Katar: Fußball-WM auf den Knochen tausender Bauarbeiter

Die Fußballweltmeisterschaft 2022, die am 20. November in Katar beginnt, wird vermutlich als das Turnier in die Geschichte eingehen, in dem Profitinteressen endgültig über den Sport siegten. Damit die insgesamt 64 Spiele in zwölf neugebauten Stadien ausgetragen werden können, mussten Tausende Bauarbeiter ihr Leben lassen.

Der britische Guardian veröffentlichte im Februar 2021 einen Bericht, laut dem in den zehn Jahren seit der Vergabe der WM an den Golfstaat 6751 Arbeiter aus Indien, Bangladesch, Nepal, Sri Lanka und Pakistan umgekommen sind. Über Arbeiter aus anderen Ländern, wie den Philippinen und Kenia, die ebenfalls zahlreich in Katar beschäftigt sind, lagen der Zeitung keine Zahlen vor.

Arbeiter in Doha [Photo by Jabiz Raisdana / flickr / CC BY-NC 2.0]

'Katars grausame Todesfälle werden in langen Tabellen offizieller Daten offengelegt, in denen die Todesursachen aufgelistet sind: multiple stumpfe Verletzungen durch einen Sturz aus der Höhe; Erstickung durch Erhängen; unbestimmte Todesursache durch Verwesung', heißt es im Bericht der Zeitung. 'Die mit Abstand häufigste Ursache ist jedoch der sogenannte 'natürliche Tod', der oft auf akutes Herz- oder Atemversagen zurückzuführen ist.'

Im August 2021 errechnete Amnesty International, gestützt auf offizielle Regierungsdaten, dass zwischen 2010 und 2019 im Golfstaat über 15.000 Nichtkatarer aller Altersgruppen starben. In 70 Prozent dieser Fälle wurde die Todesursache nicht aufgeklärt. Autopsien sind in dem islamischen Land verboten. „Sterbeurkunden melden die Todesfälle in der Regel als ‚natürliche Ursachen‘ oder ‚Herzstillstand‘,“ heißt es in der Studie, ohne eine Verbindung zu den Arbeitsbedingungen herzustellen.

Die Menschenrechtsorganisation weist anhand mehrerer Einzelbeispiele nach, dass junge Arbeiter, die vorher keine gesundheitlichen Probleme hatten, den unmenschlichen Arbeitsverhältnissen zum Opfer fielen. 30- oder 40-Jährige verloren nach zwölfstündigen Schichten in einer Gluthitze von mehr als 40 Grad das Bewusstsein und starben. Zum Teil hatten sie sieben Tage die Woche gearbeitet.

Seit der Veröffentlichung dieser Zahlen, die die Regierung von Katar nicht bestreitet, ist ein heftiger Streit darüber entbrannt, wie viele Todesfälle direkt mit dem Bau der Fußballstadien, des neuen Flughafens, der U-Bahn, der Straßen, der einhundert Hotels und anderer Projekte in Verbindung stehen, die für 185 Milliarden Euro für die WM errichtet werden.

Der Weltfußballverband FIFA, der die WM vor zwölf Jahren gegen mutmaßliche Schmiergeldzahlungen in Millionenhöhe an Katar verhökerte, das WM-Organisationskomitee und die Regierung von Katar versuchen die Zahlen zu bagatellisieren. Doch je mehr Einzelheiten ans Licht gelangen, desto furchtbarer ist das Bild, das sichtbar wird – das Bild einer Klassengesellschaft, in der eine sagenhaft reiche Oberschicht über einer wohlhabenden Mittelschicht thront, während eine rechtlose Arbeiterklasse bis aufs Blut ausgebeutet wird und ein Menschenleben so gut wie nichts wert ist.

Wie durch ein Brennglas vergrößert werden hier gesellschaftliche Verhältnisse sichtbar, die zunehmend alle kapitalistischen Gesellschaften prägen. Deshalb gewinnt das Thema an Brisanz, je näher der Anstoß zum ersten Spiel rückt. Viele Fußballfans stellen fest, dass sie die Begeisterung für ihren Sport nicht mehr von der Politik trennen können.

Entsprechend nervös reagieren die Regierungen. Sie verteidigen ihre lukrativen wirtschaftlichen und politischen Verbindungen zu Katar und bemühen sich, die Empörung über die brutale Ausbeutung der Arbeiter in weniger explosive Kanäle, wie LGBT-Rechte, und eine antiislamische Richtung zu lenken.

Rücksichtslose Ausbeutung

Katar ist eine autoritäre Diktatur. Der Emir und seine Familie herrschen uneingeschränkt und kontrollieren den Reichtum des Landes. Im vergangenen Jahr wurde zwar erstmals eine Beratenden Versammlung gewählt (zwei Drittel durch öffentliche Wahlen und ein Drittel durch den Emir), die aber nur beratende und keine gesetzgebende Kompetenzen hat. Parteien gibt es nicht, gewerkschaftliche Aktivitäten sowie Meinungs- und Pressefreiheit unterliegen strengen Einschränkungen.

Von den 2,2 Millionen Einwohner des Landes besitzen nur etwa 330.000 die katarische Staatsbürgerschaft, von denen rund 70.000 in gutbezahlten Jobs (meist im Staat) arbeiten. Die restlichen 88 Prozent sind Migranten. Von ihnen arbeitet eine Minderheit – meist aus Europa oder arabischen Ländern – als gutbezahlte Fachleute. Die große Mehrheit – größtenteils aus Asien und Afrika – leistet körperliche Schwerstarbeit und wird rücksichtslos ausgebeutet. Hinzu kommen über 170.000 Migrantinnen, die als Haushaltshilfen tätig und häufig Misshandlungen und sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind.

Die katarische Regierung rühmt sich inzwischen, die Lage der Arbeiter im Sommer 2020 durch eine Reform verbessert zu haben. Doch ein Blick auf diese Reform zeigt nur, wie unerträglich die Zustände sind. So wurde für ausländische Arbeiter erstmals ein gesetzlicher Mindestlohn von 1000 Riyal eingeführt. Das sind 230 Euro im Monat – und das in einem der reichsten und teuersten Länder der Welt!

Mit der Reform wurde auch das sogenannte Kafala-System formal abgeschafft, das ausländische Arbeiter in einer Art Leibeigenschaft hielt. Ihr Pass wurde beschlagnahmt, sie konnten den Arbeitsplatz nur mit Zustimmung des Arbeitsgebers wechseln und erhielten oft monatelang keinen Lohn.

Die Reformen stehen allerdings nur auf dem Papier. In der Praxis hat sich wenig geändert. Auf Nachfrage bestätigte Amnesty International Ende letzten Jahres dem Spiegel, für die Mehrheit der ausländischen Arbeiter seien „Ausbeutung, nicht oder zu spät gezahlte Löhne, der fehlende Zugang zu Arbeitsgerichten, teilweise katastrophale Lebensbedingungen, einbehaltene Reisepässe und vieles mehr weiterhin an der Tagesordnung“.

Das berichtete auch eine Gruppe von betroffenen Arbeitern, die im September in Deutschland unterwegs war.

Laut Malcolm Bidali aus Kenia, der viereinhalb Jahre als Wachmann in Stadien in Katar tätig war, teilen sich in der Regel sechs bis acht Arbeiter ein Zimmer. Er berichtete von fehlender Privatsphäre, Bettwanzen in den Matratzen, schrecklichem Essen und mangelnder Hygiene in den Sanitär-Anlagen. Als sich Bidali im Internet für bessere Verhältnisse einsetzte, wurde er verhaftet und ein Monat in Isolationshaft gesteckt.

Ein nepalesischer Arbeiter schilderte, dass sich teilweise fünfzig oder sogar hundert Arbeiter eine Küche teilen müssten, mit entsprechenden hygienischen Problemen. Trotz Hitze und hoher Luftfeuchtigkeit stehe nicht ausreichend keimfreies Trinkwasser zur Verfügung, was vielfach zu Krankheiten führe.

Inzwischen müssen Arbeiter selbst diese miserablen Behausungen verlassen. Wie Reuters berichtete, wurden in den letzten Tagen tausende Arbeiter im Zentrum Dohas angewiesen, ihre Unterkünfte zu räumen, damit diese für die erwarteten WM-Besucher eingerichtet werden können. Viele hatten nur zwei Stunden Zeit, um ihre Sachen zu packen, und stehen nun auf der Straße.

Politische Heuchelei

Die Ausbeutung der Arbeiter in Doha stößt unter vielen Fußballfans, die oft selbst Arbeiter sind, auf Empörung. Bereits im Januar letzten Jahres hatten Fans des FC Bayern im Stadion mit einem riesigen Transparent gegen die engen Beziehungen des Vereins zum Emirat Katar protestiert, das zu seinen Hauptsponsoren zählt. Über einer Karikatur des Vorstandsvorsitzenden Oliver Kahn und des Präsidenten Herbert Hainer, der ein blutverschmiertes Hemd in eine Waschmaschine steckt, hieß es: „Für Geld waschen wir alles rein.“

Als der Ehrenpräsident des Vereins Uli Hoeneß, der wegen Steuerhinterziehung mehrere Monate im Gefängnis saß, kürzlich auf der Hauptversammlung darauf angesprochen wurde, entgegnete er wutentbrannt: „Das ist der Fußballklub Bayern München und nicht die Generalversammlung von Amnesty International.“

Inzwischen haben zahlreiche Städte in Deutschland und Frankreich die Übertragung der Weltmeisterschaft auf öffentlichen Plätzen abgesagt. Die Kritik europäischer Politiker an den Zuständen in Katar ist allerdings an Heuchelei kaum zu überbieten. Die Zustände in Katar sind seit der Vergabe der WM vor zwölf Jahren bekannt. Und der Umgang der Europäischen Union mit Flüchtlingen, die sie zu Tausenden im Mittelmeer ertrinken lässt oder in unmenschlichen Lagern zusammenpfercht, ist noch schlimmer als die Behandlung der Bauarbeiter in Katar.

Vor allem sind große finanzielle Interessen im Spiel. Das gilt nicht nur für die FIFA, die mit der WM über eine Milliarde Euro an Sponsorengeldern einnimmt. Europäische und vor allem deutsche Konzerne verdienen in Katar kräftig mit, und das Emirat zählt zu den größten Investoren in Europa.

Der staatliche Investitionsfonds Katars hat in Dutzenden Ländern mehr als 350 Milliarden Euro angelegt, ein Viertel davon in Großbritannien, den USA und Frankreich. Er hält beträchtliche Anteile an der Londoner Börse und an den Banken Barclays und Crédit Suisse. In Deutschland hat Katar 25 Milliarden Euro investiert, unter anderem in Volkswagen, die Deutsche Bank, Hapag-Lloyd und RWE. Rund zwei Milliarden Euro sind in den letzten zehn Jahren in europäische Fußballclubs geflossen.

Europäische und deutsche Konzerne, darunter Deutsche Bahn, Siemens, SAP und die Bauindustrie, sind an katarischen Großprojekten beteiligt und verdienen an der Ausbeutung der Arbeiter mit. 2018 hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel Emir al-Thani in Berlin empfangen, um die wirtschaftlichen Beziehungen zu vertiefen. Seit Beginn der Sanktionen gegen Russland wird Katar außerdem als Gas- und Öllieferant umworben. Sowohl Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) wie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) machten dem Emir in Doha deshalb in diesem Jahr ihre Aufwartung.

Während europäische Politiker unablässig die „Menschenrechte“ beschwören, um den Boykott von Sportereignissen bei politischen Gegnern in Russland und China oder den Ausschluss ihrer Mannschaften zu fordern, gelten für Katar andere Maßstäbe.

Nicht alle gehen so weit wie der ehemalige SPD-Vorsitzende und deutsche Außenminister Sigmar Gabriel, der auf die Kritik an Katar mit dem Tweet reagierte: „Die deutsche Arroganz gegenüber Katar ist ,zum Ko…‘!“ Doch seine Parteikollegin, Bundesinnenministerin Nancy Faeser, reiste diese Woche eigens nach Doha, um die Wogen zu glätten, nachdem sie mit einer kaum vernehmbaren Kritik den Zorn des Emirs hervorgerufen hatte.

Faeser traf sich unter Ausschluss der Presse mit Premierminister Chalid bin Chalifa Al-Thani und FIFA-Chef Gianni Infantino, der seinen Wohnsitz mittlerweile nach Katar verlegt hat, um hinterher abzuwiegeln. Sie werde „zur Fußball-Weltmeisterschaft anreisen“, erklärte sie. Auch Bundeskanzler Scholz wird nun wohl teilnehmen – falls es die deutsche Mannschaft ins Endspiel schafft.

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