Im Tarifkampf im öffentlichen Dienst der Länder streiken am Dienstag und Mittwoch vor allem die Pflegekräfte der Unikliniken, die direkt den Landesregierungen unterstehen. Ihre Beschäftigten gehören zu denjenigen, die in der Corona-Pandemie seit zwanzig Monaten die größten Opfer bringen.
In NRW werden die Unikliniken von Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster bestreikt; in Bayern sind es Kliniken in München, Augsburg, Erlangen, Regensburg und Würzburg. In Berlin sind vor allem Erzieherinnen und Erzieher der Kitas und Bezirksmitarbeiter im Streik. Vom Tarifkampf betroffen sind Beschäftigte in allen möglichen Landesbetrieben, darunter den Krankenhäusern, Pflegeheimen, Kitas, Schulen, Hochschulen und Sozialstationen.
„Halloween ist vorbei – hier geht der HORROR weiter“, haben Streikende der Uniklinik Bonn sarkastisch auf ihr Transparent gemalt. Vor allem die Corona-Pandemie hat diesen Horror in den letzten zwei Jahren verstärkt. Weltweit sind nach Schätzungen der WHO bis zu 180.000 Pflegekräfte an Covid-19 gestorben (eine konservativere Schätzung geht von 115.500 aus). Wie viele es in Deutschland sind, ist schwer festzustellen, da die Zahlen sorgfältig vor der Bevölkerung geheim gehalten werden.
„Als die Corona-Pandemie gestartet ist, dachte ich: Das ist jetzt der große Knall, den wir alle brauchen, um endlich gehört zu werden“, sagt die Pflegerin Lisa Schlagheck (29) aus Münster in einem WDR-Interview. „Aber letzten Endes hat sich nichts geändert. Viele meiner Kolleginnen kündigen der Reihe nach, weil sie einfach nicht mehr können.“
Mittlerweile fehlen in den deutschen Kliniken mindestens 100.000 Krankenschwestern und Pfleger, und immer mehr Pflegekräfte leiden unter Burn-out. Dies in einer Situation, in der die Infektionszahlen explosionsartig steigen. In der letzten Woche wurden pro 100.000 Einwohner nicht weniger als fünf mit Covid-19 hospitalisiert. Mehr als 3000 Corona-Patienten liegen auf den Intensivstationen.
Gleichzeitig sind die Länderchefs und Finanzminister entschlossen, den Pflegekräften noch deutlich mehr als bisher zuzumuten. Auf Kosten des Personals sollen die öffentlichen Kassen von den Corona-Schulden entlastet werden. Auch nach der zweiten Verhandlungsrunde am 1. und 2. November hat die Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) noch immer kein Angebot vorgelegt.
An der Spitze der Länderchefs stehen Reinhold Hilbers (CDU), Finanzminister Niedersachsens, und Andreas Dressel (SPD), Finanzsenator von Hamburg. Dem Handelsblatt erklärte Hilbers, die Länder wollten „rasch zu ausgeglichenen Haushalten ohne Schulden zurückkehren“, und das werde „nur mit strukturellen Einsparungen“ gelingen. „Dass die Personalkosten, die 40 bis 50 Prozent unserer Gesamtkosten ausmachen, daran einen Anteil haben müssen, ist klar.“
Auch wissen die Landesregierungen, dass die kommende neue Bundesregierung die Politik der bisherigen Großen Koalition noch deutlich verschärfen will. Inmitten der explosiven vierten Corona-Welle will die „Ampel“ aus SPD, FDP und Grünen die „Epidemische Notlage von nationaler Tragweite“ am 25. November beenden. Auch hat sie sich klar gegen ein Lockern der Schuldenbremse und gegen höhere Steuern für die Reichen ausgesprochen. Darüber hinaus will die neue Regierung viel mehr Geld für die Bundeswehr bereitstellen und sogar das Nato-Ziel von zwei Prozent des BIP übertreffen.
Für das Personal des öffentlichen Dienstes – ob systemrelevant oder nicht – bleibt da kein Cent mehr übrig. Also sollen die Beschäftigten in Kliniken und Intensivstationen, Senioren- und Pflegeheimen, Kitas, Schulen, Psychiatrien und anderen Einrichtungen bis zur Erschöpfung weiter schuften. Sie sollen Personalabbau und eine massive Reallohnsenkung hinnehmen. Und dies angesichts einer Inflation von mittlerweile 5 Prozent.
Die Beschäftigten haben also jedes Recht, den Kampf gegen diese menschenverachtende Politik aufzunehmen. Und vom aktuellen Tarifkampf hängt sehr viel ab. Bundesweit sind davon 1,1 Millionen Beschäftigte der Länder (850.000 Vollzeitstellen entsprechend) betroffen. Hinzu kommen 1,4 Millionen Beamte und eine Million Versorgungsempfänger, deren Bezüge und Renten sich nach der Tarifgemeinschaft der Länder richten. Auch ist der TdL richtungsweisend für den TVöD (Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes), der Löhne und Bedingungen im öffentlichen Dienst des Bundes und der Kommunen regelt und jeweils ein Jahr nach dem TdL neu verhandelt wird.
Allerdings ist der Tarifkampf zum Scheitern verurteilt, wenn er noch länger der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und den anderen Gewerkschaften überlassen wird. Die Gewerkschaften stehen in der Profite-vor-Leben-Politik auf Seiten der Regierungen. Sie führen die Tarifverhandlungen als eingespieltes, hunderte Male durchexerziertes Ritual, das vor allem dazu dient, jeden wirklichen Kampf der Arbeiterklasse zu verhindern.
Weder Verdi und der Deutsche Beamtenbund (dbb), die die Verhandlungen in Potsdam führen, noch die GEW, die IG BAU oder gar die Polizeigewerkschaft GdP, die sich an den Verhandlungen beteiligen, stellen die Sparpolitik der Regierungen in Frage. Sie setzen sie im Gegenteil tagtäglich vor Ort, in den Betrieben, praktisch durch. Erst vor zwei Monaten hat Verdi den Arbeitskampf bei den Berliner Landeskliniken Charité und Vivantes nach einem Monat Streik abgewürgt.
Der Verdi-Bundesvorstand ist direkt und über Kanäle von SPD und Grünen eng mit der deutschen Wirtschaft und der kommenden Ampel-Regierung verknüpft. Frank Werneke (SPD), der Verdi-Vorsitzende, ist vor wenigen Tagen für den Aufsichtsrat der Deutschen Bank vorgeschlagen worden, als Nachfolger von Frank Bsirske, dem ehemaligen Verdi-Chef. Dieser verlässt die Deutsche Bank, weil er jetzt für die Grünen in den Bundestag einzieht.
Die Corona-Hilfen der Bundesregierung an Banken und Konzerne bezeichnete Werneke in einem Interview mit dem Deutschlandfunk als „wichtig und notwendig“. In demselben Interview machte er deutlich, dass die Tarifforderungen von vorneherein nur zum Schein aufgestellt worden sind. Verdi habe sie als „Zeichen“ gesetzt, sagte Werneke: „Mal schauen, ob von den Arbeitgebern dann über diese Brücke gegangen wird.“
Die GEW-Vorsitzende Maike Finnern plädiert seit Monaten für die Offenhaltung aller Schulen, egal wie hoch die Infektionszahlen steigen. Und führende Politiker, die die Schulöffnungen an vorderster Stelle durchgesetzt haben, sind prominente Verdi-Mitglieder. Beispiele sind Sandra Scheeres (SPD), die Bildungssenatorin in Berlin, oder auch Britta Ernst, Bildungsministerin in Brandenburg, Ehefrau des designierten Kanzlers Olaf Scholz und Präsidentin der Kultusministerkonferenz. Beide werden bis heute vom Verdi-Bundesvorstand in keiner Weise angefochten, geschweige denn aus der Gewerkschaft ausgeschlossen.
Schon die Entscheidung vor 16 Jahren, die Beschäftigten im öffentlichen Dienst auf verschiedene Tarifrunden mit verschiedenen Verträgen aufzuteilen – TdL, TVöD, TVöD-SuE für das Kita-Personal, TV-N für Busfahrer und TV-L für Lehrkräfte, und wie sie alle heißen – diente dazu, die Arbeiterklasse zu spalten: Jeder Bereich führt seine eigene Tarifrunde für seinen eigenen Tarifvertrag mit eigenen, isolierten Warnstreiks und Trillerpfeifen-Aktionen. Das Klinikpersonal kämpft getrennt von den Altenpflegekräften, die Flughafenarbeiter getrennt von den Bus- und Straßenbahnfahrern, und alle zusammen getrennt von Postzustellern, Lokführern oder Arbeitern bei der Müllabfuhr. Und dabei sind sie alle bei Verdi organisiert. Was für ein ausgeklügeltes Ventil- und Kontrollsystem!
Dies allein zeigt schon, dass die Gewerkschaften die Beschäftigten an der Nase herumführen. Offiziell fordern sie 5 Prozent bei einer Laufzeit von 12 Monaten, mindestens 150 Euro monatlich, im Gesundheitswesen mindestens 300 Euro. Für die Azubis soll es 100 Euro monatlich mehr geben, und die studentischen Hilfskräfte sollen einen eigenen Tarifvertrag erhalten.
Allerdings haben dieselben Gewerkschaftsfunktionäre vor drei Jahren, als ihre Forderungen mit 6 Prozent noch etwas höher lagen, am Ende einem Tarifvertrag zugestimmt, der eine Laufzeit von 33 Monaten hatte. Die Gehaltssteigerungen lagen durchschnittlich unter 3 Prozent pro Jahr. Und die Arbeitsbedingungen haben sich massiv verschlechtert, seitdem Corona zu wüten begann.
Fakt ist, dass Verdi, GEW, IG Bau und dbb bisher sicherstellten, dass die öffentlichen Beschäftigten die Folgen der mörderischen Durchseuchungspolitik tragen, sowohl im Job, durch Arbeitsdruck und Lohndumping, als auch persönlich, durch Infektion, Krankheit und Tod. Wenn man diese hochbezahlten Bürokraten länger wirken lässt, werden sie den Beschäftigten jetzt zusätzlich auch noch die Kosten für die Corona-Politik aufbürden.
Es ist Zeit, dass Beschäftigte im öffentlichen Dienst beginnen, sich unabhängig von den Gewerkschaften zu organisieren. Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) schlägt unabhängige Aktionskomitees vor, wie sie in Deutschland von Lehrern und Busfahrern, international auch schon von Autoarbeitern und Gesundheitspersonal aufgebaut worden sind. Diese Aktionskomitees werden die Arbeiterklasse in einer großen, einheitlichen und internationalen Massenbewegung zusammenschließen, um das kapitalistische Profitsystem abzuschaffen.