Das 6. Symphoniekonzert der Osnabrücker Symphoniker am 4. April war ein Signal gegen die antirussische Hetze, die bereits mehrfach zum Ausschluss russischer Künstler von Konzerten und Festivals geführt hat.
Mit dem Konzert unter dem Motto „Brücken nicht abreißen lassen“ wurde dem jungen russischen Geiger Dmitry Smirnov der Osnabrücker Musikpreis verliehen. Anlässlich des Ukraine-Kriegs war das Musikprogramm geändert worden, und der 27-jährige Solist spielte statt des ursprünglich vorgesehenen Haydn-Konzerts das Violinkonzert des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov. Neben einem weiteren Werk Silvestrovs brachte das Orchester die Symphonie Nr. 8 von Dmitri Schostakowitsch zur Aufführung.
„Es ist ein Statement, so ein Konzert zu machen, wo alle zusammenwirken“, erklärte der Dirigent des Abends Daniel Inbal. „Und die Musik verkörpert ja auch das Ideal der Menschheit, sich zusammenzufinden und Brücken zu schlagen.“ In der Laudatio per Video sagte der Intendant des Festspielhauses Baden-Baden, Benedikt Stampa, Smirnov stehe für eine neue Generation von Musikern, die spielend leicht Grenzen überwinde.
Smirnov selbst, der eine öffentliche Gesinnungserklärung ablehnte, betonte, er sei auf der Seite derer, die Brücken bauen. Er hätte Freunde und Familie in Russland und der Ukraine. In einem Interview forderte er dazu auf, gemeinsam Silvestrov zu entdecken.
Valentin Silvestrov, in der Ukraine eine kulturelle Instanz, gehörte als junger sowjetischer Komponist zur Kiewer Avantgarde, die sich der Forderung des „Sozialistischen Realismus“ verweigerte und sich mit internationalen Kompositionstrends auseinandersetzte. Von der Atonalität wandte er sich später wieder ab. Sein vielfältiges, teils von der Romantik beeinflusstes Werk reicht von der Sinfonie bis zur „naiven“ Klavier-Bagatelle. Ähnlich dem Werk des ehemals sowjetisch-estnischen Komponisten Arvo Pärt, ist Silvestrovs Musik heute religiös gefärbt.
Der junge Geiger Smirnov ist von der stilistischen Vielfalt des Violinkonzerts fasziniert, die sicher mit dem internationalen Blick Silvestrovs auf Musik zusammenhängt. Im Jahr 2018, als das Violinkonzert in Weimar uraufgeführt wurde, verneinte dieser die journalistische Frage, ob ein ukrainischer Interpret sein Werk besonders gut verstünde und entgegnete, er selbst verstehe sich als europäischer Komponist. Dabei wies er auf die enge Verbindung von ukrainischer und russischer Kultur. Es gäbe im Werk des russischen Komponisten Peter Tschaikowski viele ukrainische Einflüsse. Tschaikowski als Name sei auch in der Ukraine verbreitet.
Die internationale kulturelle Verflochtenheit passt heutigen Kriegshetzern nicht. Sie bauen künstliche Mauern und greifen dabei ideologisch auf die Stalin- und Hitlerzeit zurück, als Künstler, an deren Staatstreue man zweifelte, schnell zu feindlichen, wurzellosen „Kosmopoliten“ wurden. In dieselbe Richtung geht die giftige Bemerkung des ehemaligen Chefs der grünen Heinrich Böll-Stiftung in Kiew, Sergej Sumlenny, Smirnov lebe als Russe in der Schweiz und habe nun einen deutschen Preis gewonnen. Smirnovs Interpretation des Silvestrov-Violinkonzerts bezeichnete er, ganz im Stile rassistischer Identitätspolitik, als „kulturelle Aneignung“.
Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk hetzte auf Twitter. „Ich werde nie wieder Osnabrück besuchen. Schönen Tag noch, ihr heuchlerischen ‚Brückenbauer‘. Diese musikalischen ‚Brücken‘ führen direkt in die Hölle.“ Melnyk hatte bereits ein Solidaritätskonzert für die Ukraine im März, zu dem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eingeladen hatte, demonstrativ nicht besucht, weil dort auch russische Musiker spielten.
Etliche Twitter-Gegenstimmen solidarisierten sich mit den Künstlern. Man verzichte gern auf den Besuch Melnyks. Mehrere Tweets spielten auf seine Verherrlichung des Nazi-Kollaborateurs Stepan Bandera an und empfahlen Melnyk, Deutschland zu verlassen. Hier sei kein Platz für Rechte wie ihn. In letzter Zeit hatten sich Melnyk und der ukrainische Präsident Selenskyj demonstrativ hinter das Asow-Regiment gestellt, das sich auf faschistische Traditionen gründet.
Die 8. Symphonie von Schostakowitsch erinnerte an dem Abend zur rechten Zeit nicht nur an den Überfall der deutschen Nationalsozialisten auf die UdSSR, sondern auch daran, dass im Zweiten Weltkrieg ukrainische und russische Soldaten gemeinsam die Sowjetunion gegen Hitler verteidigt hatten. Das Werk von 1943 gehört neben der berühmten 7., der Leningrader Symphonie, und der 9. Symphonie zu den sogenannten Kriegssymphonien von Schostakowitsch.
Dmitri Schostakowitsch ist heute einer der international populärsten moderneren Komponisten. Fast jeder hat zumindest einmal etwas von der Leningrader Symphonie gehört. Er ist zu einem Klassiker geworden wie Beethoven. Beide wurden geprägt von großen gesellschaftlichen Umbrüchen.
Wie Beethoven schrieb auch Schostakowitsch, der von der Oktoberrevolution und den ersten fortschrittlichen Jahren der frühen Sowjetunion inspiriert wurde, in der Zeit des Niedergangs der revolutionären Entwicklung Werke, die inspiriert waren vom humanistischen Ideal von Freiheit, Gleichheit und Verbrüderung.
Die 8. Symphonie entstand wenige Monate nach der siegreichen Schlacht um Stalingrad im Sommer während der größten Panzerschlacht des Zweiten Weltkriegs am Kursker Bogen. Vor dem Hintergrund der sich erstmals abzeichnenden künftigen Niederlage Hitlers wirkt die Symphonie wie ein erstes und besorgtes Nachdenken über die Zeit danach. Der Sieg über Hitler ist noch nicht der wirkliche Sieg. Da ist noch Stalin. Es gibt weite Strecken einer angespannten Ruhe, bis im 3. Satz eine hämmernde Motorik einsetzt, groteske Elemente, einzelne Gewaltausbrüche, bis die Symphonie nach mehreren Dialogen einzelner Instrumente in einer merkwürdig entrückten Ruhe endet.
Der fehlende Patriotismus der 8. Symphonie empörte die stalinistischen Funktionäre. Im Zuge der ab 1948 einsetzenden staatlichen Kampagne, gegen „formalistische“, so genannte nicht im Volk verwurzelte Kunst, wurde sie wie auch die nachfolgende 9. Symphonie verboten und erst nach Stalins Tod wieder gespielt. Offenbar traf sie damals den Nerv der Zeit.
Das bewegende Osnabrücker Symphoniekonzert traf ebenfalls den Nerv des Publikums, das sich Sorgen macht über die aktuelle Gefahr von Faschismus und Krieg. Die Entscheidung für ein Programm mit ukrainischer und russischer Musik, dargeboten durch den jungen russischen Preisträger Smirnov und das international besetzte Osnabrücker Symphonieorchester, enthält im Kern auch die richtige Orientierung gegen diese Gefahr: die internationale Zusammenarbeit von Arbeitern, Kulturfreunden, Jugendlichen gegen den Versuch, die Kunst in den Dienst eines Kriegs der NATO gegen Russland zu stellen, für den der Ukraine-Krieg nur der Auslöser ist.