Ahrtal zwei Monate nach der Flut: „Man hätte viele Menschenleben retten können, aber es wurde nicht gemacht“

Zwei Monate nach der verheerenden Flutkatastrophe, die Mitte Juli in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen über 180 und in Belgien über 40 Todesopfer forderte, besuchte ein Team der World Socialist Web Site erneut das Ahrtal und sprach mit Betroffenen über ihre Erfahrungen. Mit offiziell bestätigten 133 Toten hat es in Rheinland-Pfalz die meisten Opfer gegeben, vor allem im Landkreis Ahrweiler.

Hochwasserschäden im Ahrtal (Bild WSWS)

Ein Video-Team der WSWS hatte bereits wenige Tage nach der Flut in Ahrweiler mit den Betroffenen gesprochen. Seine Reportage „Die hätten ab 5 Uhr durchfahren können: Dann hätten wir hier keine Toten!“ wurde bisher über 275.000 Mal angesehen.

Diesmal sprachen wir mit Anna, die einen Naturhof in Walporzheim betreibt und dort Ferienfreizeiten für Kinder und Reitstunden organisiert. Sie ist Mutter von einem fünfjährigen Sohn und einer sechs Wochen alten Tochter. Sie habe „keine Erwartungen an Regierung oder Landesregierung, dass sie einem helfen,“ sagt sie. „Man war darauf angewiesen, was man selbst gemacht hat, und auf Helfer, die mit anpacken.“

Anna

Haus und Grundstück von Anna liegen etwas erhöht und auf der gegenüberliegenden Seite der Ahr. Die Brücke, die von Walporzheim zu ihrem Haus führt, wurde durch das Hochwasser zerstört, so dass jeder Zugang abgeschnitten war. Eine Behelfsbrücke wurde erst vor Kurzem errichtet.

„Die ersten Tage waren die Dörfer abgeschnitten,“ berichtet Anna. „Nach uns hat erst fünf Tage nach der Katastrophe jemand gesehen. Wir haben es nur der Initiative meines Mannes zu verdanken, dass wir schon vorher wieder Kontakt zur Außenwelt aufnehmen konnten.

Man war ja zunächst fassungslos angesichts der Höhe des Wasserstands. Damit hat keiner gerechnet. Es gab 1910 schon einmal ein Jahrhunderthochwasser und Hochwasser in den letzten Jahren. Hätte man daraus lernen können? Ich denke ja. Hätte man Schutzmaßnahmen treffen können? Ja.

Ein junges Mädchen ist gestorben, weil ihr ein Feuerwehrmann sagte, sie solle ihr Auto aus der Tiefgarage holen. Sie ist ertrunken. Sie haben nicht damit gerechnet, dass das Wasser so schnell und mit solcher Wucht kommt.

Ich habe gehört, dass wichtige Personen aus der Politik schon drei Tage vorher evakuiert worden sind. Man hätte evakuieren können, aber das traute sich keiner. Das hätte viele Menschenleben retten können, aber es ist nicht gemacht worden. Das zeigt, dass wir in einer Zwei-Klassengesellschaft leben.

Die Panik kam am Tag der Katastrophe. Leute standen stundenlang auf dem Dach ihrer Häuser und haben auf Rettung gewartet. Einige sind mit dem Dach weggeschwommen und ertrunken.“

Anna berichtete auch, dass die zwölf Menschen mit Behinderungen, die im Haus der Lebenshilfe in Sinzig ertrunken sind, zum Reiten auf ihren Naturhof gekommen waren und eigentlich wenige Tage nach der Katastrophe wieder kommen wollten. Der Pfleger, der in dieser Nacht Dienst hatte und nicht in das Haus kam, um die Betroffenen zu retten, habe danach Suizid begangen. „Aber es war nicht seine Schuld“, betonte Anna. Die Behörden hätten das gesamte Gebiet früher evakuieren müssen.

Ein älterer Bewohner berichtete, dass er sieben Wochen keinen Strom und kein Wasser hatte. Telefon und Internet waren sogar acht Wochen außer Betrieb.

In Walporzheim sprach das WSWS-Team mit mehreren freiwilligen Helfern, die sich teils seit Wochen, teils einige Tage oder am Wochenende in der Region aufhalten. Sie helfen, die schlimmsten Auswirkungen des Hochwassers zu beseitigen und einige Grundfunktionen für das Leben sicherzustellen. So gibt es ein Zelt, in dem Essen zubereitet wird, da viele Haushalte wochenlang keinen Strom und kein Wasser hatten. In vielen Wohnungen sind Küchen und Wohnräume nach wie vor nicht in einen Zustand versetzt worden, der die eigene Versorgung möglich macht.

Hans-Peter, ein pensionierter Verwaltungsangestellter, ist bei der Initiative FormulAhr engagiert, die den Betroffenen bei den Anträgen auf Soforthilfe half. Die Soforthilfe für die zahlreichen Flutopfer in NRW und Rheinland-Pfalz belief sich auf insgesamt 400 Millionen Euro.

Hans-Peter

Ein Haushaltsvorstand erhielt 1000 Euro, jedes weitere Haushaltsmitglied 500 Euro, insgesamt einmalig höchstens 2500 Euro. Dieser Betrag ist angesichts der Zerstörungen ein Tropfen auf den heißen Stein. Es stellt sich die Frage, wovon Betroffene, die fast alles verloren haben, die Zeit überbrücken sollen, bis die Antragsbedingungen für die Hilfen aus dem 30 Milliarden-Euro-Paket der Bundes- und Landesregierungen ausgearbeitet sind. Gelder aus diesem Paket zu erhalten wird auf jeden Fall schwieriger. Fraglich ist auch, ob und wann es wirklich bei den Betroffenen ankommt.

Immer wieder berichten Betroffene, dass die hohe Todeszahl nicht hätte sein müssen. Da hätte man gegensteuern können. Das Wasser kam schnell wie eine Flutwelle. Wer im Keller wohnte oder sein Auto aus der Tiefgarage holte, kam ums Leben. Aber von Warnungen von Seiten der Behörden gab es keine Spur, oder sie kamen viel zu spät.

Fast jeder, mit dem wir sprachen, lobte den Zusammenhalt zwischen den Menschen und die Hilfe, die nach der Schreckensnacht aus dem ganzen Land kam. Freiwillige Helfer halfen Schlamm schleppen, sauber machen und wiederaufbauen. Viele Firmen und Handwerker unterstützen die Bewohner des Ahrtals. Dazu gehört auch der Tischler Christoph Heffels, der mit Kollegen schon zum dritten Mal in Walporzheim ist, um in verschiedenen Haushalten mit Schreinerarbeiten zu helfen.

Christoph

Ein freiwilliger Helfer aus der Region Emden/Aurich in Ostfriesland hat eine Woche im Baustoffzelt mitgeholfen. Er sagt, dass er auf jeden Fall wiederkommen und dann möglichst in einer Familie mithelfen möchte. „Die Bewohner sind angewiesen auf freiwillige Helfer. Die Anwohner fühlen sich schon etwas im Stich gelassen. THW und Rotes Kreuz waren zwar auch inzwischen da, aber die Probleme gehen ja weiter. Eine zentrale Organisation der Hilfe wäre natürlich effektiver.“

In dem kleinen Ort Mayschoss an der Ahr führt uns Wilfried von der Winzergenossenschaft Mayschoss-Altenahr durch den Ort, in dem es riesige Schäden gab. Zwei Metzgereien und Bäckereien wurden durch die Flut zerstört sowie zahlreiche Häuser, die sich näher an der Ahr befanden. Mitten im Ort befindet sich ein Ernährungszelt, das seit acht Wochen für die Versorgung der Leute sorgt, die noch nicht kochen können, weil sie keinen Strom oder kein Wasser haben.

„Die Leute leben von der Substanz und teilweise von Spenden“, sagt uns Wilfried. „Sonst kommt ja nicht viel.“ Eine Anspielung auf die staatlichen Behörden. „Eine ganze Reihe von Häusern in der Nähe der Ahr sind nicht mehr da oder nicht mehr bewohnbar. Einige sind schon abgerissen. Viele kleine Firmen haben keine Räumlichkeiten mehr. Mir ist nicht bekannt, wo Leute, die hier gewohnt haben, untergekommen sind. Mein Elternhaus ist auch weg. Das stand da, wo jetzt der große Container steht.

Wilfried

Ich bin jetzt 61 Jahre alt und habe mein ganzes Leben in Mayschoss verbracht und auch viele Hochwasser erlebt. Das Wasser stand dann meistens im Keller und auf der Straße. Die Höhe des Hochwassers 2016 betrug nur die Hälfte von dem jetzigen. Bei dem Hochwasser 1910 kam das Wasser bis ins Erdgeschoss. Aber jetzt stand es bis zum ersten, teilweise zweiten Stock. An einer Stelle spülen freiwillige Helfer Weinflaschen, die durch die Flut beschmutzt worden sind. Das machen sie bereits seit sieben Wochen.

Die Winzergenossenschaft Mayschoss-Altenahr wurde 1868 gegründet und ist die älteste Winzergenossenschaft der Welt. Von der Winzergenossenschaft leben in Mayschoss mindestens 100 Familien. Wie es damit weitergeht, ist momentan auch noch nicht abzusehen.“

Wilfried zeigte auf ein Haus, wo in der Flutnacht Arbeiter die Nacht über in der zweiten Etage ausgeharrt hatten. Sie wurden dabei Zeugen, wie eine Frau, die sich am Dach eines Hauses festklammerte, vom Wasser fortgerissen wurde. Sie konnte sich im Fluss dann noch an einem Rebstock oder etwas Ähnlichem festhalten und ist gerettet worden.

Zum Abschluss des Rundgangs standen wir auf einer Brücke über die Ahr. Wilfried: „Das ist eine von fünf bis sechs Brücken, die an der gesamten Ahr stehen geblieben sind.“ Insgesamt wurden im Ahrtal mehr als 60 Brücken durch das Hochwasser zerstört. „Aus dem ganzen Gestrüpp, was sich auf der Brücke gesammelt hat, hat man sieben Tote herausgefischt. Das ist schon brutal.“

Wilfried beklagte sich, dass es schwierig sei, bei offiziellen Stellen Termine zu bekommen, um zu erfahren, wie es in der nächsten Zeit weitergehen soll. „Bisher gibt es keinen Plan von Gemeinde/Kreis oder Land. In Mayschoss wie in vielen anderen Orten ist alles, was bisher an Arbeit geleistet worden ist, von Freiwilligen und professionellen Helfern getan worden. Ich erwarte nichts von den Behörden und auch nichts von der Bundestagswahl.

Das Aufräumen und den Wiederaufbau, das müssen wir selbst in die Hand nehmen. Im Oberdorf hatten wir nach zehn Tagen wieder Strom und nach ca. zehn bis vierzehn Tagen Wasser. Zum Glück haben wir hier einen guten örtlichen Krisenstab, so dass wir nach einer Woche eine Ausweichstrecke errichtet hatten, über die man nach Mayschoss rein und raus kommt. Die bisherige Straße ist ja stark beschädigt und nur mit starken Einschränkungen befahrbar, und das auch noch nicht lange.“

Während die Menschen im Ahrtal mit enormen Problemen und Herausforderungen zu kämpfen haben und viele auch durch die dramatischen Erfahrungen und den Verlust von Angehörigen, Nachbarn, Freunden und Bekannten traumatisiert sind, hört und sieht man von den staatlichen Behörden wenig oder nichts.

Die WSWS hat bereits in früheren Artikeln und Statements aufgezeigt, dass die Katastrophe kein unvermeidliches Naturereignis war. Dass die Flut so viele Menschen getötet und solch verheerende Schäden angerichtet hat, ist eine direkte Folge der Untätigkeit der Regierungen auf Bundes- und Landesebene.

Als die Menschen von den tödlichen Wassermassen überrascht wurden, waren Regierungen und Behörden längst gewarnt. Doch sie blieben untätig und weigerten sich, Evakuierungen und Schutzmaßnahmen einzuleiten. Sie informierten die Bevölkerung nicht einmal über die heraufziehende Gefahr.

Dieses Vorgehen der kapitalistischen Politiker entlarvt den Bankrott des Kapitalismus, der im Interesse der Wirtschaft und der Profitinteressen buchstäblich über Leichen geht. Dies zeigt sich auch dramatisch anhand der Corona-Pandemie, wo allein in Deutschland bisher aufgrund der Profite-vor-Leben-Politik 93.000 Menschen gestorben sind.

Die gleiche kriminell gleichgültige Haltung zeigte sich auch vor, während und nach der Flutkatastrophe. Unterstützung für die betroffene Bevölkerung, Aufräum- und Wiederaufbauarbeiten werden weitgehend den Betroffenen selbst, den freiwilligen Helfern und privaten Unternehmen überlassen. Auch neun Wochen nach der Flut ist von koordinierten Hilfs- und Wiederaufbaumaßnahmen und massiver Unterstützung der betroffenen Bevölkerung durch die offizielle Politik nichts zu sehen.

Loading