Nach Durchsetzung der Rentenreform ohne Abstimmung

Frankreich: Polizeiübergriffe schüren soziale Explosion

Am Donnerstag organisierte die Gewerkschaftsbürokratie in Frankreich ihren ersten landesweiten Aktionstag. Zuvor hatte Macron seine Rentenkürzungen ohne Abstimmung im Parlament durchgepeitscht. Er ignoriert den Widerstand von fast 80 Prozent der Bevölkerung, die seine Kürzungen ablehnen. Gegen diese Zurschaustellung diktatorischer Macht hat sich am Donnerstag die Wut der Arbeiterklasse entladen, als in ganz Frankreich mehr als 3,5 Millionen Menschen demonstrierten.

Für die Arbeiterklasse gibt es im Rahmen des kapitalistischen Staats keinen „demokratischen“ Weg, und mit Macron gibt es nichts zu verhandeln. Weil er sich bewusst ist, dass die Durchsetzung der Kürzungen massive Wut auslösen wird, mobilisierte er stattdessen das bisher größte Polizeiaufgebot, um die Proteste anzugreifen. Alleine in Paris wurden 5.000 schwer bewaffnete Elite-Bereitschaftspolizisten mobilisiert, und es kam in Städten in ganz Frankreich zu Zusammenstößen und Bränden.

In Marseille (245.000), Tolouse (120.000), Bordeaux und Lille (jeweils 100.000) und Lyon (50.000) erreichte die Zahl der Demonstrationsteilnehmer laut Angaben der Gewerkschaften einen Rekordwert. Auch in vielen kleineren Städten gab es Rekordbeteiligungen, u.a. in Brest, Caen und Nizza (40.000), in Saint-Etienne (35.000), in Rouen (23.000) oder in Laval (9.600). In Paris demonstrierten laut den Gewerkschaften an verschiedenen Orten insgesamt 800.000 Menschen.

Die Polizei hatte offensichtlich Anweisung erhalten, weitaus aggressiver gegen die Demonstranten vorzugehen als bei früheren Aktionstagen. In vielen Städten im ganzen Land blockierten sie systematisch die Märsche, gingen auf einzelne Bereiche der Demonstrationszüge los und provozierten Zusammenstöße, die sich im Verlauf des Abends immer weiter verschärften. Am Donnerstagabend meldete das Innenministerium 177 Verhaftungen und landesweit 149 verletzte Polizisten oder Militärpolizisten.

In Bordeaux attackierte die Polizei die Demonstration bereits zu Anfang unter Einsatz von Tränengas, und es kam zu Zusammenstößen im Stadtzentrum. Am Abend zog eine Gruppe von Demonstranten zum Rathaus und legten am Haupteingang Feuer.

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In Marseille zogen die Demonstranten zum nahe gelegenen Treibstoffdepot Fos-sur-Mer, um die dortigen Arbeiter und die Raffineriearbeiter, die sich in einem landesweiten Streik befinden, zu unterstützen. Das Depot Fos war von einer großen Polizeieinheit umstellt. Da in ganz Frankreich, vor allem im Südosten, der Treibstoff knapp wird, geht die Regierung hart vor und versucht, die Streikenden durch Zwangsverpflichtungen zur Rückkehr an die Arbeit zu zwingen. Bei Missachtung einer solchen Verpflichtung drohen bis zu sechs Monate Gefängnis und eine Geldstrafe von 10.000 Euro.

Um Arbeitern des CIM-Treibstoffdepots in der Normandie zu helfen, diese Verpflichtung zu umgehen, haben Hafenarbeiter in Le Havre, dem zweitgrößten Hafen Frankreichs nach Marseille, den Eingang zum Gelände mit Schiffscontainern blockiert.

In Rouen wurde eine Untersuchung eingeleitet, nachdem eine Blendgranate der Polizei, die in eine Gruppe streikender Lehrer abgefeuert wurde, einer Frau einen Teil der Hand abgerissen hatte.

In Rennes setzte die Polizei auf den Straßen und Plätzen der ganzen Stadt zwei Wasserwerfer und Tränengas ein. Bürgermeisterin Nathalie Appéré von der Parti Socialiste (PS) schickte einen offenen Brief an Macron, in dem sich die in Teilen der herrschenden Klasse wachsende Angst äußert, er könne die Kontrolle verlieren: „Tag für Tag kommt es in unseren Straßen zu Gewalt und chaotischen Szenen. Tag für Tag wird die Polizei in großer Zahl mobilisiert. Aber es reicht nicht mehr, um unsere Stadt zu schützen ... Ich fordere den Präsidenten der Republik auf: Sie haben die Macht, diese Abwärtsspirale zu stoppen.“

Ähnlich äußerte sich Jean-Luc Mélenchon, der Vorsitzende der Partei La France insoumise (LFI, Unbeugsames Frankreich), die mit der PS und der stalinistischen Kommunistischen Partei verbündet ist. Bei einem Auftritt im Fernsehsender TF1 flehte er Macron an, die Lage zu entschärfen und der staatlichen Bürokratie Zeit zu verschaffen, seine Kürzungen zu überprüfen.

Mélenchon erklärte: „Herr Macron, nehmen Sie Ihre Kürzungen zurück und überlassen Sie die Angelegenheit dem Verwaltungsrat für Soziale Sicherheit. Der Rentenhaushalt wird von 2027 bis 2029 ausgeglichen sein, also geht es Ihnen nur darum, Dinge neu aufzuteilen? Es ist nicht notwendig, dass die Leute zwei Jahre länger arbeiten.“

Der explosive soziale Konflikt zwischen der Arbeiterklasse und dem kapitalistischen Staat wird sich nicht von der französischen Staatsverwaltung lösen lassen, egal was Mélenchon an Argumenten vorbringt. Viel mächtigere Klassenkräfte sind mittlerweile in dem Kampf involviert. Macron, der am Mittwoch in einem Fernsehinterview geprahlt hatte, er sei bereit, unpopulär zu sein, führt einen Klassenkrieg der Finanzoligarchie und der Bereitschaftspolizei gegen die arbeitende Bevölkerung. Und die Arbeiter, die sich gegen Macrons diktatorische Rentenkürzungen erhoben haben, steuern auf eine direkte Konfrontation mit dem kapitalistischen Staat zu.

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In Paris griff die Polizei am frühen Nachmittag den Hauptdemonstrationszug an. Im Verlauf des Abends setzten sich die Zusammenstöße im gesamten Stadtzentrum von Paris fort, und der Opernplatz wurde von der Bereitschaftspolizei vollständig abgeriegelt. Zahlreiche Demonstrierende wurden eingekesselt. Mobile Teams der Militärpolizei tauchten aus der U-Bahn auf und feuerten mit Tränengas in die Menge, die daraufhin skandierte: „Alle hassen die Polizei.“

Daneben setzte die Bereitschaftspolizei in Paris erstmals bei Protesten gegen Macron auch Kampfhunde gegen Demonstranten ein.

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Mehrere Berichte deuten darauf hin, dass die ständigen Straßenkämpfe mit großen Menschenmengen die Bereitschaftspolizei zunehmend erschöpfen. Einige Einheiten wurden gesehen, wie sie sich auf den Straßen ausruhten; in einem Fall ging die Gesamtkoordinierung verloren, und Polizisten beschossen sich gegenseitig mit Tränengas.

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In Paris sprach die WSWS mit Demonstrationsteilnehmern über Macrons Entscheidung, die Rentenkürzung trotz des überwältigenden Widerstands der Bevölkerung ohne Abstimmung durchzusetzen.

Die Schülerin Maia erklärte: „Wir leben nicht in einer Demokratie. Wir haben von Anfang an viele Male protestiert. Das bedeutet jetzt, dass sie ihre Gesetze im Grunde jedes Mal diktieren können, ohne Angst vor einer Wahlniederlagen, also können sie alles tun. Das wird zu einfach sein.“

Auch die Studentinnen Fanny und Ninon verurteilten Macrons Entscheidung, die Rentenkürzungen ohne Abstimmung durchzusetzen: „Es ist beschämend, ein Angriff auf die Demokratie! ... Zu keinem Zeitpunkt wurde auf die Bevölkerung gehört, sondern sie wird nur mit Verachtung behandelt. Man hat das Gefühl, ihn [Macron] stört nur, dass der Müll [wegen des Streiks der Müllabfuhr] nicht abgefahren wird.“

Ninon sprach über die wachsende Wut unter Jugendlichen, da der kapitalistische Staat systematisch jede Möglichkeit unterbindet, mit der die Massen sich innerhalb des bestehenden politischen Systems für ihre Interessen einsetzen können.

Sie erklärte: „Wir gehen schon seit mehreren Jahren auf Demonstrationen, wir halten das für notwendig. Und jedes Mal haben wir den gleichen Eindruck: Auf der einen Seite Verachtung, und auf der andern enorme Wut. Das ist schon lange so. Wir benutzen alle demokratischen Mittel, die uns zur Verfügung stehen, aber sie funktionieren nicht. Daraus ergeben sich wichtige Fragen. Wir halten uns an die Spielregeln, aber die andere Seite nicht.“

Fanny wies auf die Verbindung zwischen Macrons undemokratischer Politik und dem 100-Milliarden-Euro-Vermögen der reichsten Milliardäre hin: „Meiner Meinung nach sollte das illegal sein. Es ist unmöglich, so viel Geld anzuhäufen, ohne irgendwann jemanden ausgebeutet zu haben. Das sind astronomische Summen; das ist wirklich krank.“

Am Donnerstagabend traf sich das Gewerkschaftsbündnis, das die Proteste organisiert hatte, um zu einem weiteren Aktionstag am 28. März aufzurufen. Diese Bürokratien, deren Führer mit Macron über die Rentenkürzungen und die Beendigung der Proteste verhandeln, befürchten den Verlust ihrer Kontrolle über die Proteste und Streiks. Sie haben nicht die Absicht, für Macrons Sturz zu kämpfen. Sie rufen nur zu Aktionen auf, um angesichts einer entstehenden, objektiv revolutionären Krise die Kontrolle über die Proteste zu behalten.

In der politischen Zwangsjacke, die ihnen diese Bürokratien anlegen, können Arbeiter und Jugendliche keinen Widerstand gegen Macron leisten. Es ist von entscheidender Bedeutung, die Arbeiterklasse in Aktionskomitees unabhängig von den Gewerkschaftsbürokratien zu organisieren und diese Streiks, Proteste und Aktionen zur Verteidigung der Arbeiter nicht nur in Frankreich, sondern europa- und weltweit zu koordinieren. Dies steht in direktem Zusammenhang mit der Frage, welche Strategie und Perspektive gegen Macrons Polizeistaatsregime angewandt werden soll.

Mit Macron gibt es nichts zu verhandeln. Der Weg vorwärts führt über einen Kampf um die Macht. Diese muss den diskreditierten Institutionen des kapitalistischen Staats in einer sozialistischen Revolution entrissen werden. Dafür braucht es unabhängige Kampforganisationen der Arbeiterklasse, die für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa kämpfen.

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