Steigende Zahl schwerer Verläufe und Ausbreitung infektiöserer Varianten

Während die Zahl der schweren Verläufe steigt und sich infektiösere Varianten ausbreiten, zeigen Politiker parteiübergreifend ihre Bereitschaft, einen neuen Todeswinter in der Pandemie hinzunehmen.

In der letzten Woche waren in Deutschland zwischen 700.000 und 1,6 Millionen Menschen symptomatisch mit dem Virus infiziert. Obwohl die Herbstferien, die derzeit in vielen Bundesländern sind, das Infektionsgeschehen offenbar reduziert haben, liegt die 7-Tage-Inzidenz immer noch bei 464,1 Infektionen pro Hunderttausend Einwohner. Die offiziellen Zahlen geben, auf Grund der Abschaffung von Testpflichten und -infrastruktur, jedoch schon längst das tatsächliche Infektionsgeschehen nur unzureichend wieder.

Das zeigt sich an der weiter steigenden Zahl von Ausbrüchen in Krankenhäusern und Altenheimen. In medizinischen Behandlungseinrichtungen gab es in der letzten Woche 274 Ausbrüche – 126 mehr, als in der Vorwoche. Zudem sind 38 Menschen an vergangenen Ausbrüchen gestorben. In Alten- und Pflegeheimen stieg die Anzahl der Ausbrüche von 567 in der Vorwoche auf 687 in der vergangenen Woche. Dort sind 99 Menschen an vorangegangenen Ausbrüchen gestorben.

Besonders deutlich wird der Ernst der Lage an den Kliniken. Die Hospitalisierungsinzidenz steigt seit Wochen an und liegt adjustiert bei 20 pro 100.000, was rund 16.000 Hospitalisierungen pro Woche entspricht. Sie hat sich damit innerhalb von einem Monat verdreifacht. 1723 Menschen müssen intensivmedizinisch behandelt werden

Bereits vor zwei Wochen erklärte der Vorstandsvorsitzende der Deutschen-Krankenhausgesellschaft (DKG) Gerald Gaß gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND): „Wir haben erhebliche Zuwächse bei den covidpositiven Patienten. Im Vergleich zur Vorwoche ist die Belegung um 50 Prozent gestiegen. … Mit rund 19.000 positiv getesteten Patienten liegen wir aktuell so hoch wie zu Spitzenzeiten der Sommerwelle. … Wir laufen flächendeckend und nicht nur in Süddeutschland auf extrem schwierige Wochen zu.“

Auch Christian Karagiannidis, Leiter des DIVI-Intensivregisters, warnte: „In einigen Regionen von Bayern, Hessen und in mehreren Städten in NRW haben wir bereits Hotspots, wo es kaum freie Intensivbetten mehr gibt, weil das Personal häufig symptomatisch und auch länger ausfällt.“

Seitdem sind die Hospitalisierungszahlen konstant angestiegen und bringen viele Kliniken an den Rand der Überlastung. „Die Notfallzentren sind überfüllt, die Patienten stapeln sich auf den Fluren“, klagte beispielsweise der Betriebsrat der städtischen München Klinik. Im Caritas-Krankenhaus Bad Mergentheim (Main-Tauber-Kreis), erklärte der Ärztliche Direktor, werden zurzeit so viele Corona-Patienten behandelt, wie seit zwei Jahren nicht mehr. Auch die schweren Verläufe nehmen zu.

Zusätzlich belastet die Krankenhäuser auch eine hohe Zahl von Personalausfällen, durch Infektion des Personals. So warnte der Vorsitzende der Landeskrankenhausgesellschaft Brandenburg (LKB) Detlef Troppens am Montag: „Wir haben 10 bis 15 Prozent Stationsschließungen“. Es kommt bereits zu Einschränkungen bei der Behandlung von Patienten.

Auch die steigenden Energiekosten in Folge des Kriegs gegen Russland bringen zahlreiche Krankenhäuser an den Rand des Zusammenbruchs. „Die finanzielle Lage spitzt sich weiter drastisch zu und nimmt existenzgefährdende Ausmaße an“, berichtete der Sprecher der Geschäftsführung am Städtischen Klinikum in Brandenburg an der Havel, Björn Saeger. Auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) selbst warnte, dass Krankenhäuser „in den nächsten Monaten in eine ganz drastische Liquiditätsproblematik kommen“.

Der Anstieg der Zahl der schweren Verläufe hat auch eine wachsende Zahl von Todesfällen zur Folge. Seit Beginn der Woche sind bereits 895 Menschen gestorben – also im Schnitt 179 pro Tag. Das sind mehr als doppelt so viele, wie vor einem Jahr zur selben Zeit und rund fünf mal so viele, wie vor zwei Jahren zur selben Zeit.

Die Lage droht sich im Herbst und Winter durch die Ausbreitung der Omikron-Subvarianten BQ.1 und BQ.1.1 noch weiter zu verschlimmern. Beide Varianten weisen eine hohe Immunflucht auf, so dass auch kürzlich Genesene und vollständig Geimpfte sich mit der Variante anstecken können.

Nach den Daten des RKI beträgt der Anteil der BQ.1 Variante derzeit zwei Prozent des Infektionsgeschehens und die BQ.1.1 Variante knapp drei Prozent. Die Zahlen liegen dem Infektionsgeschehen jedoch rund drei Wochen hinterher und sind damit bereits um einiges höher.

Nach Berechnung des Deutschen Krebsforschungszentrum liegt der Anteil bereits bei sechs und sieben Prozent. Der Cambridge-Wissenschaftler und Bioinformatiker Cornelius Römer vermutet laut Spiegel, dass der Anteil von BQ.1.1 bereits bei zehn Prozent liegt.

Er geht davon aus, „dass BQ.1.1 noch vor Ende November eine Variantenwelle in Europa und Nordamerika antreiben wird. Sein relativer Anteil hat sich jede Woche mehr als verdoppelt.“ Zu der aktuellen Herbstwelle käme dann eine weitere – durch die Omikron-Subvarianten angetriebene – Welle. Das Ergebnis wäre eine Doppelwelle.

Zahlreiche Wissenschaftler teilen diese Meinung: Der deutsche Charité-Impfstoffforscher, Leif Sander, vermutet laut Augsburger Allgemeinen: „In den nächsten Wochen könnte BQ.1.1 die verbreitetste Variante werden und BA.5 verdrängen.“

Und Friedemann Weber, Direktor des Instituts für Virologie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen, erklärt dem Focus, BQ.1.1 sei „die im Moment am schnellsten zunehmende Virusvariante in Deutschland. Zwar ist ihr Anteil an den Fällen relativ klein und BA.5 weiterhin dominant, aber das kann sich bald ändern, denn die BQ1.1-Kurve verläuft deutlich steiler.“

Politiker aller Parteien haben jedoch klargemacht, dass sie weder etwas gegen die steigende Zahl schwerer Verläufe, noch gegen die Ausbreitung neuer Varianten unternehmen werden. Trotz des Anstiegs der letzten Wochen hat keine Landesregierung verschärfte Infektionsschutzmaßnahmen getroffen. Im Gegenteil verkünden zahlreiche führende Politiker offen ihre Absicht, die derzeitigen Zustände hinzunehmen.

So warnte Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) davor, Schulen oder Kinder- und Jugendeinrichtungen in den kommenden Monaten zu schließen. „Auf keinen Fall dürfen in diesem Herbst und Winter Kitas und Schulen, Turnhallen und Jugendclubs dichtgemacht werden. Nicht wegen Corona und auch nicht wegen Energieeinsparungen.“

Brandenburgs SPD-Landtagsfraktionschef Daniel Keller lehnte die Forderung nach einer Ausweitung der Maskenpflicht ab mit der Begründung: „Die Inzidenz in Krankenhäusern ist im roten Bereich, bei der Belegung der Intensivbetten sind wir aber noch nicht im kritischen Bereich“, Er warnte vor „politischem Aktionismus“: „Wir haben eine Maskenpflicht, da wo es relevant ist.“

Auch der bayrische Ministerpräsident Markus Söder schloss in seiner Rede auf dem CSU-Parteitag wirkliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie aus: „Absperren im Winter werden wir nicht mehr machen. Auf keinen Fall.“ Deutschland sei auf dem Weg zur Endemie und auch eine Lockerung der Quarantäneregel werde die Staatsregierung ins Visier nehmen.

Die grün-schwarze Landesregierung in Baden-Württemberg ging letzte Woche sogar soweit, die Maskenpflicht in Pflegeheimen zu kippen.

Loading