Trotz Omikron und steigender Inzidenz: Regierung will Quarantäne verkürzen

Obwohl die Zahl der Corona-Tests über die Feiertage deutlich niedriger war und die Gesundheitsämter nur einen Bruchteil der Fälle an das Robert-Koch-Institut (RKI) übermittelten, stieg die 7-Tage-Inzidenz in den letzten fünf Tagen erneut an. Am Montag lag sie offiziell bei 232,4. Das RKI meldete 18.500 Neuinfektionen und 68 weitere Todesfälle.

Tatsächlich liegen die Zahlen um ein Vielfaches höher. Vor dem Jahreswechsel erklärte Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), dass die wirklichen Daten „derzeit vermutlich zwei bis drei Mal so hoch [sind] wie die Inzidenz, die wir erfassen“. Mit einem Wert zwischen 460 und 700 liegt die Inzidenz damit bereits jetzt weit über dem bisherigen Höchstwert der „vierten Welle“.

Volle U-Bahn in Berlin am 12. November (AP Photo/Markus Schreiber)

Hinzu kommt die massive Ausbreitung der noch infektiöseren Omikron-Variante. Seit dem 15. November verzeichnete das RKI offiziell über 30.000 Infektionen mit der Variante. Allein am Montag infizierten sich 3.524 weitere Personen mit Omikron, ein Anstieg um 13 Prozent zum Vortag. Bundesweit macht die Mutation bereits knapp ein Fünftel des Infektionsgeschehens aus. Aufgrund der niedrigen Sequenzierungsquote in Deutschland liegt aber auch hier die Dunkelziffer wesentlich höher.

Wie explosiv die Omikron-Welle ist, verdeutlicht ein Blick auf das Pandemiegeschehen in den europäischen Nachbarländern und international. In Dänemark, das als eines der ersten Länder von Omikron erreicht wurde, liegt die 7-Tage-Inzidenz aktuell bei 2.505. In Frankreich, wo sich Omikron in den letzten Tagen zur vorherrschenden Variante entwickelt hat, liegt die Inzidenz bei 1.665.

In Großbritannien explodieren die Zahlen ebenfalls und erreichen jeden Tag neue Höchstwerte. Allein am Freitag kam es zu 190.000 Fällen an einem Tag. Die Krankenhauseinweisungen sind auf dem höchsten Stand seit Januar. In den USA gibt es derzeit einen fast vertikalen Anstieg der Fallzahlen: Innerhalb von 24 Stunden kam es zu 440.000 neuen Ansteckungen – mehr als doppelt so viele wie zum bisherigen Höhepunkt der Pandemie.

In Deutschland ist die Situation an den Kliniken bereits jetzt dramatisch. Die adjustierte Hospitalisierungsinzidenz (Hospitalisierungsinzidenz mit zu erwartenden Nachmeldungen) liegt bei etwa sieben, was 5.000 bis 6.000 Hospitalisierungen pro Woche entspricht.

Die Zahl der intensiv behandelten Patienten liegt weiter über 4.000. Diese Zahl droht mit der Omikron-Variante noch deutlich zu steigen und die Kapazitäten der Kliniken zu sprengen. Das RKI schätzt die Gefährdung für die Gesundheit aller nicht dreifach geimpften Personen als „hoch“ bis „sehr hoch“ ein. Das betrifft aktuell über 60 Prozent der Bevölkerung.

Die herrschende Klasse weiß, welche Katastrophe die Ausbreitung von Omikron heraufbeschwört. Es sei mit „einer sehr hohen Krankheitslast durch Omikron zu rechnen“, heißt es im letzten Beschlusspapier der Ministerpräsidentenkonferenz. Die „stark steigenden Infektionszahlen und deren Folgen“ könnten dabei „ein Ausmaß erreichen, das die kritische Infrastruktur (KRITIS, unter anderem Krankenhäuser, Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienste, Telekommunikation, Strom- und Wasserversorgung sowie die entsprechende Logistik) in ihrer Funktionsweise eingeschränkt wird.“

Der Expertenrat der Bundesregierung zu Covid-19 warnte in seiner ersten Stellungnahme, dass aufgrund des hohen Infektionsaufkommens „ein relevanter Teil der Bevölkerung zeitgleich erkrankt und/oder in Quarantäne“ sein wird.

Anstatt die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Gesundheit und das Leben von Hunderttausenden zu schützen, reagiert die herrschende Klasse mit Regelungen, die alles daransetzen, die Arbeiter an der Arbeit und die Profitmaximierung des Kapitals am Laufen zu halten.

So plant der sozialdemokratische Gesundheitsminister Karl Lauterbach eine Verkürzung der Quarantänezeit. Auf dem nächsten Bund-Länder-Treffen am Freitag werde es „auf jeden Fall neue Beschlüsse geben, weil wir müssen uns Gedanken dazu machen, wie verändern wir die Quarantäneverordnung“, erklärte Lauterbach am Sonntagabend im Interview mit RTL/ntv.

Bereits in der vergangenen Woche verkürzte die US-Regierung die Quarantänezeit von zehn auf nur noch fünf Tage. Am Sonntag zog Frankreich nach und reduzierte die Quarantänezeit für vollständig geimpfte Infizierte auf sieben Tage, für diejenigen mit einem negativen Schnelltest sogar auf fünf. Für vollständig geimpfte Kontaktpersonen entfällt die Quarantäne komplett.

Die Maßnahmen werden die ohnehin schon massive Ausbreitung von Omikron weiter befeuern. Seit Beginn der Pandemie ist bekannt, dass Infizierte das Virus auch dann übertragen können, wenn sie keine Symptome zeigen.

Ernsthafte Wissenschaftler geißeln die Maßnahmen. „Mit Sorge“ blicke er auf die Pläne der Regierungsparteien, die Quarantänezeit zu verkürzen, sagte der Berliner Mikrobiologe und Global-Health-Experte Timo Ulrichs im rbb-Inforadio. „Wenn wir die Quarantäne zu früh beenden, kann es sein, dass Menschen noch kontagiös sind und das Virus in der Endphase weitergeben – und das sollte man vielleicht nicht machen“.

Die Regierungen in Bund und Ländern verfolgen eine bewusste Politik der Durchseuchung. Nach den Weihnachtsferien starten die Schulen wieder in voller Klassenstärke in den Präsenzunterricht. In dieser Woche müssen die Schüler in Berlin, Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen und Thüringen wieder zu Schule. In der kommenden Woche folgen dann die restlichen Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein.

„Wir müssen alles tun, um Schulen offen zu halten“, schrieb Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) auf Twitter. Der Präsenzunterricht sei „eine Frage der Chancengleichheit“ und sie wünsche allen Schülern, Eltern und Lehrern einen guten und sicheren Start“, fügte sie zynisch hinzu. Tatsächlich ist die Rückkehr in überfüllte Klassenzimmer ohne Luftfilter ein Rezept für massenhafte Durchseuchung. Dabei geht es nicht etwa um „Chancengleichheit“, sondern darum, Kinder in den Schulen zu verwahren, damit ihre Eltern zur Arbeit gezwungen werden können.

In wessen Interesse Politik gemacht wird, zeigt ein Blick auf die Börsen. Mit über 16.000 Punkten nähert sich der Deutsche Aktienindex (DAX) zu Jahresbeginn einem neuen Allzeithoch. Während der Großteil der Bevölkerung mit Einkommenseinbußen und Entlassungen konfrontiert ist und auf der Arbeit Leben und Gesundheit riskieren musste, bereichern sich die oberen zehn Prozent weiter an der Pandemie und am Massensterben.

Die mörderische Profite-vor-Leben-Politik unterstreicht, dass der Kampf gegen die Pandemie einen Kampf gegen das kapitalistische Profitsystem und seine politischen Vertreter erfordert. Die Arbeiterklasse muss als unabhängige Kraft ins politische Geschehen eingreifen und den Kampf für die Beendigung der Pandemie selbst in die Hand nehmen. Er muss auf den folgenden Grundsätzen beruhen, die die Sozialistische Gleichheitspartei zum Jahreswechsel in ihrem „Offenen Brief an die Arbeiterklasse“ formuliert hat:

  1. Die derzeitige Politik der „Herdenimmunität“, die eine grenzenlose Ausbreitung von Covid-19 in der Bevölkerung zulässt, muss abgelehnt werden. Stattdessen ist die Umsetzung einer neuen Strategie erforderlich, die auf die Eliminierung und Ausrottung von SARS-CoV-2 ausgerichtet ist.
  2. Die Eindämmungsmaßnahmen müssen sich an den Erfordernissen der öffentlichen Gesundheit orientieren. Der Schutz des menschlichen Lebens und die Sicherheit der Bevölkerung müssen absoluten und unbedingten Vorrang vor allen finanziellen Interessen der Unternehmen haben. Die Kosten der Pandemiebekämpfung – einschließlich der Zahlung von Löhnen und Gehältern, der Entschädigung von Kleinunternehmern, der umfassenden medizinischen Versorgung der Erkrankten und der Zahlungen an die Hinterbliebenen – müssen von den Unternehmen getragen werden. Außerdem braucht es eine 100-prozentige Steuer auf die Pandemiegewinne, die Großinvestoren durch den Anstieg der Aktienkurse erzielt haben.
  3. Der Kampf gegen die Pandemie muss auf globaler Ebene geführt werden. Die Pandemie kann nur gestoppt werden, wenn SARS-CoV-2 in allen Ländern eliminiert wird. Arbeiter in Deutschland und ganz Europa müssen fordern, dass ihren Kollegen in den weniger entwickelten Ländern die erforderlichen Impfstoffe kostenlos zur Verfügung gestellt werden.
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