Die Flut vor einem Jahr: nicht bloß eine Naturkatastrophe

Vor einem Jahr, in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021, verwüsteten die Flutwellen eines extremen Hochwassers mehrere westeuropäische Regionen. Im Ahrtal (Rheinland-Pfalz) und in Teilen von NRW und der belgischen Wallonie verloren 220 Menschen ihr Leben. Tausende wurden verletzt, Zehntausende obdachlos. Die Wassermassen zerstörten ganze Ortschaften, und die Menschen blieben tage- und wochenlang ohne Strom und Trinkwasser, Telefon- oder Transportverbindung zurück.

Altenahr ein Jahr danach, im Juni 2022 (Foto: WSWS)

Die World Socialist Web Site (WSWS) betonte von Anfang an, dass die Katastrophe kein unvermeidliches Naturereignis war. Seither hat sie dies in zahlreichen Artikeln und Statements nachgewiesen. In einer Zwischenbilanz stellte die WSWS im Dezember fest:

Die schweren Folgen der Flutkatastrophe waren nicht einfach das Ergebnis einer Naturkatastrophe „unvorstellbaren Ausmaßes“, sondern das Ergebnis der Verantwortungslosigkeit von Politikern und Behörden in Bund, Ländern und Kommunen. Vor allem dass die Flut so viele Menschen getötet und so verheerende Schäden angerichtet hat, ist eine direkte Folge der kriminellen Untätigkeit der Regierungen auf Bundes- und Landesebene.

Am gestrigen Donnerstag, dem Jahrestag der Flut, hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) das Ahrtal besucht. Unter starker Polizeipräsenz verdrückte er medienwirksam ein paar Krokodilstränen und versprach den Anwohnern: „Wir haben euch nicht vergessen.“

Allerdings verfolgten nur sehr wenige Flutopfer Steinmeiers Auftritt. Ein Zuschauer kritisierte: „Viele Häuser sind ja weiter kaputt, beschädigt und unbewohnbar“, und ein Ehepaar sagte: „Sie sehen ja hier das Interesse der Bevölkerung. Das ist ja null, weil eh nicht geholfen wird oder wenig geholfen wird. Die Helfer, die geholfen haben, hohen Respekt, wirklich hohen Respekt, aber vor dem Rest. Nein.“

Tatsächlich haben die Flutopfer an Ahr, Erft und Rur, Ruhr und Wupper in den letzten zwölf Monaten eine gemeinsame Erfahrung gemacht: Während die spontane Hilfe aus der Bevölkerung vom ersten Tag an überwältigend war, versagten die zuständigen Behörden auf ganzer Linie.

Das Versagen begann bei dem fehlenden Alarm, dem Ausbleiben von Vorwarnungen und vorsorglichen Evakuierungen und setzte sich im arroganten Desinteresse der zuständigen Politiker fort. Besonders schlimm ist, dass bis heute die notwendige finanzielle Hilfe ausbleibt, obwohl die Bundesregierung 30 Milliarden Euro versprochen hatte. Nicht einmal die Spendengelder in Millionenhöhe, die aus der Bevölkerung gesammelt wurden, werden sinnvoll, rasch und systematisch verteilt und ausgezahlt.

Schon im letzten Jahr hatten prominente Politiker die Flutgebiete besucht: die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die Ministerpräsidenten von NRW und Rheinland-Pfalz Armin Laschet (CDU) und Malu Dreyer (SPD), der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Sie alle hatten schnelle Soforthilfen und „unbürokratische Hilfe“ versprochen. Dennoch haben auch ein Jahr nach der Flut erst ganz wenige Betroffene die ihnen zustehende finanzielle Unterstützung erhalten.

Gleichzeitig hat in diesem Jahr die Regierung ihren Sonderfonds für die Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro beschlossen und den Verteidigungshaushalt massiv aufgestockt. In der Pandemie hat sie die Banken und Konzerne mit Hunderten Milliarden ausgestattet. Doch im Ahrtal und anderen Flutgebieten sind die Zerstörungen immer noch allgegenwärtig.

Andere Missstände kommen hinzu. Bei Flutopfern und Helfern stößt das frühzeitige Abbrechen von Versorgungszelten, -küchen und -stationen auf Unverständnis, wie auch das Schließen der kostenlosen Mülldeponien, wo der Bauschutt aus den zerstörten Häusern entsorgt werden konnte.

Vor allem befürchten viele, dass der Wiederaufbau nicht aufgrund wissenschaftlicher Analysen der Flutursachen erfolgen könnte. Nach wie vor ist unklar, wo Häuser, die sehr nah an der Ahr standen und von der Flut hinweggeschwemmt wurden, wieder aufgebaut werden sollen. Ein neues Hochwasserkonzept liegt noch immer nicht vor, und nach Aussagen eines Verantwortlichen kann das noch mindestens zwei bis drei Jahre dauern.

Wenige Tage nach der Flutkatastrophe publizierte die WSWS eine Erklärung mit dem Titel „Die Flutkatastrophe und der Bankrott des Kapitalismus“. Darin benannte sie die doppelten Ursachen der Hochwasserkatastrophe: „Erstens ist sie ein direktes Ergebnis der vom kapitalistischen Profitsystem verursachten Klimakrise, die zu immer heftigeren Extremwetterereignissen führt“, heißt es dort.

Hochwasserkatastrophen und Dürren sind als Folgen der Klimakrise seit langem bekannt und erforscht. Aber obwohl sie letztendlich „das Überleben des Planeten und der gesamten Menschheit gefährden, ist die herrschende Klasse unfähig und unwillig, ernsthafte Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen, weil dies ihr Profitstreben und ihre geostrategischen Interessen unterminieren würde.“

Zweitens wies die WSWS auf die „seit Jahrzehnten vernachlässigte und kaputt gesparte Infrastruktur“ hin. Sie schrieb:

Dazu gehören neben notwendigen Hochwasserschutzmaßnahmen ein funktionierendes Frühwarnsystem und ein gut ausgestatteter und effektiver Katastrophenschutz. Internationale Experten wiesen darauf hin, dass die hohen Todeszahlen direkt auf Mängel in diesen Bereichen zurückzuführen seien.

Am 22. Juli 2021 reiste ein Reporterteam der World Socialist Web Site in das Ahrtal, wo die Flutkatastrophe allein 134 Menschen getötet hatte, und sprach mit Betroffenen und freiwilligen Helfern. Daraus entstand ein Video, das mittlerweile von mehr als 300.000 Zuschauern gesehen wurde. Es zeigt das erschütternde Ausmaß der Flutkatastrophe und die Wut der Anwohner – vor allem das völlige Versagen der Behörden: „Die hätten ab 5 Uhr durchfahren können, dann hätten wir hier keine Toten!“

Flutkatastrophe: „Die hätten ab 5 Uhr durchfahren können. Dann hätten wir hier keine Toten!“

Bezeichnend war während der Flut das kalte und gleichgültige Verhalten von Politikern und Politikerinnen. Im April 2022 mussten schließlich die nordrhein-westfälische und die rheinland-pfälzische Umweltministerin zurücktreten.

Anne Spiegel (Die Grünen) war da schon zur Familienministerin der Ampelkoalition aufgestiegen. Noch als Umweltministerin von Rheinland-Pfalz war sie dafür verantwortlich, dass die Bewohner des Ahrtals nicht rechtzeitig vor der herannahenden Flutwelle gewarnt worden waren, was die meisten Todesfälle hätte verhindern können.

Zehn Tage nach der Flut verreiste Spiegel mit ihrer Familie in einen vierwöchigen Frankreich-Urlaub, den sie nur einmal für einen Vor-Ort-Termin im Ahrtal unterbrach. Als die Menschen dort um ihre toten Angehörigen trauerten, ließ sie sich bei ihrem kurzen Besuch fotografieren, um einen positiven Eindruck zu erwecken.

Dazu schrieb die WSWS in ihrem Kommentar „Verantwortungslosigkeit während der Flutkatastrophe“:

Spiegel verkörpert das Milieu der Grünen – ein gesellschaftliches Milieu, dessen Welt sich um die eigene Befindlichkeit dreht, das bereit ist, für die eigene Karriere über Leichen zu gehen, und das gegenüber ärmeren Schichten nur Verachtung übrig hat.

Auch Ursula Heinen-Esser (CDU), die nordrhein-westfälische Umweltministerin, trat im April 2022 zurück. Nicht nur hatte sie ihren Mallorca-Urlaub trotz der tödlichen Flut fortgesetzt, sondern später versucht, dies durch Lügen und Ausflüchte zu vertuschen. „Die Gleichgültigkeit gegenüber den Bedürfnissen der Bevölkerung, die im Verhalten von Spiegel und Heinen-Esser zum Ausdruck kommt, zeigt die wirklichen Prioritäten aller kapitalistischen Parteien“, kommentierte die WSWS. „Daran wird sich auch nach ihrem Rücktritt nichts ändern.“

Die gestrige Jahresfeier mit Steinmeier hat nur erneut die große Wut in der Bevölkerung angefacht. Sie beleuchtet den tiefen Graben, der zwischen den Betroffenen und einer abgehobenen Politikerschicht klafft.

Wie die WSWS in ihrer Bilanz vom 25. Juni 2022 schreibt, ist „den Politikern aller Couleurs eine wirkliche Aufklärung der Flutkatastrophe vollkommen unwichtig: wie es dazu kommen konnte, wer dafür verantwortlich ist, und wie derartige Katastrophen in Zukunft verhindert werden können.“ Und weiter heißt es dort:

Die Arbeiterklasse muss daraus die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen. Sie kann sich im Kampf gegen die Klimakatastrophe und deren Auswirkungen – Hochwasser, Überflutungen, Dürren, Waldbrände, etc. – nicht auf die kapitalistischen Politiker stützen, sondern braucht eine unabhängige Perspektive.

Millionen von Menschen sind weltweit seit Jahren von Flut- oder Hitzekatastrophen betroffen. Heftige Brände werden aus Griechenland und Spanien, Überflutungen aus der Türkei, den USA, Asien und Australien gemeldet, um nur einige Länder zu nennen. In Afrika leiden Millionen Menschen unter den Dürreperioden. In Indien und Bangladesch haben gerade wieder Tausende durch besonders starke Regenfälle und Überschwemmungen ihr Leben und Millionen ihre Wohnungen und Unterkünfte verloren.

(…) Weltweit entwickelt sich die Opposition gegen diese unerträglichen Bedingungen. Der Kampf gegen den Klimawandel und die damit verbundenen Gefahren und Katastrophen ist Bestandteil dieser Kämpfe gegen soziale Ungleichheit, Pandemie, Faschismus und Krieg. Er erfordert die revolutionäre Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus. Nur durch eine weltweite sozialistische Reorganisation der Gesellschaft, in der die Bedürfnisse der großen Mehrheit der Bevölkerung an erster Stelle stehen, kann auch der Kampf gegen den Klimawandel gewonnen werden und sichergestellt werden, dass sich Flutkatastrophen wie die vom Juli 2021 nicht wiederholen.

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