Diese Woche jährte sich zum zehnten Mal der Militärputsch in Ägypten. Am 3. Juli 2013 übernahm der damalige Militärchef General Abdel Fatah al-Sisi mit Unterstützung der imperialistischen Mächte die Macht und errichtete eines der brutalsten und blutigsten Regimes auf dem gesamten Erdball.
Sisis Putsch kulminierte in einem Blutbad. Am 14. August 2013 zerstörten von ihm kommandierte Armee- und Polizeieinheiten zwei Protestcamps von Putschgegnern in der ägyptischen Hauptstadt Kairo und ermordeten mehr als 1000 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder. Human Rights Watch nannte das „Massaker“ das „schlimmste Ereignis ungesetzlicher Massentötungen in der modernen Geschichte Ägyptens“.
Seitdem wurden hunderte weitere Protestierende von den Schergen des Regimes getötet. Zehntausende politische Gefangene vegetieren in den Folterkerkern des Landes dahin. Proteste und Streiks sind untersagt. Unabhängige Medien werden zensiert und verboten, genauso wie Parteien und Organisationen, die das Regime auch nur kritisieren. Die Todesstrafe wird in Sisis Ägypten inflationär angewandt. 2020 verdreifachte sich die Zahl der Hinrichtungen – mehrheitlich durch Erhängen – auf offiziell 107.
Sisis Putsch richtete sich nicht einfach gegen den islamistischen Präsidenten Mohamed Mursi und die Muslimbruderschaft, der er angehörte. Er zielte auf die Niederschlagung der ägyptischen Revolution. Anfang 2011 hatten Millionen von Arbeitern und Jugendlichen durch Massenstreiks und Proteste den vom Westen unterstützten Langzeitdiktator Hosni Mubarak zu Fall gebracht und den ägyptischen Kapitalismus und die Vorherrschaft des Imperialismus in der Region bis auf die Grundfesten erschüttert.
Mit dem Putsch versuchte das Militär, die Massenbewegung, die auch unter Mursi nicht abebbte, ein für alle Mal zu stoppen. In der ersten Hälfte des Jahres 2013 organisierten Arbeiter mehr als 4500 Streiks und soziale Proteste gegen die islamistische Regierung. Als Ende Juni 2013 zu Massenprotesten aufgerufen wurde, beteiligten sich daran landesweit Millionen, um gegen Mursis prokapitalistische Politik, seine Unterstützung für Israels Angriff auf den Gazastreifen und den imperialistischen Regimewechselkrieg in Syrien zu protestieren.
Wie schon beim Sturz von Mubarak 2011 zeigten die Proteste die gewaltige Kraft der Arbeiterklasse. Gleichzeitig enthüllte der Putsch erneut in aller Schärfe das grundlegende Problem der ägyptischen Revolution: das Fehlen einer politischen Perspektive und Führung. Da keine revolutionäre Partei vorhanden war, um die Arbeiterklasse auf der Grundlage eines internationalen sozialistischen Programms für den Kampf um die Macht zu mobilisieren, konnte am Ende das Militär dominieren.
Eine zentrale Rolle dabei, die Massenbewegung zu desorientieren und letztlich Sisis Gewaltherrschaft auszuliefern, spielten die ägyptischen Pseudolinken. Kräfte wie die Revolutionären Sozialisten (RS), die u.a. enge Verbindungen zur Socialist Workers Party (SWP) in Großbritannien und der Linkspartei in Deutschland pflegen, erklärten, dass die Arbeiterklasse keine unabhängige Rolle spielen könne, sondern sich dem einen oder anderen Flügel der Bourgeoisie unterordnen müsse.
Unmittelbar nach Mubaraks Fall am 11. Februar 2011 verbreiteten die RS Illusionen in den Obersten Rat der Streitkräfte (SCAF), der unter der Führung von Mubaraks früherem Verteidigungsminister Muhammed Tantawi die Macht übernahm. Im britischen Guardian feierte der RS-Aktivist und Blogger Hossam el-Hamalawy „junge Offiziere und Soldaten“ als „unsere Verbündeten“ und erklärte, die Armee werde „schließlich den Übergang zu einer ‚zivilen‘ Regierung gestalten“.
Als das Militär seinen wahren Charakter zeigte und gewaltsam Streiks und Proteste unterdrückte, wurden unter Arbeitern und Jugendlichen Forderungen nach einer „zweiten Revolution“ laut. Die RS lehnten dies explizit ab und promoteten stattdessen die Muslimbruderschaft als „rechten Flügel der Revolution“. Sie unterstützten Mursi in der Stichwahl der Präsidentschaftswahl 2012 und feierten den Sieg des Islamisten anschließend als „Sieg der Revolution“ und „großen Erfolg gegen die Konterrevolution“.
Die Rolle der RS beim Militärputsch entlarvte dann vollends ihren konterrevolutionären Charakter. Sie bezeichneten ihn als „zweite Revolution“ und schürten erneut Illusionen in die Militärführung. In einem Statement vom 11. Juli riefen sie dazu auf, Druck auf das Putschregime auszuüben, um „sofortige Maßnahmen zur Erlangung von sozialer Gerechtigkeit für Millionen armer Ägypter“ zu erreichen.
Die Unterstützung der RS für den Putsch beschränkte sich nicht auf Worte. Sie hatten ihm aktiv den Weg bereitet. Sie gehörten zu den aktivsten Unterstützern der Tamarod-Allianz – eines Sammelsuriums aus Pseudolinken, „Liberalen“ (Mohamed ElBaradei), ägyptischen Milliardären (Naguib Sawiris) und ehemaligen Vertretern des Mubarak-Regimes (Ahmed Shafiq) – deren Aufgabe darin bestand, den Widerstand der Bevölkerung auf die Mühlen des Militärs umzulenken.
Als Sisi am 3. Juli im staatlichen Fernsehen die Machtübernahme bekannt gab, standen die Tamarodführer Mahmoud Badr und Mohammed Abdel Aziz an seiner Seite. Nur wenige Wochen zuvor, am 28. Mai 2013, waren die beiden in der RS-Zentrale in Gizeh empfangen und gefeiert worden. Zuvor hatten die RS in einem Statement Tamarod als „einen Weg, die Revolution zu vollenden“, bezeichnet und ihre „Absicht“ erklärt, „in vollem Umfang an dieser Kampagne teilzunehmen“.
Zehn Jahre später sind die RS bemüht, ihre Spuren zu verwischen. In seinem Artikel zum Jahrestag des Putsches mit dem Titel „Ein Jahrzehnt der Konterrevolution“ stellt Hamalawy fest, dass „die Frustration der ägyptischen Arbeiter über die Herrschaft von Mursi dank des Einflusses von Führern der Arbeiterbewegung aus verschiedenen Lagern letztlich in eine reaktionäre Position kanalisiert wurde“. Hamalawy geht darüber hinweg, dass er selbst und die RS zu diesen „Führern“ und „Lagern“ gehörten.
Eine Person, die Hamalawy nennt, ist der „unabhängige“ Gewerkschaftsführer und erste Arbeitsminister in Sisi Putschkabinett Kamal Abu Eita. Als Minister habe er „eine zentrale Rolle“ dabei gespielt, „Arbeitskämpfe zu entschärfen“, militante Arbeiter zu „schikanieren oder bei Razzien im Morgengrauen zu verhaften“, „unabhängige Gewerkschaften zu erdrosseln“ und „Streiks zu verbieten“. Auch hier verschweigt Hamalawy, dass der Nasserist Abu Eita über viele Jahre einer der engsten Verbündeten der RS war.
Dass Hamalawy, die RS und ihre internationalen Verbündeten nicht bereit sind zuzugeben, dass ihre politische Linie in eine Katastrophe geführt haben, lässt nur eine Schlussfolgerung zu: die Pseudolinken – pro-kapitalistische Strömungen, die die Interessen wohlhabender Mittelschichten artikulieren – fürchten eine unabhängige revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse mehr als jede noch so blutige Konterrevolution.
Arbeiter und Jugendliche müssen aus dieser Erfahrung die notwendigen politischen Schlussfolgerungen ziehen. Um ihren Kampf für demokratische und soziale Rechte erfolgreich zu führen, brauchen sie ihre eigene, unabhängige revolutionäre Führung und eine internationale sozialistische Perspektive. Die World Socialist Web Site und das Internationale Komitees der Vierten Internationale haben – gestützt auf Leo Trotzkis Perspektive der Permanenten Revolution – in jedem Stadium der Revolution für diese Orientierung gekämpft.
Einen Tag vor Mubaraks Sturz durch die Arbeiterklasse am 10. Februar 2011 schrieb der Vorsitzende der internationalen WSWS-Redaktion David North:
Es liegt in der Verantwortung revolutionärer Marxisten, unter den Arbeitern, die erhebliche politische Erfahrungen durchmachen, Verständnis für die Notwendigkeit eines unabhängigen Kampfes um die Macht zu entwickeln. Sie müssen die Arbeiter vor allen Illusionen warnen, dass ihre demokratischen Hoffnungen unter der Ägide bürgerlicher Parteien verwirklicht werden können. Sie müssen die falschen Versprechen der Vertreter der kapitalistischen Klasse schonungslos entlarven. Sie müssen die Schaffung unabhängiger Organe der Arbeitermacht ermutigen, die bei der Verschärfung des Kampfes zur Grundlage des Machtübergangs an die Arbeiterklasse werden können. Sie müssen erklären, dass die Verwirklichung der wesentlichen demokratischen Rechte der Arbeiter untrennbar mit der Durchsetzung sozialistischer Politik verbunden ist.
Vor allem aber müssen revolutionäre Marxisten den politischen Horizont aller ägyptischen Arbeiter über die Grenzen ihres eigenen Landes hinaus erweitern. Sie müssen ihnen erklären, dass die sich jetzt entfaltenden Kämpfe in Ägypten unauflösbar mit dem Prozess der sozialistischen Weltrevolution verbunden sind, der jetzt beginnt, und dass der Sieg der Revolution in Ägypten keine nationale, sondern eine internationale Strategie erfordert.
Unter Bedingungen, unter denen weltweit der Klassenkampf eskaliert und Arbeiter gegen die Kriegs- und Austeritätspolitik ihrer Regierungen aufbegehren, gilt es diese marxistische Offensive zu verstärken. In Ägypten entwickelte sich ganz objektiv eine Revolution, was fehlte, war der subjektive Faktor: eine revolutionäre Partei, die in den Massen verankert ist und für die Perspektive des internationalen Sozialismus kämpft. Die entscheidende Lehre aus der Revolution und Konterrevolution in Ägypten ist die Notwendigkeit, rechtzeitig eine solche revolutionäre Führung aufzubauen.