Wie der deutsche Militarismus den Ukrainekrieg nutzt

Der russische Einmarsch in der Ukraine hat in breiten Teilen der deutschen Bevölkerung Entsetzen und Angst vor einem dritten Weltkrieg ausgelöst. Die herrschenden Kreise reagieren völlig anders: Hinter ihrer lautstarken moralischen Empörung und ihrer Denunziation von Präsident Putin steht eine kaum unterdrückte Euphorie.

Endlich – so der Tenor unzähliger Politikerreden und Medienkommentare –, endlich dürfen wir wieder aufrüsten und Krieg führen. 75 Jahre lang mussten wir Kreide fressen, uns für die Verbrechen der Nazis entschuldigen, vor der pazifistischen öffentlichen Meinung zurückstecken. Das ist jetzt vorbei!

Die Sondersitzung des Bundestags am Sonntagmorgen brachte diese Stimmung auf den Punkt. Abgeordnete aller Fraktionen jubelten Bundeskanzler Olaf Scholz zu, als er das größte Aufrüstungsprogramm seit Hitler und Waffenlieferungen an die Ukraine ankündigte, die Deutschland faktisch zur Kriegspartei machen. Scholz sprach von einer „Zeitenwende“, und die Medien griffen den Begriff begierig auf.

„Die Entscheidung der Bundesregierung, Waffen an die Ukraine zu liefern, ist historisch. Genau wie die Versprechen zur Ausstattung der Bundeswehr. Und beide sind richtig,“ schrieb Nico Fried in der Süddeutschen Zeitung. „Die Lehren aus der Geschichte als die bestimmende Maxime zu betrachten, hätte die Bundesregierung politikunfähig gemacht. Aus dieser Situation hat sie sich nun befreit.“

Jasper von Altenbockum verhöhnte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die „westdeutsche Tradition, andere für die Sicherheit aufkommen zu lassen, unter deren Schirm es sich gut moralisieren ließ“. Nun erweise sich der deutsche Idealismus „als historischer Irrtum, als Täuschung, als das moralische und materielle Versagen einer Generation“, die nach Worten suche, „um aus der Provinz ihrer Friedens­illusionen wieder in die Mitte des Weltgeschehens zu finden“.

FAZ-Mitherausgeber Berthold Kohler, einer der übelsten Kriegshetzer in den deutschen Medien, sprach Putin sogar ausdrücklich seinen Dank aus – und bestätigte damit die Einschätzung der WSWS, dass die Ukraine der Nato als Köder diente, um Russland in einen Krieg zu locken.

„Wenn es nicht zynisch klänge, müsste man dem russischen Präsidenten fast dankbar dafür sein, die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik aus ihrem Wolkenkuckucksheim auf den Boden der Tatsachen geholt zu haben,“ kommentierte Kohler am 27. Februar in der FAZ. Die SPD räume nun „so schnell alte Positionen, dass wohl selbst Moskau Schwierigkeiten hat, zu folgen“. Die Opposition der SPD gegen das Zwei-Prozent-Ziel, den Fortbestand der nuklearen Teilhabe, die Beschaffung von bewaffneten Drohnen sei nun alles „Schnee von gestern“.

Kohler selbst gibt sich damit nicht zufrieden und ruft nach der Atombombe: „Putins Kreuzzug gegen den Westen zwingt Deutschland aber auch, sich mit einer Frage zu befassen, die es, auch hier unter Verweis auf die eigene Vergangenheit, als für alle Zeiten beantwortet betrachtete: die nukleare,“ schreibt er in einem anderen FAZ-Kommentar.

Die Erfahrung mit Donald Trump habe den Europäern gezeigt, „dass es keine Ewigkeitsgarantie für den atomaren Schutzschirm Amerikas gibt“. Frankreichs Abschreckungsarsenal sei zu schwach. Wenn sich die Europäer dem Druck Russlands nicht beugen wollten, „dann muss Europa zu einer Atommacht werden, die diesen Namen verdient. Ohne Deutschlands Beteiligung wird das nicht möglich sein.“

Ähnliche Kommentare findet man in fast allen Zeitungen, von den zahlreichen Talkshows im öffentlichen Fernsehen ganz zu schweigen. Hier kommen nur noch Gegner Russlands zu Wort, das Gebot der Ausgewogenheit ist der „Zeitenwende“ zum Opfer gefallen.

Die Bundestagssitzung vom Sonntag war von einer Stimmung des euphorischen Kriegstaumels geprägt. Die Abgeordneten erhoben sich immer wieder zu stehenden Ovationen. Ampel und Union überboten sich mit militaristischen Parolen und sicherten sich ihre gegenseitige Unterstützung zuz. Auch die Linke und die AfD stimmten in den Kriegschor ein.

Ein Linken-Abgeordneter nach dem anderen legte ein Schuldbekenntnis ab, Putin sträflich unterschätzt zu haben. Der prominenteste Vertreter der Partei, Gregor Gysi, hatte bereits vorher im ZDF-Morgenmagazin erklärt, alles, was er Kritisches über den Westen und die Nato gesagt habe, sei „Makulatur geworden, weil jetzt eben Putin entschieden hat, einen völkerrechtswidrigen, verbrecherischen Angriffskrieg zu führen“.

Warum Putins Angriff auf die Ukraine die Bombardierung Belgrads, die Zerstörung Afghanistans, Iraks, Libyens und Syriens, Guantanamo, Abu Ghraib und zahlreiche andere Kriegsverbrechen der Nato und ihrer Mitglieder nachträglich rechtfertigt, erläuterte Gysi nicht.

Die zentrale Botschaft der Debatte fasste schließlich Rüdiger Lucassen, ein Abgeordneter der rechtsextremen AfD, zusammen. „Die brutale Politik der Macht ist zurück und fegt die Gesinnungsethik aus der deutschen Politik,“ erklärte der ehemalige Berufsoffizier der Bundeswehr. Deutschland habe keine Alternative. Die Bundesregierung müsse „das Steuer in Richtung Machtpolitik herumreißen“, was bedeute, auch „militärische Fähigkeiten zu besitzen“.

Nicht zufrieden mit der massiven Aufrüstung, forderte Lucassen eine ergänzende ideologische Offensive. Die Bundesregierung sei „dafür verantwortlich, das Bewusstsein für eine neue Wehrhaftigkeit in unserem Volk zu schärfen“. Die Wehrpflicht müsse reaktiviert werden. „Wehrhaftigkeit ist der Preis unserer Freiheit.“

Die Bemühungen, an die Großmachtpolitik und den Militarismus vergangener Zeiten anzuknüpfen, sind fast so alt wie die Bundesrepublik selbst. Im Wege stand ihnen nicht die SPD, wie Kohler in der FAZ andeutet, sondern der Widerstand breiter Bevölkerungsschichten, die nach zwei verheerenden Kriegen und den bestialischen Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg entschlossen waren, keinen weiteren Krieg zuzulassen. Die SPD unterstützte dagegen jede Ausweitung des Militarismus und stellte zahlreiche Verteidigungsminister.

Bereits in der ersten Hälfte der 1950er Jahre kam es zu Massenprotesten gegen die Gründung der Bundeswehr, die sich in den 1960er Jahren in der Bewegung gegen Atomwaffen fortsetzten. Anfang der 1980er demonstrierten Hunderttausende gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Deutschland. 2003 gingen in Berlin über eine halbe Million Demonstranten gegen den Irakkrieg auf die Straße.

Trotzdem ließen die Bemühungen um eine Wiederbelebung des deutschen Militarismus nicht nach. Die deutsche Wiedervereinigung betrachtete die herrschende Klasse als Chance, ihre Vormachtstellung in Europa wiederherzustellen. „Als Volk von 80 Millionen Menschen, als wirtschaftsstärkstes Land in der Mitte Europas tragen wir eine besondere Verantwortung,“ erklärte 1993 der damalige Außenminister Klaus Kinkel (FDP). „Wir sind aufgrund unserer Mittellage, unserer Größe und unserer traditionellen Beziehungen zu Mittel- und Osteuropa dazu prädestiniert, den Hauptvorteil aus der Rückkehr dieser Staaten nach Europa zu ziehen.“

Seither sind die Europäische Union und die Nato immer weiter nach Osten vorgerückt, eine Entwicklung, von der Deutschland sowohl wirtschaftlich wie geopolitisch am meisten profitierte. 1999 organisierten die SPD und die Grünen gegen erheblichen Widerstand aus den eigenen Reihen den ersten internationalen Kriegseinsatz der Bundeswehr, der die Aufspaltung Jugoslawiens in sieben impotente, von den Großmächten abhängige Armenhäuser zementierte.

2014 verstärkte die Große Koalition ihre Bemühungen, Deutschland – in den Worten des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck – „zu einer aktiveren Rolle in der Welt“ zu verhelfen und eine Großmachtpolitik zu verfolgen. Sie unterstützte den Putsch in der Ukraine, der mithilfe faschistischer Milizen ein antirussisches Regime an die Macht brachte und die Grundlage für den heutigen Krieg legte.

Seither ist der deutsche Verteidigungshaushalt dramatisch gestiegen, von 32,4 Milliarden Euro im Jahr 2014 auf 46,9 Milliarden 2021. Nun wird er auf einen Schlag verdreifacht.

Die Behauptung, es gehe im Ukrainekrieg um die Verteidigung von Freiheit und Demokratie gegen einen autoritären Diktator, die insbesondere die Grünen unablässig wiederholen, fällt bei genauerer Betrachtung wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Putins Vorgehen ist ohne Zweifel reaktionär. Er vertritt die Interessen der russischen Oligarchen, die durch die Plünderung des gesellschaftlichen Eigentums der Sowjetunion reich geworden sind. Sein Nationalismus, der auf die Tradition Stalins und des großrussischen Chauvinismus des Zarenreichs zurückgeht, kann die katastrophalen Folgen der Auflösung der Sowjetunion vor dreißig Jahren nicht rückgängig machen. Er spaltet die Arbeiterklasse und treibt sie in die Arme nationalistischer Demagogen.

Doch das ukrainische Regime ist nicht besser, es erfüllt nicht einmal die Minimalanforderungen einer Demokratie. Seine Streitkräfte sind von faschistischen Milizen wie dem Asow-Bataillon durchsetzt, die – einem Bericht des amerikanischen Time-Magazins zufolge – in den letzten sechs Jahren 17.000 ausländische Gesinnungsgenossen aus 50 Ländern ausgebildet haben.

Die deutsche Regierung weiß das. Noch am 9. Februar dieses Jahres veröffentlichte die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) einen Bericht „Die Ukraine unter Präsident Selenskyi“, der dem von Deutschland mit hohen Summen unterstützten ukrainischen Regime ein verheerendes Zeugnis ausstellt.

„Neben den verfassungsmäßigen Institutionen existieren in dem Land mächtige Akteure, die keiner demokratischen Verantwortlichkeit unterworfen sind,“ heißt es darin. Dazu zählten neben Oligarchen auch regional verankerte politisch-ökonomische Netzwerke und Personenkreise innerhalb der Justiz. „Aufgrund ihrer politisierten Justiz und des großen Einflusses mächtiger informeller Akteure im politischen System“ könne die Ukraine nicht als „liberale Demokratie“ gelten. Und da „die Ukraine sicherheitspolitisch wie wirtschaftlich von der westlichen Staatengemeinschaft abhängig“ sei, habe sich auch diese „zu einem weiteren wichtigen Akteur in dem Land entwickelt“.

Kurz gefasst: Die Ukraine ist ein von korrupten Seilschaften und einer käuflichen Justiz beherrschter Staat, der von den westlichen Mächten gesteuert und manipuliert wird.

Hinzu kommt, dass die Nato kein Friedensbündnis demokratischer Staaten, sondern eine Kriegsallianz imperialistischer Mächte ist, die mit 1,1 Billionen Dollar im Jahr 2020 mehr als die Hälfte der weltweiten Militärausgaben bestritt und in den vergangenen dreißig Jahren zahlreiche völkerrechtswidrige Kriege führte.

Was die deutsche Bourgeoisie betrifft, so ist die Ukraine für sie nur ein Mittel zum Zweck. Der Hunger der deutschen Wirtschaft nach Absatzmärkten und Rohstoffen und die wachsenden sozialen Konflikte im Innern treiben sie wieder auf den Weg, den sie schon in den beiden Weltkriegen gegangen ist – die Expansion nach Osten.

Hatte sie ihre Ziele in den letzten Jahrzehnten unter dem Motto „Wandel durch Handel“ mit friedlichen Mitteln verfolgt, greift sie nun wieder zu militärischer Gewalt. Darin besteht die „Zeitenwende“, die Bundestag und Medien so begeistert feiern. Putins Überfall auf die Ukraine, den Deutschland und die Nato gezielt provoziert haben, kommt ihnen dabei wie gerufen.

Die Folgen dieser Politik sind katastrophal. Sie beschwören nicht nur die Gefahr einer militärischen Konfrontation mit der Nuklearmacht Russland herauf, die Europa in Schutt und Asche legen würde. Auch Frankreich, Großbritannien und die USA werden auf Dauer nicht hinnehmen, dass Deutschland, das sie in zwei Weltkriegen niedergerungen haben, wieder zur dominierenden Großmacht im Herzen Europas aufsteigt. Die Nato und die Europäische Union mögen ihre Einheit und Geschlossenheit noch so oft beschwören, ihre aggressive Politik enthält bereits den Keim zukünftiger Konflikte.

Der einzige Ausweg aus dieser Sackgasse ist eine internationale Offensive der Arbeiterklasse, die ukrainische, russische, europäische, amerikanische und alle anderen Arbeiterinnen und Arbeiter vereint und den Kampf gegen Krieg mit dem Kampf gegen seine Ursachen, den Kapitalismus und das überholte Nationalstaatensystem, verbindet.

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