Frankreich: Parlamentarisches Patt und zunehmende Klassenkämpfe erschüttern Macron

Am Mittwochabend hielt der französische Präsident Emmanuel Macron seine erste Ansprache an die Bevölkerung seit dem Debakel seiner Regierungskoalition „Ensemble“ bei der Parlamentswahl am Sonntag. In der zehnminütigen oberflächlichen Rede nannte er zwar keine konkreten politischen Maßnahmen, machte aber dennoch deutlich, dass die Wahl zu einer Herrschaftskrise von historischem Ausmaß geführt hat.

Er erklärte: „Am 24. April haben Sie Ihr Vertrauen in mich erneuert, indem Sie mich zum Präsidenten der Republik gewählt haben. Heute kann keine politische Kraft mehr alleine Gesetze machen. Stattdessen ist die Partei des Präsidenten im Parlament heute mit einer Parteienvielfalt konfrontiert... Um in Ihrem Interesse und dem Interesse der Nation zu handeln, müssen wir gemeinsam lernen, anders zu regieren und Gesetze anders zu schreiben.“

Macron erwähnte nichts von seinen Plänen, das Rentenalter um drei Jahre auf 65 zu erhöhen, Sozialleistungsempfänger zur Arbeit zu zwingen, die Studiengebühren massiv zu erhöhen und das Militär mit Milliarden Euro für einen Krieg gegen Russland aufzurüsten. Stattdessen forderte er, in den nächsten Tagen „klarzustellen, zu wie viel Verantwortung und Zusammenarbeit die unterschiedlichen Gruppierungen in der Nationalversammlung bereit sind... Einer Koalition beitreten, um zu regieren und zu handeln? Nur bei bestimmten Entwürfen abzustimmen, bei unserem Etat, oder bei welchen sonst? Es liegt jetzt an jeder einzelnen politischen Fraktion, sehr transparent zu sagen, wie weit sie gehen wird.“

Macron nimmt Kurs auf eine Konfrontation mit der Arbeiterklasse. Diese rebelliert jedoch nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa und im Rest der Welt gegen die Politik, die er durchsetzen will. Macron ignoriert das Ergebnis der Wahl, in der Jean-Luc Mélenchons Nouvelle Union Populaire écologique et sociale (NUPES) die meisten Stimmen erhalten und sich gegen seine Koalition „Ensemble“ durchgesetzt hat, und kündigt an, seinen Kurs gegen den Widerstand der Arbeiterklasse durchzusetzen.

Im Vorfeld von Macrons Rede erklärte der ehemalige Gesundheitsminister Olivier Véran, der jetzt für die Beziehungen zum Parlament zuständig ist, er erwäge eine Beteiligung der rechten Republicains, der Grünen, der kapitalistischen Parti Socialiste oder der stalinistischen Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) an einem Regierungsbündnis mit den Abgeordneten, die derzeit Macron unterstützen. Véran erklärte: „Es geht darum, eine Mehrheit für Fortschritt, Reform und die Umgestaltung unseres Landes zu ermitteln.“

KPF-Generalsekretär Fabien Roussel hatte im Vorfeld der Rede angedeutet, er erwäge eine mögliche Beteiligung an einer Allparteienregierung unter Macron. Allerdings erklärte er, dies sei für die KPF angesichts von Macrons extremer Unpopularität derzeit schwer.

Doch entgegen der Erwartungen erklärte Macron nicht eindeutig, ob er versuchen würde, eine Allparteienregierung zu bilden oder sein Programm mit einer Minderheitsregierung umzusetzen. Seine Rede endete mit einem besonderen Ultimatum an die Vorsitzenden der anderen Parteien im Parlament, sich sein reaktionäres Programm zu eigen zu machen.

Er erklärte: „Die meisten der führenden Politiker, mit denen ich gesprochen habe, haben die Möglichkeit einer Regierung der nationalen Einheit ausgeschlossen. Das ist eine Hypothese, die im Übrigen meiner Meinung nach derzeit nicht gerechtfertigt ist... Ich glaube daher, dass es in diesem entscheidenden Moment möglich ist, eine größere, klarere Mehrheit zu finden, um zu handeln... Ich hoffe, dass dieser politische Prozess in den kommenden Wochen mit Klarheit und Verantwortung fortgesetzt werden kann.'

In Wirklichkeit steht Macrons Regierung bereits weniger als zwei Monate nach seiner Wiederwahl am 24. April am Rande des Zusammenbruchs. Die Hauptursache dafür ist jedoch nicht, dass die Parlamentswahl zu einer Pattsituation geführt hat. Wenn man die Abgeordneten der LR, der PS und der Grünen berücksichtigt, besteht in der Nationalversammlung ein offener Konsens für ein Programm schneller und aggressiver Sparmaßnahmen gegen die Arbeiterklasse und einer militärischen Aufrüstung gegen Russland.

In der Tat hat der NUPES-Vorsitzende Mélenchon letzte Woche öffentlich seine Unterstützung für Macrons Reise nach Kiew erklärt, um die europäischen Waffenlieferungen an das rechtsextreme nationalistische Regime in der Ukraine für den Krieg gegen Russland zu verstärken.

Die Parteien im Parlament sind jedoch trotz dieser Unterstützung für Macrons Kurs nicht bereit, aktiv an seiner Regierung teilzunehmen, weil nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa und weltweit der Klassenkampf explosionsartig zunimmt.

Auf der anderen Seite des Ärmelkanals treten die britischen Eisenbahner mit dem Ziel in den Streik, die jahrzehntelangen Sozialangriffe auf die Arbeiterklasse und die Aufrüstung der Polizei und des Militärs seit der Niederlage des Bergarbeiterstreiks von 1985 rückgängig zu machen. Das ist jedoch nur der brisanteste einer ganzen Reihe von Kämpfen gegen die Verarmung der Arbeiter durch Inflation und die immer aggressivere Kriegspolitik gegen Russland, die in ganz Europa herrschen.

Am Montag streikten die belgischen Transportarbeiter, um gegen niedrige Löhne und die Nato-Aggression gegen Russland zu protestieren. Nächste Woche werden die französischen Lastwagenfahrer gegen steigende Spritpreise in den Streik treten. Im Gesundheitswesen und den Flughäfen von Frankreich und ganz Europa werden — vor dem Hintergrund anhaltenden kriminellen Versagens in der Corona-Politik — in den kommenden Wochen Streiks für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen ausbrechen.

Wenn die Kämpfe der Arbeiterklasse erfolgreich sein sollen, müssen sie der Kontrolle der nationalen Gewerkschaftsbürokratien entzogen werden, die mit Organisationen wie NUPES verbündet sind. Sie müssen als politischer Kampf gegen die Regierungen der Europäischen Union (EU) geführt werden. Die Macron-Regierung und die gesamte EU werden absolut rücksichtslos gegen die Lohnforderungen und den Widerstand der Arbeiter gegen den Krieg vorgehen, die sie als unannehmbar betrachten. Die entscheidende Aufgabe ist daher die bewusste internationale Vereinigung der Arbeiterklasse in einem Kampf für den Sozialismus.

Dieser Kampf gegen Inflation, die Pandemie und imperialistischen Krieg kann nur als ein Kampf zum Sturz der Macron-Regierung und ihrer Verbündeten in der EU sowie für den Übergang der Macht an die Arbeiterklasse erfolgreich sein. Immer breitere Schichten von Arbeitern, die in den Kampf eintreten, werden in einen offenen Konflikt mit Organisationen wie der KPF oder NUPES getrieben. Diese werden von den kapitalistischen Medien fälschlich als „links“ bezeichnet, streben aber einen Kompromiss mit Macron an.

Macron züchtet sich das gesamte NUPES-Bündnis als potenzielle Unterstützung seiner Regierung gegen die Arbeiter heran. Das gilt nicht nur für Roussels KPF, sondern auch für die Partei Unbeugsames Frankreich (LFI), die von Mélenchon selbst angeführt wird.

Obwohl sich LFI als unnachgiebige Opposition gegen Macron präsentiert, signalisiert sie gleichzeitig ihre Bereitschaft zu einem Deal mit Macron. Der hohe LFI-Funktionär Adrien Quatennens besuchte Macron im Elysée-Palast zu Gesprächen und erklärte anschließend: „Wir stehen aufgrund unserer politischen Diagnose nicht für Arrangements, Kombinationen oder Teilnahme an einer Regierung mit dem Präsidenten der Republik zur Verfügung. Wir brauchen eine Regierung, die das Gegenteil von dem tut, was seine Regierung tut. Ich habe ihm gesagt, dass es für uns völlig inkohärent und unwahrscheinlich ist, an so einer Koalition teilzunehmen.“

Gleichzeitig erklärte Quatennens: „Wir waren nie Opposition aus Prinzip“, und fügte hinzu, LFI hoffe darauf, dass sich die Mehrheit der Nationalversammlung während Macrons Amtszeit auf ein „großes Gesetz zur Bewältigung der sozialen Notlage“ einigen kann. Er erklärte auch stolz, Macron habe ihm persönlich mitgeteilt, er halte LFI als Partei für vereinbar mit der bestehenden französischen Republik. Das bedeutet, Macron und LFI wissen, dass sie vereint gegen die Gefahr einer Revolution kämpfen.

Dass in der Präsidentschaftswahl im April fast acht Millionen Menschen für Mélenchon gestimmt hatten, und in der Parlamentswahl fast ein Viertel der Wahlberechtigten für NUPES, ist kein Ausdruck der Unterstützung für die Manöver von LFI mit Macron. Es signalisiert vielmehr den Willen zu einem entschlossenen politischen Kampf gegen Macron. Angesichts der Verschärfung des Klassenkampfs wird diese Bewegung weiter anwachsen und noch breitere Schichten der Arbeiter in den Kampf treiben.

Während der Präsidentschaftswahl hatte die Parti de l’égalité socialiste (PES) die Behauptung zurückgewiesen, Macron sei eine „demokratische“ Alternative zu seiner Gegnerin im zweiten Wahlgang, der Neofaschistin Marine Le Pen. Die PES forderte unmissverständlich einen Boykott der Wahl, um eine Bewegung in der Arbeiterklasse gegen den Wahlsieger zu formen. Das Anwachsen des Klassenkampfes gegen Macron hat diese Perspektive bestätigt. Die trotzkistische Alternative muss im Widerstand gegen die NUPES und ihre politischen Satelliten aufgebaut werden, die einen Deal mit Macron anstreben.

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