Perspektive

Schreiben von 300 Wirtschaftsverbänden fordert Weißes Haus auf, gegen wachsende Bewegung der Eisenbahner zu intervenieren

Am Mittwoch stimmten die Fahrdienstleiter als dritte von 12 Berufsgruppen im US-Eisenbahnsektor gegen einen landesweiten Tarifvertrag, der von der Biden-Regierung Biden und den Verhandlungsführern der Gewerkschaften ausgehandelt wurde. Der Vertrag ist dazu bestimmt, einen landesweiten Streik zu verhindern, und erfüllt keine der Forderungen der Beschäftigten.

Ein Güterzug der Bahngesellschaft Norfolk Southern auf den Hochbahngleisen in Philadelphia, Pennsylvania (Mittwoch, 27. Oktober 2021, AP Photo/Matt Rourke) [AP Photo/Matt Rourke]

Der ganze Deal steht nun kurz vor einem kläglichen Aus. Nachdem Vertreter des Weißen Hauses im vergangenen Monat hinter verschlossenen Türen eine Vereinbarung mit einigen Dutzend Gewerkschaftsbürokraten ausgearbeitet hatten, gingen sie davon aus, dass alles geregelt sei. Es gibt indessen etwas, womit sie nicht gerechnet haben – 120.000 Bahnarbeiter, die entschlossen sind, für das zu kämpfen, was ihnen zusteht. Am Montag soll die Abstimmung für 60.000 Lokführer und Zugbegleiter beginnen. Das Votum der Fahrdienstleiter ändert das Kräfteverhältnis nun dahingehend, dass auch eine Ablehnung dieser Verträge umso wahrscheinlicher wird.

Die Eisenbahner, die Anfang dieses Jahres fast einstimmig für einen Streik gestimmt haben, drängen auf einen landesweiten Streik. Dies wäre die stärkste Streikbewegung in den Vereinigten Staaten seit Jahrzehnten. 40 Prozent der Güterverkehrskapazität des Landes wären unmittelbar stillgelegt. Noch wichtiger ist, dass dies die Arbeiter in anderen Branchen – einschließlich der Hafenarbeiter an der Westküste, die von der Gewerkschaft und dem Weißen Haus ohne jeden Vertrag am Arbeitsplatz gehalten werden – dazu ermutigen würde, ihre eigenen Forderungen durchzusetzen. Arbeiter überall würden sehen, dass sie sich gegen die Konzerne, die korrupte Gewerkschaftsbürokratie und sogar gegen die Regierung behaupten können.

Nun ist das Amerika der Banken und Konzerne in den Ring gestiegen, um allen Beteiligten Marschbefehle zu erteilen. Am Donnerstag forderten mehr als 300 Wirtschaftsverbände in einem offenen Brief die Biden-Regierung zum Eingreifen auf, um einen Streik zu verhindern. „Es ist von größter Wichtigkeit, dass diese Verträge jetzt ratifiziert werden“, heißt es in dem Schreiben, „da ein Stillstand der Bahn erhebliche Auswirkungen auf die US-Wirtschaft hätte und zu weiterem Inflationsdruck führen würde.“

In dem Brief heißt es weiter: „Da das Weiße Haus eine so zentrale Rolle in dem Prozess [der zu dem Vertrag führte] gespielt hat, sind wir der Ansicht, dass es dabei hilfreich sein kann, den Prozess weiter in eine positive Richtung voranzutreiben. Andernfalls wird der Kongress zum Handeln aufgefordert werden.“

In dem Schreiben spricht praktisch die gesamte amerikanische Wirtschaft mit einer Stimme – von der US-Handelskammer bis ganz hinunter zur Ohio Soybean Association. Trotz einer beispiellosen politischen Krise in Washington und einer regelrecht gewalttätigen Atmosphäre zwischen den beiden Parteien hält die herrschende Klasse insgesamt gegen die Bedrohung von unten durch die Arbeiterklasse zusammen.

Die Tatsache, dass Klassen die grundlegende Trennlinie in der Gesellschaft sind und nicht „Rasse“, Geschlecht oder andere Kategorien der persönlichen Identität, wird durch die wachsende Bewegung der Arbeiterklasse selbst an die Oberfläche gebracht.

Die Warnung vor den Auswirkungen eines Streiks auf „die Wirtschaft“ trieft nur so vor Heuchelei. Sie stammt von einer Klasse wirtschaftlicher Brandstifter, die mit Hilfe der Geldpolitik Washingtons absichtlich eine Rezession herbeiführen, um Arbeitslosigkeit als Waffe gegen Forderungen nach Lohnerhöhungen einzusetzen. Derartige Bedenken hinsichtlich „der Wirtschaft“ wurden im Zusammenhang mit den katastrophalen sozialen Kosten des weithin abgelehnten Nato-Kriegs in der Ukraine, der zu den steigenden Energiepreisen beigetragen hat, nie geäußert.

Die Lösung für dieses Problem ist jedenfalls einfach: Die Annahme der vernünftigen Forderungen der Arbeiter, zu denen bezahlte Krankentage, ein Ausgleich für steigende Lebenshaltungskosten und ein Ende der brutalen Anwesenheitsregelungen (bei der Arbeiter praktisch ständig auf Abruf sind), die Zehntausende aus der Branche vertrieben hat. Aber obwohl der Bahnverkehr der profitabelste Industriezweig Amerikas ist, weigert man sich, dies auch nur in Erwägung zu ziehen.

Die Forderung des Schreibens, Biden solle eingreifen, um sicherzustellen, dass der Vertrag „ratifiziert werde“ – d. h. mit oder ohne Zustimmung der Arbeiter – bringt die typische Haltung einer korporatistischen Diktatur zum Ausdruck. Die Arbeiter haben nach Ansicht der Unterzeichner nicht nur kein Streikrecht, sondern nicht einmal das Recht, über ihre eigenen Verträge zu entscheiden. Wenn die Arbeiter nicht richtig abstimmen, werden das Weiße Haus oder der Kongress eingreifen und die „richtige“ Entscheidung herbeiführen. Das Schreiben läuft praktisch auf folgende Botschaft hinaus: „Schluss mit dieser Einmischung durch die Arbeiter. Unsere Gewinne stehen auf dem Spiel!“

Die Biden-Regierung hat versucht, die Verträge mit Hilfe der wirtschaftsfreundlichen Gewerkschaftsbürokratie durchzusetzen, die kontinuierlich daran gearbeitet hat, die Stärke der Arbeiter zu sabotieren und ihre Initiative zu untergraben. Durch endlose Verlängerungen der Streikfristen, Verzögerungen bis nach den Zwischenwahlen, um die Interventionsmöglichkeiten des Kongresses zu stärken, und sogar durch offenen Wahlbetrug versucht die Regierung Biden, mithilfe des Gewerkschaftsapparats ein De-facto-Streikverbot durchzusetzen.

Die Arbeiter haben jedoch zunehmend die Nase voll davon, und der Apparat der Gewerkschaften sieht sich diskreditiert und isoliert. Dies war der Hintergrund für das Schreiben des Präsidenten der Gewerkschaft Brotherhood of Maintenance of Way Employes Division (BMWED), Tony Cardwell, vom Mittwoch, in dem er „Randgruppen“ angriff, die „nicht genehmigte, illegale Streiks“ befürworteten. Tatsächlich wäre ein Streik zu diesem Zeitpunkt keineswegs illegal. Er wäre außerdem nur deshalb „nicht genehmigt“, weil Cardwell und andere Gewerkschaftsfunktionäre sich weigern würden, sie zu genehmigen.

Unmittelbar richtete sich das Schreiben gegen das Railroad Workers Rank-and-File Committee (RWRFC, Aktionskomitee der Eisenbahnarbeiter), eine Gruppe von Eisenbahnern, die sich gegen den Verrat der Gewerkschaften einsetzen und dafür eintreten, dass die Arbeiter das Sagen haben. In Wirklichkeit aber griff Cardwell die überwältigende Zustimmung zu Streiks an, die von den Arbeitern immer wieder per Abstimmung „genehmigt“ wurden.

Indessen räumte Cardwell in dem Schreiben ein, dass es eine geheime Abmachung mit den Bahngesellschaften gibt. Diese ist darauf ausgerichtet, den Status quo in die Länge zu ziehen, falls die Arbeiter den BMWED-Vertrag ablehnen (was sie vor zwei Wochen getan haben). Laut Cardwell handelt es sich bei Arbeitern, die die Forderung erheben, dass der Wille der überwältigenden Mehrheit respektiert wird, lediglich um „Randgruppen“, während Gewerkschaftsfunktionäre, die sich über den Willen der Arbeiter hinwegsetzen, keine Randgruppen sind. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass Cardwell einen ähnlich wütenden Brief schreiben wird, der sich gegen die Forderungen des Amerika der Banken und Konzernen nach direkteren staatlichen Eingriffen wendet, um sicherzustellen, dass die Verträge „ratifiziert werden“.

Das Aktionskomitee RWRFC veröffentlichte am Donnerstag eine Antwort auf Cardwell. „Woher nehmen Sie das Recht, die alleinige Befugnis dafür zu beanspruchen, einen Streik zu ,genehmigen’?“, fragte das Komitee darin. „Es steht Ihnen und Ihren Bürokratenkollegen nicht zu, sich über uns hinwegzusetzen und uns zu sagen, was wir zu tun haben“. Am Ende der Antwort heißt es: „Im Namen unserer 120.000 Kolleginnen und Kollegen geben wir Ihnen folgende Anweisungen: Wenn Sie nicht bereit sind, sich an den erklärten Willen der Mitglieder zu halten, dann treten Sie beiseite.“

Im Jahr 1937 merkte Leo Trotzki zum Charakter der Gewerkschaften an, dass dieser „durch ihr Verhältnis zur Verteilung des Nationaleinkommens bestimmt“ sei. Sollten die Gewerkschaftsapparate „die Einkünfte der Bourgeoisie gegen alle Angriffe von Seiten der Arbeiter [verteidigen], d. h. führten sie einen Kampf gegen Streiks, gegen Lohnerhöhungen, gegen Arbeitslosenunterstützung“, erklärte Trotzki, „so hätten wir mit einer Organisation von Gelben [Streikbrechern] zu tun und nicht mit einer Gewerkschaft.“

Diese Definition, in die selbst die konservativsten Gewerkschaften zu Trotzkis Zeiten in der Regel nicht ganz hinein passten, beschreibt die Aktivitäten der bürokratisch kontrollierten Gewerkschaften von heute voll und ganz. Sie arbeiten bewusst und absichtlich im Namen der Unternehmenselite gegen die Arbeiter, die sie angeblich vertreten.

Doch während die schlimmste wirtschaftliche und soziale Krise seit Generationen die Arbeiterklasse in den Kampf treibt, bröckelt die Autorität des Apparats. Noch während die Eisenbahner ihre Verträge zurückweisen, entwickelt sich in der Autoindustrie eine starke Unterstützung für Will Lehman, ein Autoarbeiter, der für das Amt des Präsidenten der Gewerkschaft United Auto Workers kandidiert und sich für die Abschaffung der Bürokratie und die Übertragung der Macht an die Belegschaft einsetzt.

Auf der ganzen Welt entsteht eine Streikbewegung, die sich zu einem offenen politischen Konflikt mit den kapitalistischen Regierungen entwickelt. Die Streiks der Eisenbahner und Hafenarbeiter in Großbritannien trugen wesentlich zum Sturz von Premierministerin Liz Truss nach nur sechs Wochen Amtszeit bei. In Frankreich wurden ein landesweiter Streik in den Raffinerien sowie massenhafte Solidaritätsaktionen, an denen Hunderttausende von Arbeitern teilnahmen, von dem millionenschweren Präsidenten Emmanuel Macron mit brutaler Polizeirepression beantwortet. Zuvor zwangen Massenproteste gegen schrankenlose Preiserhöhungen im Inselstaat Sri Lanka den dortigen Präsidenten zum Rücktritt und zur Flucht aus dem Land.

Die Arbeiter müssen das Schreiben vom Donnerstag als eine Warnung verstehen. Wenn die Oligarchie in den Konzernen zu dem Schluss kommt, dass bei der Bekämpfung von Widerstand unter Arbeitern auf die Gewerkschaften kein Verlass mehr ist, dann ist sie bereit, diesem mit offeneren, unverhüllteren Formen staatlicher Repression entgegenzutreten. Erst kürzlich hat etwa der Oberste Gerichtshof zugestimmt, einen Fall zu verhandeln, der die Möglichkeiten von Unternehmen, Rechtsstreite wegen wirtschaftlicher „Schäden“ durch Streiks zu führen, erheblich erweitern würde.

Die gesamte bisherige Erfahrung enthält eine Reihe grundlegender Lehren für die Eisenbahner und für die gesamte Arbeiterklasse.

Erstens kann die Opposition der Arbeiter keinen anderen organisierten Ausdruck finden, als durch die Gründung von Basisorganisationen, einschließlich Fabrik- und Betriebskomitees. Nur solche Organisationen können die Arbeiter unabhängig vom und in Opposition zum Gewerkschaftsapparat mobilisieren und alle Teile der Arbeiterklasse in einem gemeinsamen Kampf vereinen.

Zweitens werden die Arbeiter dadurch in einen politischen Kampf gegen die gesamte korporatistische Verflechtung von Regierung, Unternehmen und Gewerkschaftsbürokraten getrieben. Im Fall der Eisenbahner zeigt sich die Rolle des Staates als Instrument der Klassenherrschaft direkt in Form von Drohungen des Kongresses (sowohl der Demokraten als auch der Republikaner), selbst zu intervenieren, und ebenso in der Rolle, die das Weiße Haus bei der Aushandlung des mit Zugeständnissen gespickten Tarifvertrags gespielt hat. Doch zeigt sich hier schlicht die grundlegende Natur des Staates selbst – er ist keine neutrale Instanz, sondern der Arm einer Diktatur der Unternehmen.

Drittens macht das gemeinsame Vorgehen des Amerika der Banken und Konzerne gegen die Eisenbahner das grundlegende Problem deutlich: Solange die wirtschaftliche und damit auch die politische Macht in den Händen der kapitalistischen Führungselite verbleibt, können die Interessen der Arbeiterklasse nicht durchgesetzt werden.

Aus der Logik des Klassenkampfes ergibt sich die notwendige Aufgabe für die Arbeiterklasse, selbst die Macht zu übernehmen und das Wirtschaftsleben auf der Grundlage der sozialen Bedürfnisse und nicht des privaten Profits umzustrukturieren, unter anderem durch die Umwandlung der Eisenbahnen und anderer Großindustrien in öffentliche Versorgungsbetriebe. Das ist das Programm des Sozialismus.

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