Gorillas-Rider protestieren gegen rechtswidrige Massenentlassungen

Am Mittwoch fand ein Protest von Fahrern und Beschäftigten des Lieferdiensts Gorillas vor der Firmenzentrale in Berlin statt. Insgesamt kamen mehr als hundert Rider – wie die Fahrer genannt werden – und Unterstützer zusammen, um lautstark für bessere Arbeitsbedingungen und die Wiedereinstellung zahlreicher Kollegen zu demonstrieren.

Protest vor dem Gorillas-Hauptquartier in Berlin (Foto: WSWS)

Das milliardenschwere Start-Up hatte am Dienstag allen Beschäftigten gekündigt, die sich am Wochenende an Arbeitsniederlegungen beteiligt haben. Am Freitag und Samstag hatten Gorillas-Fahrradkuriere gegen üble Ausbeutungsverhältnisse gestreikt und mehrere Lagerhäuser lahmgelegt. Wie vielen Mitarbeitern die Kündigung per Brief oder Telefon ausgesprochen wurde, ist nach wie vor unklar. Unterschiedlichen Berichten zufolge reicht die Spanne von einem Dutzend bis zu mehreren Hundert.

In jedem Fall handelt es sich um einen massiven Angriff auf das Streikrecht, der weit über den Lieferdienst Gorillas hinausreicht. Weltweit holt die herrschende Klasse zu einem Generalangriff auf Arbeitsbedingungen und Löhne aus.

In Deutschland bereiten SPD, FDP und Grünen eine neue Regierung vor, deren zentrale Aufgabe es sein wird, die Schuldenbremse durchzusetzen und die hunderten Milliarden Euro, die im Zuge der der sogenannten Corona-Rettungspakete an die Banken und Konzerne geflossen sind, wieder bei den Arbeitern einzutreiben. In der Industrie stehen nach der Wahl Massenentlassungen und ganze Werksschließungen an und die Bosse fordern von den Arbeitern – in den Worten von Ford-Deutschland-Chef Gunnar Herrmann – „gigantische Flexibilität“

Die Botschaft, die mit den massenhaften Kündigungen bei Gorillas ausgesandt wird, ist klar: jeder, der nicht bereit ist, sklavereiähnliche Ausbeutungsbedingungen zu akzeptieren, muss mit harten Konsequenzen rechnen.

Das Management des Unternehmens macht keinen Hehl daraus, dass die Entlassungen eine Bestrafung für die Streiks sind. Ein Sprecher des Unternehmens teilte am Dienstagabend mit:

Solche unangekündigten und gewerkschaftlich nicht getragenen Streiks sind rechtlich unzulässig. Nach intensiver Abwägung sehen wir uns gezwungen, diesen rechtlichen Rahmen nun durchzusetzen. Das bedeutet, dass wir das Arbeitsverhältnis mit denjenigen MitarbeiterInnen beenden, die sich aktiv an den nicht genehmigten Streiks und Blockaden beteiligt, den Betrieb durch ihr Verhalten behindert und ihre KollegInnen damit gefährdet haben.

Die Kaltschnäuzigkeit und Aggressivität des milliardenschweren Unternehmens ist atemberaubend. Nicht die streikenden Arbeiter, die für faire und sichere Arbeitsbedingungen kämpfen, gefährden die Kollegen, sondern das Management.

Sklavereiähnliche Ausbeutung

Auf der Demonstration berichteten zahlreiche Riders über die völlig unhaltbaren Arbeitsbedingungen bei Gorillas und das brutale Vorgehen des Unternehmens.

Blockierter Eingang des Gorillas-Hauptquartiers in der Schönhauser Allee 180 in Berlin (Foto: WSWS)

Ein 21-jähriger Gorillas-Rider, der aus Angst vor Repressalien anonym bleiben will, berichtet, dass die Streiks am Freitag im Bergmannkiez in Neukölln begonnen hätten und sich dann schnell auf die Warenhäuser in Schöneberg und Mitte ausgeweitet hätten. Am Samstag sei dann auch noch das Warenhaus Gesundbrunnen bestreikt worden. Am Dienstag habe das Unternehmen dann den „krassen Angriff auf die Beschäftigten“ geführt.

Alle Leute, die gestreikt haben und keinen Kündigungsschutz haben, wurden fristlos gekündigt. Einige per Schreiben und einige per Telefon. Das ist natürlich völlig rechtswidrig. Deshalb machen wir einen Protest gegen die Arbeitsbedingungen und gegen die Aktion von Seiten der Firma. Wir fordern die Wiedereinstellung der Gekündigten.

Bereits im Frühjahr und Sommer war es immer wieder zu Streiks bei Gorillas gekommen. Der 21-jährige Rider berichtet, dass sich die Arbeitsbedingungen seitdem sogar noch verschlechtert hätten.

Die Schichtzeiten werden jetzt durch den Computer herausgegeben. Dementsprechend sind die Schichtzeiten extrem kurz. Ich habe einen 30-Stunden-Vertrag und arbeite sechs Tage die Woche. Vier Tage zuvor – das gesetzliche Minimum – bekommt man seine Schicht mitgeteilt. Man kann die Freizeit nicht mehr planen, da man nie weiß, wann und wo man arbeiten muss.

Dann beschreibt er die extreme Arbeitsbelastung während einer Schicht:

Wir haben sechs Bestellungen in einem Rucksack und das immer wieder. Man kann den Rucksack teilweise gar nicht mehr zu machen, weil er überladen ist, und muss trotzdem alles ausliefern. Keine Ahnung, wie schwer der Rucksack manchmal ist, vielleicht 40 Kilo. Man bekommt ihn kaum mehr auf den Rücken. Und das die ganze Schicht über 8 Stunden lang.

Auch in Bezug auf die Pandemie würde es so gut wie keine Sicherheitsmaßnahmen geben. „Die Desinfektionsspender sind in der Regel leer und um Masken muss man regelrecht betteln“.

Camilo (Foto: WSWS)

Ein weiterer Rider, Camilo, berichtet, dass Arbeiter ihren Hungerlohn von 10,50 Euro pro Stunde oft verspätet oder unvollständig erhalten.

Das ist ein Problem, das seit den Anfängen besteht. Ich arbeite nun schon seit einem Jahr bei Gorillas und jeden Monat gibt es Probleme mit den Gehältern. Es gibt keine regelmäßige Bezahlung und oft bekommen die Leute nur 100 oder 200 Euro, obwohl sie zum Beispiel 1000 Euro bekommen müssten. Das bedeutet, dass viele Arbeiter ohne Gehalt dastehen und trotzdem ihre Miete usw. bezahlen müssen.

Camilo weist auch auf die generell schlechten Zustände der Fahrräder hin, mit potentiell tödlichen Folgen.

In den Lagern ist niemand dafür verantwortlich, dass die Fahrräder in gutem Zustand sind. Es kommt sehr oft vor, dass Arbeiter mit ihrem Fahrrad fahren und zum Beispiel der Sitz herunterfällt oder etwas kaputt geht, was zu Unfällen führt. Unfälle sind in diesem Unternehmen sehr häufig. Das hat auch mit dem Modell des Unternehmens zu tun, das verspricht, innerhalb von zehn Minuten zu liefern. Es hat sehr schwere Unfälle gegeben. Menschen mit gebrochenen Gliedern, Menschen, die operiert werden mussten. Es gab sogar einen Fahrer, der fast gestorben wäre.

In der Bevölkerung gibt es breite Solidarität mit den Arbeitern. Alexander (36) hat sich extra frei genommen, um den Protest zu unterstützen. „Ich will ein Zeichen setzen, weil ich die Arbeitsbedingungen, unter denen die Menschen hier arbeiten, unmöglich finde“, sagt er. „Die Leute, die hier arbeiten sind völlig überarbeitet. Mit 20 Kilo auf dem Rücken 100 Kilometer am Tag umherzufahren ist unmöglich. Die Entlassungen haben für mich das Fass zum Überlaufen gebracht.“

Alexander (Foto: WSWS)

Alexander weist darauf hin, dass die Angriffe Teil einer umfassenderen politischen Entwicklung sind.

Arbeiterrechte werden seit längerem abgebaut und man probiert, sie immer weiter abzubauen. Viele Leute haben Wut und fühlen sich nicht mehr vertreten durch die Parteien. Die soziale Schere wird immer größer und das auf dem Rücken der Leute, die hier arbeiten. Selbst der Wohnungsmarkt wird durchkapitalisiert. Wie können wir noch ein gutes Leben führen in dieser Stadt ohne dass wir 80 Stunden in der Woche arbeiten? Dabei ist genug Geld da, aber man muss es anders verteilen, man muss es anders organisieren. Das ist lange überfällig.

Wie weiter im Kampf für bessere Arbeitsbedingungen und Löhne?

Der Kampf bei Gorillas wirft wichtige Fragen auf, mit denen die gesamte Arbeiterklasse konfrontiert ist. Welche Form der Organisation und welche politische Perspektive ist notwendig, um ausbeuterische Arbeitsverhältnisse wie sie bei Gorillas herrschen, zu bekämpfen und ein für allemal abzuschaffen?

Viele der protestierenden Arbeiter, darunter auch Camilo und sein Kollege, sind Mitglieder des „Gorillas Workers Collective“ (GWC), das sich Anfang des Jahres unabhängig von Verdi gegründet hat. Die Arbeiter haben die Erfahrung gemacht, dass die Gewerkschaft nicht nur nicht ihre Interessen vertritt, sondern ihren Kampf kontrollieren und unterdrücken will. „Als wir Kontakt mit Verdi aufgebaut haben, hat Verdi als eine Forderung an uns gestellt: keine wilden Streiks mehr durchzuführen. Sie wollten den Protest vereinnahmen. Dem stimmen wir natürlich nicht zu.“

Verdi und die Bundesregierung treten für die Bildung von Betriebsräten bei Gorillas und anderen Unternehmen der sogenannten „New Economy“ ein. Das Ziel, das sie damit verfolgen ist klar. Wie in anderen Bereichen soll ein von den Gewerkschaften und der Unternehmensleitung sanktionierter Betriebsrat die Arbeiter kontrollieren, deren Kämpfe unterdrücken und so verhindern, dass sie zum Ausgangspunkt für eine breitere Bewegung der Arbeiterklasse werden. Im Mai verabschiedete der Bundestag deshalb sogar ein „Betriebsrätemodernisierungsgesetz“, das die Gründung von Betriebsräten erleichtern soll.

Die Vertreter des GWC, mit denen die WSWS sprach, setzen sich ebenfalls für die Gründung eines Betriebsrats ein. Sie betonen jedoch, dass er unabhängig vom Management und Verdi sein müsse. „Was wir machen, ist nicht ein Betriebsrat, der zusammen mit der Firma arbeiten wird. Wir wollen das als Gegengewicht haben, aber wird sind selbst organisiert. Wir sind nicht von Verdi. Wir haben mit denen nicht so viel zu tun und wollen es auch nicht“, erklärt ein GWC-Vertreter. Dabei ist ihm die Beschränktheit und der potentiell arbeiterfeindliche Charakter der Betriebsratsperspektive durchaus bewusst. „Mit der Zeit wird sich der Betriebsrat trotzdem abtrennen“, meint er. „Und dann muss es wieder eine Revolution oder was auch immer geben.“

Die SGP und die WSWS haben schon in einem früheren Statement erklärt, warum der Fokus auf die Gründung eines Betriebsrats eine Sackgasse ist.

Betriebsräte dürfen nicht zu Arbeitskämpfen aufrufen und sind per Gesetz verpflichtet, sich für das ‚Betriebswohl‘ einzusetzen, vertrauensvoll mit dem Arbeitgeber zusammenzuarbeiten und alle Informationen geheim zu halten... Durch die Bildung eines Betriebsrats wird die Sklavenarbeit bei Gorillas nicht abgeschafft, sondern vertraglich geregelt und zementiert. Die Organisation von Streiks wird erschwert, denn während der Laufzeit von Tarifverträgen herrscht gesetzliche Friedenspflicht, also Streikverbot.“

Die aktuellen Massenentlassungen haben unterstrichen, dass das Gorillas-Management lediglich einen Betriebsrat akzeptieren wird, der seinen Interessen entspricht. Gleichzeitig deutet vieles darauf hin, dass der Vorstoß Teil einer umfassenderen Umstrukturierung des Unternehmens ist, um die Ausbeutung noch weiter zu forcieren. Laut einem Bericht der Süddeutschen Zeitung werden „unter den Gründern in der Berliner Start-up-Szene… Geschäftsmodelle diskutiert, die in den USA schon üblich sind: dass Agenturen die Fahrer nur noch an die Lieferanten ausleihen, damit die Personalkosten in der Bilanz weniger ins Gewicht fallen.“

Im August waren die Bemühungen von Gorillas gescheitert, einen Investitionsdeal über 400 Millionen US-Dollar mit dem größten US-amerikanischen On-Demand-Lieferservice Doordash abzuschließen. Medienberichten zufolge soll Doordash von Gorillas gefordert haben, seine Expansion in den USA vorerst zu stoppen und stattdessen daran zu arbeiten, die Verluste in den europäischen Märkten zu verringern.

Es ist offensichtlich, dass ein einzelner Betriebsrat nichts gegen die global agierenden Liefergiganten ausrichten kann, die sprichwörtlich auf dem Rücken der Arbeiter enorme Profite einfahren. Als Doordash am 9. Dezember 2020 inmitten der Pandemie in New York an die Börse ging, erzielte das Unternehmen einen Erlös von 3,4 Milliarden US-Dollar. Auch Gorillas, das erst im Juni 2020 mit ersten Auslieferungen begann, genießt mittlerweile den Status eines Start-Up-„Einhorns“ mit einer Marktbewertung von über einer Milliarde US-Dollar.

Der Kampf für Aktionskomitees und eine sozialistische Perspektive

Um die Angriffe des Unternehmens zurückzuschlagen, müssen die Rider in Berlin Verbindungen zu ihren Kollegen in ganz Deutschland und weltweit aufbauen. Gorillas beschäftigt laut eigenen Angaben mittlerweile etwa 10.000 Fahrer in 18 deutschen Städten – darunter Berlin, Hamburg, München, Köln, Frankfurt, Karlsruhe und Leipzig –, vier europäischen Ländern (England, Frankreich, Italien und Niederlande) und in New York City. Auch andere Lieferdienste wie Just Eat Takeaway/Lieferando sind mit mehreren tausenden Mitarbeitern global aktiv.

Auch andere Teile der Arbeiterklasse – wie die streikenden Pflegekräfte und Lehrer in Berlin – müssen kontaktiert und mobilisiert werden. Weltweit sind Arbeiter mit ähnlichen Angriffen der kapitalistischen Regierungen und transnationalen Konzerne konfrontiert und beginnen dagegen zu rebellieren. In den USA haben in der vergangenen Woche über 10.000 Arbeiter des Landtechnik-Riesen John Deere für Streik gestimmt. In Südafrika befinden sich seit Dienstag über 150.000 Stahl- und Metallarbeiter im Streik.

Die Sozialistische Gleichheitspartei und ihre Schwesterparteien der Vierten Internationale haben am 1. Mai zur Gründung der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees aufgerufen, um neue, unabhängige Kampforganisationen von Arbeitern in allen Branchen zu schaffen und die sich entwickelnden Kämpfe international zu vernetzen.

Diese so notwendige wie dringende Offensive wirft direkt die Frage einer sozialistischen Perspektive auf. Im Aufruf zur Gründung der Internationalen Arbeiterallianz heißt es:

Der Kampf gegen die Pandemie, gegen Krieg, Ungleichheit, Ausbeutung und Diktatur ist ein Kampf gegen die gesamte kapitalistische Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Die Arbeiter aller Länder müssen sich in einer gemeinsamen politischen Offensive zusammenschließen, um die Macht zu übernehmen, die Oligarchen zu enteignen und eine sozialistische Gesellschaft zu errichten, die auf einer rationalen, wissenschaftlichen und demokratischen Kontrolle der Produktion basiert, um den gesellschaftlichen Bedürfnissen und nicht dem privaten Profit zu dienen.

Wir rufen alle Gorillas-Arbeiter auf, diese Fragen sehr gründlich und ernsthaft mit uns zu diskutieren. Nur so kann der Kampf für die Wiedereinstellung der Kollegen und gute und sichere Arbeitsbedigungen erfolgreich geführt würden.

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