die beiden Weltkriege enorme Dimensionen annimmt und langanhaltende Folgen haben wird.
Die Amerikaner kommen um die Frage nicht herum: Wie konnte es so weit kommen? Die unfassbare Inkompetenz und das Chaos, die jeden Aspekt der Reaktion auf die Pandemie geprägt haben, haben ein Gefühl der nationalen Demütigung hinterlassen. Die alten Phrasen, mit denen Amerika gepriesen und verherrlicht wird – „das Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ oder gar „die letzte Hoffnung auf Erden“ oder „die Festung der Demokratie“ – haben keinen Bezug zur Realität. Angesichts der unaufhörlichen Serie von Versäumnissen und Lügen, die die offizielle Reaktion auf die Pandemie prägen, überrascht es niemanden mehr, dass die von viel Medienhype begleitete Einführung der Impfstoffe innerhalb weniger Wochen zu einem weiteren beschämenden Schlamassel verkommen ist.
Die katastrophale Reaktion auf die Pandemie und die politische Krise, die dadurch unmittelbar geschaffen wurde, sind Manifestationen längerfristiger Prozesse. Betrachtet man die Ereignisse des 6. Januar losgelöst von größeren historischen und internationalen Prozessen, könnte man sie als eine etwas gewalttätigere Manifestation reaktionärer politischer und gesellschaftlicher Tendenzen bewerten, die es in den Vereinigten Staaten schon immer gegeben hat, sei es in Form der Know Nothings der 1850er Jahre, des Ku-Klux-Klans nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg, der zahlreichen rassistischen, antisemitischen und arbeiterfeindlichen Bewegungen, die in den 1920er und 1930er Jahren eine große Anhängerschaft fanden, der McCarthy-Hysterie der frühen 1950er Jahre, der John Birch Society oder der Goldwater-Präsidentschaftskampagne von 1964. Was macht die heutige Situation grundlegend anders, selbst unter Berücksichtigung der Pandemiefolgen?
Die Antwort lautet im Wesentlichen, dass sich die globale Position des amerikanischen Kapitalismus tiefgreifend verändert hat. Der faschistische Aufstand vom 6. Januar ist der Höhepunkt einer langwierigen Krise der Demokratie. Der bösartige Charakter der sozialen Widersprüche in den Vereinigten Staaten, der in Massenarmut und schwindelerregenden Ausmaßen der sozialen Ungleichheit seinen schlimmsten Ausdruck findet, ist das Ergebnis des langfristigen Niedergangs der globalen Position der Vereinigten Staaten.
Stellen wir die Amtseinführung Bidens in einen größeren historischen Rahmen. Sie findet genau 60 Jahre nach der Amtseinführung von John F. Kennedy am 20. Januar 1961 statt. Diese lag genau in der Mitte des Zeitraums zwischen der zweiten Inauguration von Präsident William McKinley am 4. März 1901 – der Monat der Amtseinführungen wurde erst 1937 auf den Januar vorverlegt – und der bevorstehenden Vereidigung Bidens am kommenden Mittwoch.
William McKinley führte als Präsident den Spanisch-Amerikanischen Krieg, der den Aufstieg der Vereinigten Staaten zur neuen imperialistischen Weltmacht markierte. In den folgenden 60 Jahren etablierten sich die Vereinigten Staaten als die dynamischste und reichste kapitalistische Macht und bestanden mit großem Erfolg zwei Weltkriege, auf deren Grundlage sie ihre hegemoniale Weltposition sicherten. Die Präsidenten, die diese Ära dominierten, waren Theodore Roosevelt, Woodrow Wilson, Franklin Roosevelt (der vier Amtszeiten absolvierte) und in den Jahren nach Roosevelts Tod 1945 Truman, Eisenhower und Kennedy.
Kennedys Amtseinführung ist vor allem als ein ausgefeilter, wenn auch völlig heuchlerischer Appell an den Patriotismus in Erinnerung geblieben. Aber eine genaue Analyse der Rede fördert zutage, dass der neue Präsident tiefe Ängste vor den Folgen der Welle der sozialen Revolution zum Ausdruck brachte, die sich damals aufbaute. Um die Kräfte der Revolution einzudämmen, müsse der Kapitalismus Zugeständnisse an die Unzufriedenheit der Bevölkerung machen. „Wenn eine freie Gesellschaft den vielen Armen nicht helfen kann“, warnte er, „kann sie auch die wenigen Reichen nicht retten.“ Die Antwort auf diese Gefahr bestand in Sozialreformen als Element des Kampfs gegen den Sozialismus. Der amerikanische Imperialismus musste bereit sein, „jeden Preis zu zahlen“, um das Überleben der „Freiheit“ – d. h. des Kapitalismus – zu sichern.
Die Fähigkeit, die Verteidigung der globalen Interessen des US-Imperialismus mit sozialen Reformen im eigenen Land zu verbinden, hing jedoch von der wirtschaftlichen Dominanz der Vereinigten Staaten ab. Ein zentraler Stützpfeiler dieser Dominanz war die Rolle des Dollars als Weltreservewährung, die zum Kurs von 35 Dollar pro Unze in Gold konvertierbar war. Dieses wesentliche Element der von den USA dominierten Nachkriegsordnung, die auf der Bretton-Woods-Konferenz von 1944 festgelegt worden war, basierte darauf, dass die Vereinigten Staaten – als stärkste Wirtschaftsmacht der Welt – den Welthandel für die kommenden Jahrzehnte dominieren und dadurch große Handels- und Zahlungsbilanzüberschüsse erzielen würden. Solange die Vereinigten Staaten diese Überschüsse aufrechterhielten, konnte der Dollar allgemein als „so gut wie Gold“ akzeptiert werden.
Doch schon als Kennedy seinen Amtseid ablegte, geriet die wirtschaftliche Vormachtstellung der Vereinigten Staaten zunehmend unter Druck. Die Hauptkonkurrenten, über die die USA im Zweiten Weltkrieg gesiegt hatten, Deutschland und Japan, waren zu diesem Zeitpunkt bereits dabei, ihre Wirtschaft wiederaufzubauen. Die US-Handelsüberschüsse waren rückläufig. Gleichzeitig sah sich die herrschende Klasse mit militanten Arbeitskämpfen und der wachsenden Bürgerrechtsbewegung konfrontiert, die die Regierungen Kennedy und Johnson mit umfangreichen Reformen aufzufangen versuchten. Aber die Kosten für Reformen bei gleichzeitiger Kriegsführung gegen revolutionäre Aufstände, insbesondere in Vietnam, waren auf Dauer nicht tragbar. Dieses Dilemma untergrub das Programm der Sozialreform.
1971 war es so weit, dass die wachsenden Handels- und Zahlungsbilanzdefizite die US-Goldreserven zu erschöpfen drohten. Die Defizite waren größer als die Überschüsse. Das Gold floss ab und es drohte der damals befürchtete Staatsbankrott. Dies veranlasste die Nixon-Administration, die im Januar 1969 an die Macht gekommen war, zu drastischen Maßnahmen. Vor knapp 50 Jahren, am 15. August 1971, reagierte Präsident Nixon auf die wirtschaftliche Notlage mit der Beendigung der Dollar-Gold-Konvertibilität.
Im historischen Rückblick markierte diese Aktion einen Wendepunkt nicht nur für die weltwirtschaftliche Stellung der Vereinigten Staaten, sondern auch für das Schicksal der amerikanischen Demokratie. Solange die Vereinigten Staaten eine aufstrebende Weltmacht waren, deren militärische Komponente gegenüber der wirtschaftlichen Stärke und Dominanz des Landes nachrangig war, hatte die Grundrichtung der amerikanischen Politik weitgehend einen progressiven Charakter.
Es mangelte in den Vereinigten Staaten nicht an reaktionären Kräften – die Lindbergh-Bewegung, Pater Coughlin, Gerald L. K. Smith, und später Joe McCarthy. Aber das Wachstum dieser bösartigen, reaktionären Tendenzen wurde durch die Fähigkeit des amerikanischen Kapitalismus gehemmt, Reformen zu gewähren und ein tragfähiges soziales und politisches Gleichgewicht herzustellen. In den 1930er Jahren bot der Reichtum des amerikanischen Kapitalismus selbst während der schwerwiegenden Großen Depression, wie Trotzki einst bemerkte, Roosevelt Spielraum für seine Experimente.
Diese Experimente wurden bis in die 1960er Jahre fortgesetzt. Roosevelts New Deal wich Trumans Fair Deal, Kennedys New Frontier und dann, nach Kennedys Ermordung im November 1963, Johnsons Great Society. Aber diese Great Society konnte nicht mehr verwirklicht werden. Unter den Bedingungen des wirtschaftlichen Niedergangs waren die Vereinigten Staaten nicht in der Lage, „jeden Preis zu zahlen“, um den Kapitalismus zu verteidigen. Wenn es galt, zwischen „Kanonen und Butter“ zu wählen, d. h. zwischen der Finanzierung einer Armee, das überall auf der Welt Krieg führen konnte, und von Sozialreformen und einem höheren Lebensstandard im Inneren, hatten die Kanonen Vorrang.
Die Abkehr von sozialen Reformen bedingte eine zunehmende Hinwendung zu sozialer Repression. Die Entwicklung der amerikanischen Demokratie folgte der Entwicklung des amerikanischen Kapitalismus – sprich, seinem Abstieg.
Unmittelbar nach der Bretton-Woods-Krise kam es zu dem ersten wirklich bedeutenden Vorfall, bei dem ein amerikanischer Präsident zu kriminellen Methoden griff, um grundlegende, in der Verfassung verankerte Verfahren zu unterlaufen. Im Juni 1972, also nur ein knappes Jahr nach dem August 1971, wurde der berüchtigte Watergate-Einbruch verübt. Beauftragte der Republikaner, die mit der CIA in Verbindung standen, brachen in die Büros der Demokratischen Partei im Watergate-Gebäudekomplex ein. Dieser kriminelle Versuch, die anstehenden Präsidentschaftswahlen zu unterlaufen, löste eine politische und verfassungsrechtliche Krise in den Vereinigten Staaten aus. Im Zuge der Watergate-Anhörungen und -Ermittlungen beschloss der Justizausschuss des Repräsentantenhauses schließlich ein Amtsenthebungsverfahren gegen Nixon, dem fast unmittelbar der Rücktritt des überführten Präsidenten im August 1974 folgte.
Das Ganze erwies sich allerdings nicht als Triumph der Demokratie. Ungeachtet der Demütigung Nixons ging es mit der amerikanischen Demokratie weiter bergab, parallel zur Abwertung des US-Dollars. Der Angriff auf die Arbeiterbewegung eskalierte. Dem demokratischen Präsidenten Jimmy Carter gelang es zwar nicht, den landesweiten Streik der Bergarbeiter 1978 unter Einsatz des Taft-Hartley-Gesetzes zu brechen, doch er bereitete den Boden für Ronald Reagan, der im August 1981 die Massenentlassung von 11.000 streikenden Fluglotsen, Mitgliedern der PATCO-Gewerkschaft, verfügte. Dieser Angriff, der ohne Widerstand des Gewerkschaftsdachverbands AFL-CIO über die Bühne ging, markierte den Anfang vom Ende der organisierten Gewerkschaftsbewegung, wie sie aus den großen Arbeitskämpfen der 1930er und 1940er Jahre hervorgegangen war.
In den 1990er Jahren, nach einer Welle von Streiks, die in Niederlagen endeten, isoliert und verraten von der AFL-CIO, waren die Gewerkschaften zum reinen Hilfswerkzeug für die Ausbeutung der Arbeiterklasse verkommen. Streiks verschwanden praktisch aus der Gesellschaft der Vereinigten Staaten. Die Ära der Milliardäre und Multimilliardäre war angebrochen. Es folgte eine schwindelerregende Zunahme der sozialen Ungleichheit. Ihr Hauptmerkmal war die Konzentration des Reichtums bei einer kleinen oligarchischen Elite, in einem Ausmaß, wie es die Vereinigten Staaten seit den späten 1920er Jahren nicht mehr erlebt hatten.
Die soziale Konterrevolution wurde begleitet von einer politischen Reaktion, in der zwangsläufig die verbrecherischste aller kapitalistischen Ideologien, der Faschismus, rehabilitiert werden musste. Reagan begann seine Kampagne für die Präsidentschaftswahl 1980 in Philadelphia (Mississippi), wo drei Bürgerrechtler – James Chaney, Michael Schwerner und Andrew Goodman – im Juni 1964 von Mitgliedern des Ku-Klux-Klans ermordet worden waren. Wie damals offenkundig war, besuchte Reagan Philadelphia nicht, um den Märtyrern der Bürgerrechte zu huldigen, sondern um seine Solidarität mit den schlimmsten Formen der amerikanischen Reaktion zu bekunden. Und um ganz sicherzugehen, dass die Botschaft ankam, legte Reagan während eines Deutschlandbesuchs 1985 einen Kranz auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg nieder, wo Mitglieder der Waffen-SS begraben sind.
Nur ein Jahr später zeigte sich im Iran-Contra-Skandal, dass die Reagan-Administration direkt gegen ein vom Kongress verabschiedetes Gesetz verstoßen hatte. Die kriminellen Machenschaften, die in Anhörungen des Kongresses aufgedeckt wurden, betrafen die Finanzierung faschistischer Todesschwadronen und Söldner, die den Sturz der linksnationalistischen Sandinista-Regierung in Nicaragua anstrebten. Im Zuge der Untersuchungen des Kongresses stellte sich heraus, dass Oberst Oliver North, der im Auftrag Reagans die mörderischen Operationen in Mittelamerika leitete, auch an geheimen Plänen beteiligt war, die unter der Bezeichnung Rex 84 [Readiness Exercise 1984] liefen und die Inhaftierung von 100.000 Amerikanern im Falle eines nationalen Notstands vorsahen. Eine offene Diskussion über diese Pläne wurde vom Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses zum Iran-Contra-Skandal, dem demokratischen Senator Daniel Inouye aus Hawaii, sofort unterbunden.
Die Tendenzen zum Autoritarismus, die sich nach der Auflösung der stalinistischen Regime in Osteuropa und der Sowjetunion und der Restauration des Kapitalismus in den Jahren 1989 bis 1991 beschleunigten, wurden von einem neuerlichen Ausbruch des US-imperialistischen Militarismus begleitet und dienten dessen Interessen. Die Invasion des Irak 1991 markierte den Beginn eines 30-jährigen ununterbrochenen Krieges der Vereinigten Staaten im Nahen Osten und in Zentralasien.
Bei der Wahl im Jahr 2000 entschied der Oberste Gerichtshof mit 5:4 Stimmen, George Bush die Präsidentschaft zuzusprechen, und beendete zu diesem Zweck die Auszählung der Stimmzettel in Florida. Diese unerhörte Entscheidung wurde von der Demokratischen Partei nicht angefochten. Viele der Argumente und Vorgehensweisen, derer sich die Republikaner damals bedienten, um die Wahl zu stehlen, nahmen, wenn auch in kleinerem Maßstab, die Methoden vorweg, die Trump und die Republikanischen Partei im Jahr 2020 verwendeten. In der Rechtssache „Bush v. Gore“ argumentierte Richter Antonin Scalia, dass die Verfassung keine Bestimmung enthalte, die dem amerikanischen Volk das Recht gebe, den Präsidenten zu wählen. Das Recht auf die Benennung der Wahlmänner, die den Präsidenten wählen, liege allein bei den Parlamenten der Bundesstaaten, und zwar ohne Rücksicht auf das jeweilige Wahlergebnis. Gewissermaßen im Vorgriff auf die Bemühungen Trumps, die Ergebnisse der Wahl 2020 zu kippen und das Wahlergebnis in wichtigen Swing States zu unterlaufen, drängte Scalia im Jahr 2000 die Parlamentarier in Florida, Wahlmänner zu bestimmen, die für Bush stimmen würden.
Auf den Diebstahl der Wahlen im Jahr 2000 folgten die Ereignisse vom 11. September 2001, die von der Bush-Administration mit Unterstützung der Demokraten genutzt wurden, um in Afghanistan und im Irak einzumarschieren und unter dem Deckmantel des „Kriegs gegen den Terror“ und des Patriot Act den größten Generalangriff auf die verfassungsmäßigen Grundrechte in der Geschichte der Vereinigten Staaten zu starten.
Weitere Meilensteine des bereits weit fortgeschrittenen Verfalls der Demokratie in den Vereinigten Staaten waren die Errichtung eines Offshore-Konzentrationslagers in Guantanamo und dann, unter Obama, die gezielte Ermordung von US-Bürgern.
Ungeachtet aller Bemühungen, den „unipolaren Moment“ zu verewigen und die Stellung der USA als unanfechtbarer globaler Hegemon zu sichern, setzte sich die wirtschaftliche Erosion des amerikanischen Kapitalismus fort. Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends begann damit, dass die Spekulationsblase platzte, die durch die Überbewertung der Aktien von Technologieunternehmen in den 1990er Jahren entstanden war. Die Portfolios der Wall-Street-Investoren erholten sich allerdings bald, denn an die Stelle gescheiterter und betrügerischer Unternehmen wie Enron traten neue exotische Spekulationsinstrumente wie besicherte Schuldverschreibungen. So wurden schwindelerregende Zuwächse an Privatvermögen generiert, die nicht mit Investitionen von Kapital in den Produktionsprozess verbunden waren. Die Finanzmarktkrise vom September 2008 brachte das gesamte Kartenhaus zum Einsturz. Um die Wall Street zu retten, pumpte die Federal Reserve einen ständigen Strom riesiger Liquiditätsmengen in die Finanzmärkte – eine Politik, die als quantitative Lockerung bezeichnet wird. Es wurde zur Routine, dass der Kongress den milliardenschweren Rettungsaktionen für die Investoren an der Wall Street mit überwältigender Mehrheit zustimmte. Die wirtschaftlichen Ressourcen des gesamten Landes wurden einer Konzern- und Finanzoligarchie zur Verfügung gestellt, die aus einem winzigen Prozentsatz der Bevölkerung besteht.
Die Pandemie hat offengelegt, welche furchtbaren sozialen Folgen diese moderne Form des finanziellen Parasitismus nach sich zog. Das einzige Anliegen der Regierung bestand darin, die Märkte zu schützen, nicht Leben zu retten. Alle Maßnahmen, die sich nachteilig auf die Märkte auszuwirken drohten – wie z. B. die Schließung von nicht lebensnotwendigen Betrieben und von Schulen – wurden abgelehnt. Das Streben nach „Herdenimmunität“, also die ungehinderte Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung, wurde de facto zur Politik der Vereinigten Staaten.
Man erinnere sich, dass der bewaffnete rechte Mob bei seinem ersten Aufmarsch, nämlich im April 2020 vor dem Kapitol des Bundesstaats Michigan, gegen den vorübergehenden Lockdown der Wirtschaft mobil machte, den Gouverneurin Gretchen Whitmer angeordnet hatte. Sie fand sich anschließend im Visier eines gescheiterten Neonazi-Attentats wieder.
Wenn wir die Ereignisse in diesen umfassenderen historischen Kontext stellen, wird deutlich, dass der 6. Januar eine neue Etappe im langen Prozess des Zusammenbruchs der Demokratie markiert.
In den letzten Tagen haben gewisse Historiker und Journalisten behauptet, dass am 6. Januar eigentlich nichts Besonderes passiert sei und dass alles mehr oder weniger zur Normalität zurückkehren werde. Diese gefährliche Unterschätzung der fortdauernden Gefahr beruht nicht nur auf einer falschen Einschätzung der Verhältnisse in Amerika.
Diejenigen, die solche Behauptungen aufstellen, schätzen den Zustand des Kapitalismus als Weltwirtschafts- und Gesellschaftssystem falsch ein. Die Bedingungen, die ich hier beschreibe und die wir in den Vereinigten Staaten erleben, finden sich überall auf der Welt wieder. Überall sind demokratische Herrschaftsformen unter Belagerung. Wir erleben ein Wiedererstarken der Rechten, ein Wachstum faschistischer Kräfte. Genosse Christoph Vandreier wird vom Wiederaufleben des Faschismus in Deutschland berichten.
Was ist die Schlussfolgerung, die aus den Ereignissen des 6. Januar gezogen werden muss? Sie markieren eine neue Etappe im politischen Leben der Vereinigten Staaten und der Welt.
Wohin geht Amerika? Diese Frage wird durch den Ausgang des sozialen Kampfs bestimmt werden, der sich innerhalb der Vereinigten Staaten und international entfalten wird. Früher hieß es, die Amerikaner hätten „ein Rendezvous mit dem Schicksal“. So der von Roosevelt geprägte Ausdruck. Ein echtes Rendezvous haben die Amerikaner heute mit der Geschichte.
Wohin geht Amerika? Wird es in Richtung Faschismus gehen oder in Richtung Sozialismus? Dies sind die Alternativen, vor denen Amerikaner stehen. Der Weg zum Sozialismus ist der Weg des Klassenkampfs. Wenn die Demokratie in diesem Land überleben soll, ja wenn sie irgendwo auf der Welt überleben soll, muss sie eine neue gesellschaftliche Basis finden. Sie kann sich nicht auf die Bourgeoisie stützen. Die alten klassischen Verweise auf die bürgerliche Demokratie haben in der gegenwärtigen Situation nur noch wenig Relevanz. Wenn die Demokratie überleben soll, muss die Macht in die Hände der Arbeiterklasse übergehen.
Der Ausgang steht noch nicht fest und muss entschieden werden. Es gibt in der Geschichte nichts Unvermeidliches. Es gibt die Möglichkeit des Sozialismus. Es gibt auch die Möglichkeit des Faschismus. Vom Standpunkt der objektiven Faktoren aus gesehen ist das Potenzial für den Sozialismus immens. Mächtige wirtschaftliche und gesellschaftliche Kräfte treiben die Vereinigten Staaten und die Welt in diese fortschrittliche und befreiende Richtung: die Globalisierung der Weltwirtschaft, die Verflechtung der Produktion, die gewaltigen Fortschritte in der Kommunikationstechnologie und vor allem die überwältigende zahlenmäßige Vorherrschaft und Stärke der Arbeiterklasse. Das sind die wirklich entscheidenden Faktoren, die den Sieg der sozialistischen Revolution möglich machen.
Aber es gibt nicht nur objektive Kräfte in der Geschichte; es gibt auch subjektive Kräfte. Das objektive Potenzial muss in ein politisches Programm und politische Massenaktionen der Arbeiterklasse umgesetzt werden. „Der Kampf wird entscheiden!“ Das waren die Worte Trotzkis in den frühen 1930er Jahren. Wird sich die Welt in Richtung Sozialismus weiterentwickeln? Wird sie in Richtung Faschismus gehen? Ausschlaggebend ist die Führung der Arbeiterklasse, das ist die entscheidende Frage.
Entscheidend ist, was die Arbeiter tun, was Ihr hier im Publikum beschließt zu tun. Die World Socialist Web Site, die Sozialistischen Gleichheitsparteien, das Internationale Komitee der Vierten Internationale können ein revolutionäres sozialistisches Programm vertreten und dafür kämpfen. Aber dieses Programm muss von der Arbeiterklasse aufgegriffen werden. Dieses Programm muss in die Arbeiterklasse hineingetragen werden. Es muss zu den breiten Schichten der Arbeiter in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt gebracht werden, die nach einem Weg zum Kampf suchen, ihn aber allein nicht finden können. Sie müssen die sozialistische Theorie und sozialistische Prinzipien vermittelt bekommen. Man muss ihnen ein Banner geben, um das sie sich auf einer progressiven Basis zusammenschließen können.
Daher hoffe ich, dass diese Veranstaltung Euch überzeugen wird, den Kampf aufzunehmen, der Sozialistischen Gleichheitspartei beizutreten, Euch dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale anzuschließen und die Weltpartei der sozialistischen Revolution aufzubauen.