Der Krieg in Afghanistan und der deutsche Militarismus

Am Mittwoch wurden die letzten deutschen Soldaten aus Afghanistan ausgeflogen. Damit endete der bisher größte und längste Kriegseinsatz der Bundeswehr.

Mit zwanzig Jahren dauerte er über drei Mal so lange wie der Zweite Weltkrieg. Mehr als 150.000 Soldaten und Soldatinnen erlebten ihren ersten Kriegseinsatz. 59 starben oder wurden getötet, Tausende weitere wurden verletzt und traumatisiert. Allein die militärischen Kosten beliefen sich auf 12 Milliarden Euro.

Bundeswehrsoldaten aus Camp Marmal auf Patrouille (Bild: ISAF / CC BY-SA 2.0)

Der Abzug glich in seiner letzten Phase einer Flucht. Er erfolgte, nachdem die US-Streitkräfte begonnen hatten, den Großteil ihrer Truppen weit vor der von Präsident Biden gesetzten Frist vom 11. September abzuziehen. Die letzten deutschen Transportmaschinen verließen das Feldlager Camp Marmal mit ausgeschalteten Transpondern, aus Angst von den Taliban abgeschossen zu werden.

Beobachter erwarten, dass die fundamental-islamistische Bewegung, die zu Beginn des Krieges von der Macht verdrängt worden war, in den kommenden Wochen die nahegelegene Stadt Masar-e-Scharif sowie große Teile des Landes wieder einnehmen wird. Zahlreiche deutsche Medien schreiben deshalb über einen „gescheiterten Einsatz“ und eine „Niederlage des Westens“. Doch das ist nur die halbe Wahrheit.

Zum einen ist der Krieg in Afghanistan mit dem offiziellen Abzug der Nato-Truppen längst nicht zu Ende. Weder Washington noch Berlin sind bereit, Iran, Russland, China oder einem anderen Rivalen Einfluss auf das strategisch wichtige Land zu überlassen.

Militärische „Berater“ und private Söldner werden deshalb zurückbleiben. Regionale Verbündete des „Westens“ – die Türkei, aber auch Pakistan, die Schutzmacht der Taliban – werden ermutigt werden, den Konflikt am Kochen zu halten. US-Drohnen und Flugzeuge werden das Land bombardieren, wie dies mit anderen Ländern, mit denen sich die USA nicht offiziell im Kriegszustand befinden (Jemen, Irak, Syrien), längst der Fall ist.

Auch die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat angekündigt: „Wenn wir militärisch das Land verlassen, müssen wir weiter an der Seite Afghanistans bleiben, etwa dadurch, dass wir auch innerhalb der Nato darüber reden, wie wir die afghanische Armee weiter unterstützen können.“

Es ist Washington und Berlin zwar nicht gelungen, in Kabul ein stabiles Marionettenregime zu installieren, wie sie dies ursprünglich beabsichtigt hatten. Doch aus deutscher Sicht erfüllte der Krieg einen weitaus wichtigeren Zweck: Er bahnte der Rückkehr des deutschen Militarismus den Weg, der nach den Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg in breiten Bevölkerungskreisen verhasst war. Das waren der herrschenden Klasse die hohen menschlichen und finanziellen Opfer mehr als wert.

2001 hatte die Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und Außenminister Joschka Fischer (Grüne) der US-Regierung die deutsche Kriegsbeteiligung regelrecht aufgedrängt. Der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld bestätigte später auf einer Pressekonferenz, dass Berlin nie um die Bereitstellung von Soldaten gebeten worden sei, wie die Bundesregierung behauptet hatte.

Präsident George W. Bush nutzte die Terroranschläge vom 11. September 2001, um längst ausgearbeitete Kriegspläne gegen Afghanistan zu verwirklichen, wie die WSWS bereits wenige Tage nach den Anschlägen warnte:

Die Angriffe auf das World Trade Center und auf das Pentagon müssen als Gelegenheit herhalten, weitreichende politische Pläne durchzusetzen, die vom äußersten rechten Flügel der herrschenden Elite bereits seit Jahren lautstark eingefordert werden. …

Kann es den geringsten Zweifel daran geben, dass dieser Kreuzzug für ‚Frieden‘ und ‚Stabilität‘ den USA Gelegenheit bieten wird, ihre Kontrolle über die Öl- und Gasreserven des Nahen Ostens, des Persischen Golfs und des Kaspischen Raums zu festigen? Hinter den frommen und patriotischen Deklamationen der Politiker und Medienkommentatoren stehen die langjährigen Pläne des amerikanischen Imperialismus, weitere Teile der Welt zu dominieren und seine weltweite Vorherrschaft zu etablieren.

Der deutsche Imperialismus wollte in diesem Krieg um die Neuaufteilung der Welt nicht abseitsstehen. Am 11. Oktober 2001, vier Tage nach Beginn der amerikanischen Kriegshandlungen in Afghanistan, kündigte Kanzler Schröder vor dem Bundestag eine grundlegende Neuorientierung der deutschen Außenpolitik an.

„Nach dem Ende des Kalten Krieges, der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands und der Wiedererlangung unserer vollen Souveränität haben wir uns in einer neuen Weise der internationalen Verantwortung zu stellen,“ erklärte er. „Einer Verantwortung, die unserer Rolle als wichtiger europäischer und transatlantischer Partner, aber auch als starke Demokratie und starke Volkswirtschaft im Herzen Europas entspricht.“

Die Etappe, in der sich Deutschland nur durch „sekundäre Hilfsleistungen“ an „internationalen Bemühungen zur Sicherung von Freiheit, Gerechtigkeit und Stabilität“ beteiligt habe, sei „unwiederbringlich vorbei“, betonte der Kanzler. „Gerade wir Deutschen ... haben nun auch eine Verpflichtung, unserer neuen Verantwortung umfassend gerecht zu werden. Das schließt – und das sage ich ganz unmissverständlich – auch die Beteiligung an militärischen Operationen ausdrücklich ein.“

Einen Monat später beschloss der Bundestag die Bereitstellung von 3900 Bundeswehrsoldaten für den Kampf „gegen den internationalen Terrorismus“. Schröder verknüpfte die Abstimmung mit der Vertrauensfrage – ein höchst ungewöhnliches Vorgehen, insbesondere da wegen der Unterstützung von Union und FDP auch bei Gegenstimmen aus dem eigenen Lager eine Mehrheit garantiert gewesen wäre. Doch Schröder wollte sicher gehen, dass SPD und Grüne geschlossen für den größten deutschen Militäreinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg stimmen. Auch Außenminister Fischer drohte mit Rücktritt, falls sich die Grünen-Fraktion gegen den Afghanistaneinsatz wenden sollte.

Die Drohungen erwiesen sich als überflüssig. Ein SPD-Parteitag stimmte drei Tage später mit 90 Prozent der Kriegspolitik zu. Auch auf dem Bundesparteitag der Grünen stellten sich mehr als zwei Drittel der Delegierten hinter den Kriegsbeschluss.

Seither haben über 150.000 Soldaten und Soldatinnen in Afghanistan ihre Feuertaufe erhalten. Sie mussten lernen, für die Interessen des deutschen Imperialismus ihr Leben aufs Spiel zu setzen und zu töten. Die Aussage von Verteidigungsminister Peter Struck (SPD), die „Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland“ werde am Hindukusch verteidigt, brachte dies bereits am Anfang des Krieges auf den Punkt. Auch die Öffentlichkeit sollte daran gewöhnt werden, dass deutsche Soldaten wieder töten. Den Höhepunkt bildete dabei das Massaker von Kundus.

In der Nacht zum 4. September 2009 erteilte Bundeswehr-Oberst Georg Klein in Absprache mit seinen Vorgesetzten in Potsdam den Befehl, einen entführten, mit Benzin gefüllten Tanklastwagen zu bombardieren. Obwohl der Laster in einem Flussbett feststeckte und keine Gefahr darstellte, lehnte Klein das Ansinnen der amerikanischen Piloten ab, die zahlreichen Menschen in seiner Umgebung vor dem Angriff zu warnen. Als Folge fanden über 130 Zivilisten, darunter viele Kinder und Jugendliche, im Bombenhagel und der Feuersbrunst den Tod.

Weder Klein noch andere Offiziere wurden wegen des Massakers belangt. Die Bundesanwaltschaft stellte 2010 alle Ermittlungen ein. Klein wurde 2013 zum Brigadegeneral und zum Abteilungsleiter im Personalmanagement befördert, das für die Rekrutierung und Führung von Soldaten zuständig ist. Die Angehörigen der Opfer wurden von der Bundesregierung mit Almosen von 5000 Euro abgespeist, Klagen schmetterten die Gerichte ab.

Auch der Militarismus im Innern, der in der Weimarer Republik eine derart verheerende Rolle spielte, wurde mithilfe des Afghanistankriegs gestärkt. Das reicht von Soldaten im Straßenbild, die umsonst Bahn fahren dürfen, wenn sie Uniform tragen, über die Entwicklung eines Opferkults bis zum Aufbau faschistischer und terroristischer Netzwerke.

Die konservative Presse bemüht sich sogar, wieder eine Art Dolchstoßlegende zu basteln. So empörte sich das Boulevard-Blatt Bild, dass Bundespräsident Steinmeier, Bundestagspräsident Schäuble, Kanzlerin Merkel und Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer nicht persönlich Spalier standen, als die letzten Soldaten aus Afghanistan zurückkehrten. Dies sei „respektlos, würdelos, achtungslos“.

Während hunderte afghanische Übersetzer und Mitarbeiter der deutschen Truppen zurückgelassen wurden und nun um ihr Leben fürchten, flog die Bundeswehr mit großem Aufwand einen 27 Tonnen schweren Gedenkstein für gefallene Soldaten aus, der nun in der Henning-von-Tresckow-Kaserne in Schwielowsee in einem „Wald der Erinnerung“ wieder aufgebaut wird. Dies sei „ein wichtiger Schritt für die Erinnerungskultur der Streitkräfte“, kommentierte ein zuständiger Offizier.

Vor allem die umfassenden rechtsterroristischen Netzwerke im Militär- und Staatsapparat sind untrennbar mit dem Afghanistaneinsatz verbunden. So war Hauptfeldwebel André S. alias Hannibal acht Jahre lang Mitglied des Kommandos Spezialkräfte (KSK), das in Afghanistan weitgehend verdeckt operierte, gemeinsam mit amerikanischen Spezialkräften politische Gegner jagte und tötete und selbst stark von Verlusten betroffen war.

Hannibal, der auch für den Militärischen Abschirmdienst arbeitete, hat über mehrere Chatgruppen und den von ihm gegründeten Verein Uniter ein bundesweites Netzwerk aufgebaut, dem Reservisten, Beamte der Kriminalpolizei, Angehörige von Spezialeinsatzkommandos (SEKs), Richter, Mitarbeiter des Verfassungsschutzes und anderer deutscher Sicherheitsbehörden angehören. Es hat Waffenlager angelegt, Schießübungen organisiert und Listen von politischen Feinden erstellt, die an einem Tag X getötet werden sollten. Trotzdem wurde Hannibal weder vorzeitig aus der Bundeswehr entlassen noch inhaftiert.

Hannibal ist nur einer von mehreren bekannten Rechtsextremen innerhalb des KSK. Der Nazi-Kult innerhalb der Spezialeinheit nahm derart gravierende Formen an, dass sich die Verteidigungsministerin 2020 gezwungen sah, eine von vier Kompanien aufzulösen und zweimal den Kommandeur auszuwechseln. Nun wird der Verband von General Ansgar Meyer geführt, der als letzter deutscher Soldat Afghanistan verließ.

Alle politischen Parteien sind entschlossen, auf dem in Afghanistan Erreichten aufzubauen. Bereits 2014 unternahm die Große Koalition einen weiteren Anlauf, den deutschen Militarismus zu stärken. Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der 2001 als Kanzleramtschef vermutlich bereits Schröders Kriegsrede geschrieben hatte, kündigte beinahe wortgleich eine größere militärische Rolle in der Weltpolitik an. Seither sind die Militärausgaben massiv gestiegen – von 32 über 50 Milliarden Euro – und Steinmeier ist Bundespräsident.

Wenn die etablierten Parteien aus dem Afghanistaneinsatz eine Lehre gezogen haben, dann lautet sie, dass man imperialistische Militäreinsätze künftig nicht mehr mit heuchlerischen Phrasen über Brunnenbohren, Demokratieaufbau und Frauenrechte kaschieren sollte.

Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer zog am Mittwoch in den Tagesthemen aus dem Afghanistan-Einsatz die Lehre, dass man mit Blick auf andere internationale Einsätze sehr genau darüber nachdenken müsse, was realistische politische Ziele seien. Es sei ein Fehler gewesen, den Eindruck zu vermitteln, man könne aus Afghanistan schnell einen Staat nach europäischem Vorbild machen. „Diesen Fehler dürfen wir mit Blick auf andere internationale Einsätze, etwa in der Sahelzone, etwa in Mali, nicht wiederholen.“

Die kommende Bundesregierung wird – unabhängig von ihrer Zusammensetzung – die militaristische Offensive verschärfen. Das haben alle Parteien – von der AfD bis zu den Grünen – in ihren Wahlprogrammen klar gemacht. Auch die Linkspartei hat immer wieder erklärt, dass ihre gelegentlichen Bundeswehr-kritischen Phrasen kein Hindernis darstellen, mit den Kriegsparteien SPD und Grüne eine gemeinsame Regierung zu bilden.

Ihr verteidigungspolitischer Sprecher Tobias Pflüger kommentierte den Afghanistan-Abzug mit den Worten: „Wenn man sich die Begründungen von Gerhard Schröder und Joschka Fischer von 2001 durchliest, wird offensichtlich, dass die Bundeswehr-Einsätze ihr angebliches Ziel nicht erreicht haben.“ Als wäre nicht schon damals klar gewesen, welches Ziel Schröder und Fischer mit dem Afghanistan-Krieg verfolgten.

Letztlich ist es die unlösbare globale Krise des Kapitalismus, die die imperialistischen Mächte wie 1914 und 1939 wieder zu Militarismus und Krieg treibt. Die USA bereiten intensiv eine militärische Konfrontation mit China vor, und weder Deutschland noch die anderen europäischen Mächte wollen dabei abseitsstehen.

Die Sozialistische Gleichheitspartei vertritt in der Bundestagswahl als einzige Partei ein Programm, das den Kampf gegen Militarismus und Krieg mit einer sozialistischen Perspektive verbindet. Sie tritt für die Mobilisierung der internationalen Arbeiterklasse für den Sturz des Kapitalismus ein.

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