Flexibel bis zum Geht-nicht-mehr? Der Arbeitskampf der Staatsbad Philharmonie Kissingen

Anfang November wurde dem Orchesterchef und ersten Geiger der Staatsbad Philharmonie Kissingen Burghard Toelke gekündigt, wenige Tage nach Beendigung eines Arbeitskampfes der Musiker.

Das staatliche Orchester hatte unter Toelkes Leitung bessere Bezahlung, kürzere Arbeitszeit, Zuschläge für zusätzliche berufsfremde Arbeiten sowie ein klares Urlaubs- und Reiserecht gefordert. Als Bad Kissingen zusammen mit weiteren zehn historischen Kurbädern in diesem Sommer, in fürstlichem Ambiente, feierlich zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurde, saß das anwesende Orchester plötzlich mit gelben Westen und der Aufschrift „Streik“ vor den Honoratioren der Stadt.

Burghard Toelke (Bild youtube)

Arbeitgeber des Orchesters ist die Bayrische Staatsbäder Bad Kissingen GmbH, Gesellschafter das Land Bayern und die Stadt Bad Kissingen. Oberbürgermeister Dirk Vogel ist Mitglied der SPD. Noch im Jahr 2012 hatte sein SPD-Amtsvorgänger Kay Blankenburg begeistert über das Kurorchester gesprochen, das mit 727 jährlich absolvierten Konzerten einen Guinness-Rekord aufgestellt hatte. Das Orchester spielte immer künstlerisch überzeugend, auch ohne Urlaubsvertretungen oder Aushilfen bei Krankheitsfällen.

Im Jahr 2018 wurde das fleißigste Kurorchester der Welt in Staatsbad Philharmonie Kissingen umbenannt. Der Name sollte den hohen qualitativen Anspruch unterstreichen und junge, gutausgebildete Bewerber ansprechen. In einigen Jahren würde ein großer Teil des Orchesters in Rente gehen. Neuer Orchesterchef wurde der Geiger Burghard Toelke, ein hervorragender Musiker mit internationalen Erfahrungen, der sich mit Elan in die künstlerische Arbeit stürzte.

Ihn faszinierte eine Besonderheit der Staatsbad Philharmonie: die Pflege der Tradition des Großen Berliner Salonorchesters, einer reizvollen 13-köpfigen Besetzung aus Streichern, Bläsern, Schlagwerk, Klavier und Harmonium, mit der sich sozusagen „alles“ spielen lässt. Der Anspruch an die Musiker ist hoch. Jeder ist Solist. Nicht nur Toelke, ein mehrfacher Preisträger, hat eine hochqualifizierte Ausbildung hinter sich. Mehrere Musiker beherrschen zwei Instrumente.

Innerhalb kurzer Zeit, in der das Orchester in unbezahlter Fleißarbeit unzählige Stimmen aus historischen Partituren transkribierte, wuchs das Notenarchiv auf zirka 3000 Werke – von Barock bis Operette, Musical, jazzigem Big-Band Sound, Schlager, Beatles und Klassik. Dabei Werke von Beethoven, Wagner, Tschaikowski und Dvoraks berühmte 9. Sinfonie „Aus der neuen Welt“, die eigentlich großes Orchester erfordern. Geschickte Arrangeure haben in der Vergangenheit daraus charmante musikalische Perlen gemacht. Die meisten dieser „kleinen“ Meister sind lange vergessen.

Das Orchester trat bald aus dem engen Rahmen des Kurbetriebs heraus. Eine neue Premium-Jahreskarte erweiterte den Publikumskreis über die Stadt hinaus. Abonnementkonzerte mit renommierten Sängern erhöhten die Attraktivität. Der Arbeitgeber stellte die hohe Qualität des Ensembles in der Öffentlichkeit heraus. Die Forderung des Orchesters nach einem Tarifvertrag beantwortete er im September mit der Entlassung zweier junger Musiker, kurz vor Ende ihrer Probezeit. Dagegen protestierten auch Kurgäste und Anwohner. Andere Orchester schickten Solidaritätsschreiben. Höhepunkt war ein gemeinsames Konzert mit Musikern aus acht verschiedenen Orchestern vor dem Rathaus.

Die Musiker der Staatsbad Philharmonie Kissingen (Foto: Deutsche Orchestervereinigung)

Die Stadt nahm die Entlassungen zunächst nicht zurück. Stattdessen erreichte das Orchester das „Angebot“ einer Gehaltserhöhung weit unter dem, was Orchestermusikern gemessen an der Anzahl ihrer Dienstjahre tariflich zusteht. Es entsprach etwa dem Gehalt von Berufsanfängern. Die wöchentliche Arbeitszeit wurde zwar formal von 40 auf 30 Stunden gesenkt, die Forderung nach 9 statt 13 wöchentlichen Konzerten aber strikt abgelehnt. Das bedeutete praktisch, den Arbeitsaufwand für die Vorbereitung der Konzerte entweder in unbezahlten Überstunden oder kürzerer Zeit zu bewältigen oder zu senken, auf Kosten der Qualität.

In der Presse musste sich das Ensemble, dessen künstlerisches Niveau bisher als Aushängeschild des „Kulturstandorts“ Bad Kissingen gepriesen wurde, vorwerfen lassen, zu gut zu sein. Es strebe eine unnötige Qualität an, erklärte der SPD-Fraktionsvorsitzende. Die Forderung der Staatsbad GmbH, sich wieder auf die „Kernaufgaben“ zu konzentrieren, die musikalische Unterstützung der Trinkkur, kommentierte ein Musiker sarkastisch, dafür reiche ein einzelner Musiker mit Schifferklavier.

Empörend ist der Brief des Obernbürgermeisters an die Orchestergewerkschaft DOV, in dem er die Ablehnung von Tarifgesprächen mit der provokanten Frage bekräftigt, welcher öffentliche Arbeitgeber noch Lust habe, „ein Orchester dauerhaft zu beschäftigen, deren Mitglieder neun Stunden pro Woche arbeiten sollen, aber am Ende verdienen sollen, wie ein Amtsleiter im Öffentlichen Dienst?“

Vogel setzt hier frech die Anzahl der vom Orchester geforderten neun wöchentlichen Konzerte mit der Wochenarbeitszeit gleich und hält das Orchester mit aktuell 13 Konzerten für völlig überbezahlt. Jeder Mensch weiß, dass die Hauptarbeit von Musikern für das Publikum unsichtbar ist. Konzerten gehen intensive Orchesterproben und individuelles Üben zu Hause voraus.

Burghard Toelke ist wütend, dass es dem Arbeitgeber nur um anspruchslose Berieselung der Kurgäste geht. Besonders enttäuscht ihn, dass ausgerechnet ein SPD-Oberbürgermeister die tarifgerechte Bezahlung des Orchesters ablehnt. Die Rolle der SPD besteht jedoch hier wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen schon seit Jahren darin, in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften Sparmaßnahmen durchzusetzen und Widerstand im Sande verlaufen zu lassen.

Daran ändert auch die Auseinandersetzung zwischen Vogel und DOV nichts. Statt eines Streiks organisierte die Orchestergewerkschaft wohlklingenden Protest. Es liege ihr „wenig daran, den Konflikt weiter zu eskalieren“, heißt es in ihrer Antwort an Vogel. Sie preist sich als Spezialistin für „maßgeschneiderte Haustarifverträge“ an und erklärt in ihrer letzten Presseerklärung zum Thema, „dass die Positionen im aktuellen Tarifkonflikt de facto gar nicht so weit auseinander liegen“.

Mit der offenen Drohung, das Orchester aufzulösen, das angeblich nur „neun Stunden in der Woche“ arbeiten will, appelliert der SPD-Politiker an die rückständigsten Vorurteile über angeblich raffgierige Künstler. Es ist ein ernstzunehmendes Signal über die Stadt Bad Kissingen hinaus, erkämpfte Musikerrechte nicht länger anzuerkennen.

Im heutigen Kurbetrieb gibt es kaum noch festangestellte Künstler. Sie werden in der Regel saisonweise gemietet oder alle paar Wochen ausgewechselt – gern mit preiswerten Musikern aus Osteuropa. In der Staatsbad Philharmonie, dem deutschlandweit größten noch festangestellten Kurensemble, arbeiten neben einigen deutschen Musikern Künstler aus Polen, Japan, Korea, Weißrussland und eine ausgezeichnete Pianistin aus dem Iran. Der entlassene Klarinettist stammt aus Spanien, die gekündigte junge Flötistin, die für Bad Kissingen ihre Stellung in einem großen Sinfonieorchester aufgab und sich gegen 60 Mitbewerber durchsetzte, aus der Türkei. Mittlerweile wurden die beiden offenbar wieder eingestellt.

Wahrscheinlich erwartet man von ihnen, dass sie voller Dankbarkeit, im Geburtsland von Bach und Beethoven spielen zu dürfen, alles schlucken. Nach der Aktion des Orchesters beim UNESCO-Festakt gab es teilweise giftige Stimmen gegen die „Ausländer“, woran, wie sich Toelke erinnert, auch ein Stadtratsmitglied beteiligt war.

Seit Toelkes Entlassung sind Presse und Orchestergewerkschaft DOV schlagartig verstummt. Letztere erwähnt die skandalöse Kündigung von Toelke nicht einmal. Die Solidarität von Orchestern aus mehreren Bundesländern, darunter der Staatkapelle Berlin, mit dem Arbeitskampf des kleinen Orchesters zeigt aber, dass Musiker den Arbeitskampf nicht als lokale Angelegenheit betrachten. Überall gibt es denselben Druck.

So gibt es gewisse Parallelen zum Orchesterstreik in Berlin (2011), als die drei Opernorchester der Opernstiftung eine bessere Bezahlung nach bundesweitem Tarif forderten, dem sich das rot-rot regierte Land Berlin durch den Austritt aus dem Arbeitgeberverband entzogen hatte. Besonders empörte die Musiker die Absicht des staatlichen Arbeitgebers, Aushilfstätigkeiten unter den Orchestern nicht mehr zu vergüten und auf diese Weise ein umfassendes Gesamtorchester zu schaffen, das mit weniger Arbeitskräften auskommt. Neben unbezahlter Mehrarbeit der angestellten Musiker bedeutet es Abstriche an der Qualität der drei sehr unterschiedlichen Klangkörper.

Die 727 Auftritte der Staatsbad Philharmonie sind ein beeindruckender Beleg für das große Bedürfnis an qualitativ hochwertiger Kultur in kleinerem Rahmen. Burghard Toelke befürchtet mit Recht weitere Konsequenzen, wenn gerade hier eingespart wird: „Wir wollen auch Kinder für unsere Musik begeistern. Fallen unsere Schulkonzerte jetzt weg?“

Der Arbeitskampf der Musiker in Bad Kissingen und die Entlassung des musikalischen Leiters machen eines deutlich: Die kulturellen Bedürfnisse der Bevölkerung können nicht im Rahmen von gewerkschaftlichen Aktionen und Appellen an die Politik verteidigt werden. An Deutschlands Musikschulen werden seit Jahren festangestellte Lehrkräfte durch preiswertere Honorarkräfte ersetzt.

Die Erfahrungen der Musiker in diesem Ort sind allgemeine Erfahrungen weltweit. Gerade in den beiden Corona-Jahren wurde deutlich, wie Kultur den Profitinteressen der Wirtschaft untergeordnet und kleinere Institutionen, Ensembles und kulturelle Initiativen ausgeblutet werden.

Musiker können ihre Belange und die kulturellen Interessen der Bevölkerung nur verteidigen, wenn sie sich mit Lehrern, Eltern und Arbeitern in anderen Bereichen und Ländern zusammenschließen. Das Potential eines solchen gemeinsamen Kampfs haben bereits Orchesterstreiks in den amerikanischen Städten Detroit (2010) und Chicago (2019) gezeigt, wo sich zahlreiche Arbeiter den Kämpfen anschlossen.

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