Hommage an Jean Brust

Am 31. August 2021 wäre die amerikanische Trotzkistin Jean Brust 100 Jahre alt geworden. Mit ihrem Ehemann Bill Brust gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern der Workers League, der Vorläuferin der Socialist Equality Party (USA). Gemeinsam kämpften sie ein Leben lang für den Aufbau der Vierten Internationale.

Die nachfolgende Rede hielt David North, der nationale Vorsitzende der Socialist Equality Party (USA), am 17. Mai 1998 auf einer Gedenkveranstaltung für Jean Brust in Minneapolis, die im November 1997 mit 76 Jahren gestorben war. Die Rede ist Teil der Themenseite, die die englischsprachge WSWS aus Anlass ihres 100. Geburtstags eingerichtet hat.

Jean in Minneapolis im Juli 1991 (WSWS Media)

Es ist vielleicht klug, daß wir ein halbes Jahr gewartet haben, ehe wir diese Gedenkveranstaltung abhalten, um das Leben von Jean Brust zu würdigen. Das liegt nicht nur daran, daß es ein schlimmer politischer Fehler wäre, vor dem Jean mich oft gewarnt hat, in den Zwillingsstädten [Minneapolis–St.Paul] irgendeine größere öffentliche Veranstaltung im Winter anzusetzen. Nein, wir alle haben die letzten sechs Monate gebraucht, um die Tatsache zu akzeptieren, dass Jean nicht mehr lebt.

Wir alle wussten, dass Jean geschwächt war. Leos Tod [ihres Sohnes] hatte ihr einen Schlag versetzt, von dem sich Jean nie wirklich erholte. Und ihr letzter Besuch in Michigan im Spätsommer des vergangenen Jahres hatte auch wirklich etwas von einem Abschied. Als ich sie fotografierte, sagte sie, dies werde wohl ein Erinnerungsfoto werden. Drei Monate später war Jean nicht mehr da. Und doch war es für uns alle schwer zu akzeptieren, dass sie nicht mehr bei uns war. Unsere Partei ohne Jean? Das war schwer vorstellbar, war sie doch die Verkörperung unserer Geschichte, die direkte Verbindung zu den Pionieren der amerikanischen trotzkistischen Bewegung – und über sie zum „Alten“ [Trotzki] selbst.

Jean hatte große Klassenschlachten und erbitterte politische Fraktionskämpfe miterlebt, sie war die Stimme der Erfahrung. Und vor allem war sie das moralische Zentrum unserer Bewegung. Wenn sie sich zu Wort meldete – sei es auf einem Vorstandstreffen, einem Parteitag oder einer öffentlichen Versammlung – heischten ihre Worte sofortige Aufmerksamkeit und unbestreitbaren Respekt. In ihrem Auftreten oder ihren Worten war keine Spur von Verstellung oder Affektiertheit. Jean Brust war eine echte Persönlichkeit.

Jean war sich ihres Einflusses innerhalb der Partei nie ganz bewusst. „Ich bin nicht sehr theoretisch“, sagte sie oft – als wolle sie damit sagen, dass ihr Beitrag zur sozialistischen Bewegung nichts Besonderes sei. Aber wir, die wir der jüngeren Generation angehörten, sahen Jean nicht so. Für uns verkörperte sie Mut, Überzeugung, Ehrlichkeit, Hingabe und Idealismus. Ungeachtet der Wärme und Sanftheit, die sie im Überfluss ausstrahlte, ist das Wort, das mir in den Sinn kommt, wenn ich an Jean denke: unbeugsam. Sechzig ihrer 76 Lebensjahre waren dem Kampf für den Sozialismus gewidmet, mit andern Worten, ihr gesamtes Erwachsenenleben war von Ideen und Idealen geprägt. Bei allen historischen Ereignissen, die sie miterlebt und an denen sie im Laufe ihres Lebens teilgenommen hatte, blieb Jean ihren sozialistischen, marxistischen, revolutionären und zutiefst demokratischen und humanen Überzeugungen unerschütterlich treu.

Die Geschichte von Jeans Leben zu erzählen, würde einen Rückblick auf die Geschichte der letzten zwei Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts erfordern. Jean schloss sich der sozialistischen Bewegung vor dem Hintergrund des spanischen Bürgerkriegs an, als der Faschismus sich in Europa ausbreitete, die alten Bolschewiki in der Sowjetunion von Stalin ermordet wurden und der Zweite Weltkrieg herannahte. In den Vereinigten Staaten führte die Arbeiterklasse ausgedehnte und erbitterte Kämpfe gegen die Tyrannei der mächtigsten und skrupellosesten Konzerne der Welt. Diese Ereignisse gaben den politischen, intellektuellen und moralischen Anstoß für Jeans Entscheidung, sich der revolutionären sozialistischen Bewegung anzuschließen. Aber wie ist es zu erklären, dass sie ihre revolutionären Überzeugungen über so viele Jahrzehnte hinweg, und angesichts so vieler Zwänge, aufrechterhalten konnte?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst das Wesen der Ideen betrachten, denen sie ihr Leben widmete. In den 1930er Jahren war es nicht ungewöhnlich, Sozialist zu sein. Aber Jean wurde eine Sozialistin eines ganz besonderen Typs: Sie wurde Trotzkistin, d. h. sie schloss sich einer Minderheit innerhalb einer Minderheit an. Wie Jean oft bemerkte, hatte sie das Glück, in einer Stadt aufzuwachsen, in der Leo Trotzkis Gesinnungsgenossen eine große Anhängerschaft in der Arbeiterklasse hatten.

Jean schloss sich der trotzkistischen Bewegung an, weil sie für deren Programm und Perspektive gewonnen werden konnte. Das heißt, sie war von der Richtigkeit von Trotzkis Kritik am Stalinismus und seiner Anprangerung des Verrats der Sowjetbürokratie an der Oktoberrevolution und am internationalen Sozialismus überzeugt. Dass Jean inmitten der politischen Umwälzungen ihres Lebens politisch Kurs halten konnte, zeugt von der Kraft der historischen Perspektive, auf die Trotzki die Vierte Internationale gründete.

Nichts trug zur Desorientierung und Demoralisierung zehntausender amerikanischer Radikaler und Sozialisten mehr bei als der Stalinismus. Wenn Jean die verwirrenden Schmerzen der Reue, der Demütigung und der Desillusionierung erspart geblieben sind, die so viele erlitten, die den Sozialismus mit den Manövern der Kreml-Gangster gleichgesetzt hatten, dann deshalb, weil sie sich niemals Illusionen über die Politik der Sowjetbürokratie gemacht hatte.

Jeans politische Entwicklung weist noch einen weiteren Aspekt auf, den man verstehen muss. Sie glaubte fest an die revolutionären Fähigkeiten der amerikanischen Arbeiterklasse. Jean machte sich nichts vor; sie las in keine Situation etwas hinein, was nicht da war. Aber sie erinnerte sich oft an die Erfahrungen der großen Streikbewegung nach dem Weltkrieg. In politischer Hinsicht entwickelte sich die Situation, wie sich später herausstellen sollte, gegen die revolutionäre Bewegung. Aber für eine kurze Zeit zeigte die Arbeiterklasse eine immense Fähigkeit zum Kampf und zum Opfermut. Jean erinnerte sich daran, wie die Arbeiter sie einmal, inmitten eines besonders erbitterten Streiks, nach vorne drängten und sie geradezu aufforderten, die Führung zu übernehmen. Diese Bewegung wurde zwar durch das gemeinsame Bemühen der Demokratischen Partei, der CIO-Bürokratie und der Stalinisten verraten und zurückgeschlagen, aber Jean war zeitlebens fest davon überzeugt, dass das vielversprechende Potenzial, das sich einmal, wenn auch nur kurz, gezeigt hatte, unter anderen historischen Bedingungen erneut zum Ausdruck kommen werde.

Ein weiterer Faktor für Jeans erstaunliche politische Beständigkeit war zweifelsohne ihre Beziehung zu Bill Brust. Das war eine wunderbare politische, intellektuelle und emotionale Partnerschaft. Sie schufen um sich herum und in ihrer Familie ein reiches Umfeld aus Ideen, Prinzipien und Liebe. Innerhalb der Partei sprachen wir im Allgemeinen von den Brusts – sozusagen in Anerkennung ihrer kollektiven Präsenz als eigenständige und besondere politische Institution.

Im Januar dieses Jahres haben unsere australischen Genossen während einer Vortragsreihe des Internationalen Komitees in Sydney eine Fotoausstellung präsentiert, die Jean in verschiedenen Phasen ihres Lebens zeigte. Beim Betrachten der Fotos, die sich über mehr als 70 Jahre erstreckten, fiel mir auf, wie sehr ihre Züge als Jugendliche auch noch auf den zuletzt erstellten Fotos erkennbar waren. Dies ist vielleicht darauf zurückzuführen, dass ihr gesamtes Leben ein zusammenhängendes Ganzes war. Jede Episode ihres Lebens gehörte einem bestimmten Kapitel an, und jedes Kapitel war ein nachvollziehbares und notwendiges Glied in einer größeren kunstvollen Struktur.

Wenn Jean auf ihr Leben zurückblickte, wünschte sie sich vielleicht – wie wir alle – dies und jenes anders gemacht zu haben. Aber selbst wenn Jean die Möglichkeit dazu bekommen hätte, wäre der grundlegende Verlauf ihres Lebens derselbe geblieben. Im Laufe eines Dreivierteljahrhunderts blieb sie ihren Freunden, ihrer Familie, ihren Genossen und ihren Überzeugungen treu. Diejenigen von uns, die das Privileg hatten, Jean, Bill und natürlich Leo gekannt zu haben, werden sie niemals vergessen.

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