UN listet Kriegsverbrechen in Libyen auf und ignoriert deren Ursache

Am Donnerstag hat eine unabhängige Untersuchungsmission den Vereinten Nationen einen Bericht vorgelegt, in dem zahlreiche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Libyen aufgelistet werden, darunter Massenmorde, willkürliche Verhaftungen, systemische Folter und die Vertreibung von Hunderttausenden Menschen.

Libysche Sicherheitskräfte haben in den letzten Wochen Tausende von afrikanischen Flüchtlingen zusammengetrieben. (Twitter)

Der Bericht basierte auf Recherchen in Libyen, Tunesien und Italien und Interviews mit mehr als 150 Personen. Er räumt ein, dass die vom Westen unterstützte Regierung in Tripolis die Arbeit der Mission behindert hat.

Der Bericht konzentriert sich zwar auf Verbrechen aus den Jahren 2016 bis 2020, räumt aber gleich zu Anfang ein: „Seit dem Fall des Gaddafi-Regimes im Jahr 2011 hat der Zerfall des Staats und die Verbreitung von Waffen und Milizen, die um die Kontrolle über Territorien und Rohstoffe kämpfen, den libyschen Rechtsstaat stark geschwächt. Libyen wurde auch zum Schauplatz nahezu ununterbrochener bewaffneter Konflikte, die zu Verbrechen gegen die schwächsten Gruppen führten, darunter Frauen, Kinder, ethnische Minderheiten, Migranten, Asylsuchende und Binnenvertriebene.“

Allerdings erwähnt der Bericht nirgendwo, was dem Fall des Gaddafi-Regimes, dem Zerfall des libyschen Staats und der Gesellschaft und der daraus resultierenden Massengewalt vorausging: der mehr als siebenmonatige Angriffskrieg, den die USA und die Nato im März 2011 begonnen hatten.

Der Bericht geht auf den Ausbruch von Gewalt während der Schlacht um die Hauptstadt Tripolis 2019–2020 zwischen den beiden wichtigsten Fraktionen des Landes ein – zwischen der von der UN anerkannten Regierung der Nationalen Übereinkunft (GNA) in Tripolis, die von der Türkei, Katar und Italien sowie von islamistischen Milizen mit Tausenden von Söldnern aus Syrien unterstützt wird, und der rivalisierenden Regierung im Osten des Landes, die von der Libyschen Nationalarmee (LNA) des ehemaligen CIA-Mitarbeiters Khalifa Haftar verteidigt und von Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Russland und Frankreich unterstützt wird.

Der Vorsitzende der Untersuchungsmission Mohamed Auajjar erklärte: „Dutzende von Familien wurden durch Luftangriffe getötet. Die Zerstörung von Gesundheitseinrichtungen hat den Zugang zur Gesundheitsversorgung beeinträchtigt, und durch den Einsatz von Antipersonenminen in Wohngebieten durch Söldner wurden weitere Zivilisten getötet oder verwundet.“

Der Bericht macht besonders auf den Massenmord der Miliz Kaniyat aufmerksam, die in der Stadt Tarhuna südöstlich von Tripolis Hunderte von Zivilisten ermordet hat. Aus Massengräbern wurden Leichen geborgen, die an Händen und Beinen gefesselt, denen die Augen verbunden und die danach durch mehrere Schüsse getötet wurden. Die Miliz Kaniyat hat zu unterschiedlichen Zeiten des Konflikts sowohl an der Seite der GNA als auch der LNA gekämpft.

Laut dem Bericht sind willkürliche Inhaftierungen und Folter in Libyen weiterhin allgegenwärtig:

Die meisten dieser Gefangenen wurden niemals angeklagt, schuldig gesprochen oder nach einem fairen und öffentlichen Prozess zu einer Haftstrafe verurteilt. Viele werden in Einzelhaft gehalten, einige in offiziell nicht existenten Geheimgefängnissen, manchmal jahrelang ohne Aussicht auf Freilassung. Die Familien der Gefangenen erfahren nichts vom Schicksal ihrer Familienmitglieder. Folter ist ein fester Bestandteil des Gefängnissystems. Die Bedingungen der Haft sind geprägt von einem Mangel an Hygiene, angemessener Ernährung und medizinischer Versorgung; Kinder und Erwachsene werden nicht voneinander getrennt. Die Mission dokumentierte mehrere Todesfälle durch willkürliche Hinrichtungen, Folter, Verhungern, unhygienische Bedingungen und Verweigerung von medizinischer Behandlung. Sexuelle Gewalt ist allgegenwärtig, vor allem während der Verhöre, und sie nimmt viele Formen an, darunter Vergewaltigung, Androhung von Vergewaltigung oder erzwungener sexueller Missbrauch von anderen Insassen. Frauen sind besonders gefährdet, doch Beweise deuten darauf hin, dass auch Männer nicht vor sexueller Gewalt sicher sind.

Der Bericht erwähnt die Binnenvertreibung von Hunderttausenden Libyern, die sich keine sichere Existenz aufbauen können. Er erwähnt den Fall von Tawergha, wo etwa 40.000 Angehörige der gleichnamigen Ethnie im Jahr 2011 von islamistischen Milizen aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Diese Milizen stammten aus Misrata und wurden von der Nato durch Luftangriffe unterstützt. Auch ein Jahrzehnt später hat die Bevölkerung des Ortes keine Erlaubnis zur Rückkehr erhalten, der Ort selbst wurde von US-unterstützten Milizen zerstört.

Der Bericht dokumentiert außerdem umfangreiche Verbrechen gegen Flüchtlinge, von denen ein Großteil aus Subsahara-Afrika kommt, und die versuchen, von Libyen aus über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Die libysche Küstenwache (LCG), die von der Europäischen Union ausgebildet und finanziert wird, fängt Flüchtlingsboote auf „gewaltsame und rücksichtslose Weise ab, die zuweilen zu Todesfällen führt“. Weiter heißt es:

Es wird berichtet, dass die Küstenwache an Bord die Habe der Flüchtlinge beschlagnahmt. Wieder an Land, werden die Flüchtlinge entweder in Haftzentren verlegt oder verschwinden; einigen Berichten zufolge werden sie an Menschenhändler verkauft. Aus Interviews mit Flüchtlingen, die in Haftzentren der DCIM festgehalten wurden, geht hervor, dass alle – Männer, Frauen, Jungen, Mädchen – unter brutalen Bedingungen festgehalten werden, einige sterben. Einige Kinder werden mit Erwachsenen zusammen eingesperrt, wodurch sie der Gefahr von Misshandlung ausgesetzt sind. Folter wie Elektroschocks und sexuelle Gewalt (darunter Vergewaltigung und Zwangsprostitution) sind alltäglich.

Die Untersuchungsmission erklärt, dass „Morde, Versklavung, Folter, Verhaftungen, Vergewaltigung, Verfolgung und andere unmenschliche Handlungen gegen Flüchtlinge Teil eines systematischen und weit verbreiteten Angriffs gegen diese Bevölkerung zur Durchsetzung einer Staatspolitik“ sind. „Deshalb könnten diese Taten Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen.“

Diese Staatspolitik beinhaltet ein koordiniertes System von Misshandlung und Ausbeutung der Flüchtlinge, die von der Küstenwache aufgegriffen und in Gefängnisse gebracht werden, die von Milizen betrieben werden. Freigelassen werden sie erst nach Zahlung von Bestechungsgeld oder nach einiger Zeit von Zwangsarbeit und Zwangsprostitution. Der Bericht erklärt, einige Flüchtlinge haben diesen Kreislauf schon bis zu zehnmal durchgemacht.

Der Bericht erwähnt auch die „mögliche Mitverantwortung von Drittstaaten“, ohne sie jedoch namentlich zu nennen. Allerdings dienen die Verbrechen der libyschen Behörden gegen Flüchtlinge sicherlich auch der Politik der „Festung Europa“, die Flüchtlinge aus Europa fernhalten soll.

Der Bericht erwähnt zwei Vorfälle im Mai und Juli 2019, während der Kämpfe um Tripolis, bei denen ein Haftlager für Flüchtlinge direkt neben dem Hauptquartier einer Miliz zweimal bombardiert wurde. Da sie vor den Angriffen nicht flüchten konnten, wurden zahlreiche Flüchtlinge getötet.

Zum Schluss erklärt die Untersuchungsmission: „Die Gewalt, unter der Libyen seit 2011 leidet und die seit 2016 fast ununterbrochen andauert, hat ernsthafte Verstöße, Misshandlungen und Verbrechen ermöglicht, darunter Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen gegen die schwächsten Teile der Bevölkerung.“ Die Autoren erklären, sie hätten „libysche und ausländische Akteure“ als mögliche Verantwortliche für diese Verbrechen identifiziert. Diese Information darf auch mit dem Internationalen Strafgerichtshof geteilt werden.

Doch die „ausländischen Akteure“, die die größte Verantwortung tragen für die Verwandlung Libyens, eines der ehemals am weitest entwickelten Länder Afrikas, in eine Hölle, werden nicht namentlich genannt. Sie bekleiden weiterhin hohe Posten in Washington, Paris und London, nachdem sie unter dem fadenscheinigen Vorwand eines angeblich drohenden Massakers in der ostlibyschen Stadt Bengasi einen unprovozierten Krieg unter dem schmutzigen Banner von „Menschenrechten“ begonnen haben.

Der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg, der über die ehemaligen Herrscher des Nazi-Staats zu Gericht gesessen hatte, bezeichnete das Führen eines Angriffskriegs „nicht nur als ein internationales Verbrechen; es ist das schwerste internationale Verbrechen, das sich von anderen Kriegsverbrechen dadurch unterscheidet, dass es das gesamte Übel umfasst.“

Die Wahrheit dieses Prinzips bestätigt sich auf blutige Weise in den endlosen Verbrechen gegen die libysche Bevölkerung im Laufe der zehn Jahre, seit die USA und die Nato Tausende ermordet, einen Großteil des Landes durch siebenmonatige Luftangriffe zerstört und al-Qaida-nahe Milizen als Stellvertretertruppen vor Ort bewaffnet und unterstützt haben. Die Verantwortlichen für dieses „schwerste internationale Verbrechen“ in Libyen wurden nie zur Verantwortung gezogen. Unter ihnen befinden sich der ehemalige US-Präsident Barack Obama, die ehemalige Außenministerin Hillary Clinton – die zur Folterung und Ermordung von Muammar Gaddafi höhnisch erklärte: „Wir kamen, wir sahen, er starb“ – sowie der derzeitige US-Präsident Joe Biden, sein Außenminister Antony Blinken und weitere hohe Vertreter seiner Regierung.

Es ist völlig unwahrscheinlich, dass die Untersuchungsmission über Libyen ihre Namen dem Internationalen Strafgerichtshof übergibt, und selbst wenn sie dies täte, würde dieser nichts unternehmen. Seine Standardprozedur besteht darin, die massiven Kriegsverbrechen des US-Imperialismus – die in den letzten zehn Jahren mehr als eine Million Menschenleben gefordert haben – zu ignorieren und stattdessen kleinere Diktatoren und Warlords in unterdrückten und ehemaligen Kolonialstaaten juristisch zu verfolgen.

Alle 30 laufenden Verfahren des Internationalen Strafgerichtshofs richten sich gegen Afrikaner. Gleichzeitig hat das Gericht die skandalöse Entscheidung angekündigt, alle Untersuchungen wegen Kriegsverbrechen Washingtons in Afghanistan einzustellen und sich ausschließlich auf die Taliban zu konzentrieren.

Die Kriegsverbrecher in Washington zur Verantwortung zu ziehen, ist die Aufgabe der amerikanischen Arbeiterklasse, in einem vereinten Kampf mit den Arbeitern in Afrika, dem Nahen Osten und der ganzen Welt.

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