Leo Trotzki und das Schicksal
des Sozialismus im zwanzigsten Jahrhundert

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Vorlesung von David North

Vor knapp 100 Jahren, Ende 1899, schrieb der große marxistische Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie Franz Mehring, das zwanzigste Jahrhundert werde das Jahrhundert der Erfüllung sein, so wie das neunzehnte das Jahrhundert der Hoffnung gewesen sei. Die Geschichte werde vielleicht einen komplizierteren Verlauf nehmen, als erwartet, darüber könne kein Prophet zuverlässig Auskunft geben. »Aber«, rief er aus, »mit freudigem Mute und stolzer Zuversicht überschreitet das klassenbewußte Proletariat die Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts.«1

Mehring brachte den Optimismus zum Ausdruck, der am Vorabend des zwanzigsten Jahrhunderts in der sozialistischen Bewegung allgemein vorherrschte. Er sprach für eine Bewegung, die leidenschaftlich von der historischen Mission des Sozialismus erfüllt war. Kaum mehr als 50 Jahre waren vergangen, seit Marx und Engels das Kommunistische Manifest geschrieben hatten. Nur 40 Jahre zuvor hatte Marx im Londoner Exil seine revolutionäre Tätigkeit mit Armut und Isolation gebüßt. Und nur 20 Jahre zuvor hatte Bismarck jede sozialistische Tätigkeit in Deutschland weitgehend verboten. Doch als sich das neunzehnte Jahrhundert seinem Ende zuneigte, da war die Sozialdemokratische Partei ungeachtet der Sozialistengesetze zur größten politischen Partei des Landes herangewachsen. Überdies war der Sozialismus über die Grenzen Deutschlands hinaus zu einer mächtigen internationalen Bewegung geworden. Unter ihren Anhängern befanden sich unzählige Männer und Frauen, die sich durch außergewöhnlichen Mut, große Visionen und bisweilen echte Genialität auszeichneten.

Der Optimismus, dem die Sozialisten einen vorzugsweise revolutionären Ausdruck verliehen, machte sich in der gesamten Gesellschaft, auch innerhalb der Bourgeoisie und der gebildeten Mittelklasse bemerkbar. Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig erinnert sich in seinen Memoiren, die er nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu Papier brachte, an die zur Jahrhundertwende vorherrschende Zuversicht wie an einen verblichenen nahen Freund:

»Das neunzehnte Jahrhundert war in seinem liberalistischen Idealismus ehrlich überzeugt, auf dem geraden und unfehlbaren Weg zur ›besten aller Welten‹ zu sein. Mit Verachtung blickte man auf die früheren Epochen mit ihren Kriegen, Hungersnöten und Revolten herab als auf eine Zeit, da die Menschheit eben noch unmündig und nicht genug aufgeklärt gewesen... dieser Glaube an den ununterbrochenen, unaufhaltsamen ›Fortschritt‹ hatte für jenes Zeitalter wahrhaftig die Kraft einer Religion; man glaubte an diesen ›Fortschritt‹ schon mehr als an die Bibel, und sein Evangelium schien unumstößlich bewiesen durch die täglich neuen Wunder der Wissenschaft und Technik.«2

Die traumatischen Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts, das manchmal als Grabstätte aller Hoffnungen der Menschheit erscheint, haben nur sehr wenig von diesem Glauben am Leben gelassen. Im schrecklichen Lichte all dessen, was im zwanzigsten Jahrhundert geschah – die beiden Weltkriege, die unzähligen regionalen Blutbäder, die gescheiterten Revolutionen, der Holocaust – nimmt sich vor der heutigen pessimistischen Grundstimmung der Optimismus des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts nur noch als naives Vertrauen auf die menschliche Vernunft und als irriger Fortschrittsglaube aus.

Durchgreifende Verbesserungen für die Menschheit werden bei Anbruch des einundzwanzigsten Jahrhunderts und des neuen Jahrtausends kaum erwartet. Bestenfalls trifft man auf die schüchterne, zaghafte Hoffnung, daß den Menschen im neuen Jahrhundert die Schrecken des vergangenen erspart bleiben mögen. Es ist eine traurige Tatsache, daß der bevorstehende Ausgang dieses Jahrhunderts vor allem ein Gefühl der Erleichterung hervorruft, wie man es am Ende einer außerordentlich beschwerlichen und mühseligen Reise verspürt.

Man kann sich leicht die Themen der Jahrhundertrückblicke ausmalen, mit denen wir bald bombardiert werden: das zwanzigste Jahrhundert als das Jahrhundert unvorstellbarer Schrecken, von Massenmorden und totalitärer Bestialität. Es ist unbestreitbar, daß diese Beschreibungen in gewissem Maße zutreffen. Zu häufig und im falschen Sinne gebraucht, können sie allerdings zu abgedroschenen Binsenwahrheiten werden. In den Händen der Medien werden sie zu Phrasen, mit denen das Denken nicht erleuchtet, sondern abgetötet wird. Ausgehend von den bisherigen Veröffentlichungen zu diesem Thema kann man voraussagen, daß sie sämtliche Gewalttaten und Tragödien des zwanzigsten Jahrhunderts als Beweis für die Schädlichkeit jeglicher »Ideologie« – insbesondere des Marxismus – anführen werden, um die Vergeblichkeit jeder revolutionären Kritik an der bestehenden Gesellschaftsordnung zu begründen.

Mit dieser beruhigenden Botschaft mögen sich die Philister trösten; dessen ungeachtet wird das einundzwanzigste Jahrhundert das unvollendete Werk des zwanzigsten fortführen. Und dieses Werk, so »ideologisch« es klingen mag, ist die sozialistische Weltrevolution.

Insgesamt gesehen wurde das zwanzigste Jahrhundert Zeuge der gigantischsten Umwälzungen der Weltgeschichte. Was wir »Weltgeschichte« nennen, hat in den revolutionären Kämpfen des zwanzigsten Jahrhunderts überhaupt erst wirklich modernen und konkreten Charakter angenommen. Niemals zuvor sind die Massen in derart dramatischem Umfange und mit einem solch hohen Bewußtseinsstand aktiv geworden, wie in diesem Jahrhundert. Umgekehrt sind nie zuvor revolutionäre Massenbewegungen derart skrupellos mit brutaler Gewalt niedergeschlagen worden. Im Hinblick darauf sei mir die Bemerkung gestattet, daß die Moralisten der bürgerlichen Medien im allgemeinen übersehen, daß die schlimmsten Verbrechen dieses Jahrhunderts jene waren, die direkt (in Deutschland und Spanien) oder indirekt (in der Sowjetunion) der Verteidigung des Kapitalismus auf Weltebene dienten.

An Tragödien hat es dem zwanzigsten Jahrhundert nicht gemangelt. Doch sie widerspiegelten auf ihre Weise auch die Ungeheuerlichkeit der anstehenden historischen Aufgaben. Zum ersten Mal stellte sich die Menschheit als praktische Aufgabe die Abschaffung der Klassengesellschaft. Mit anderen Worten, sie versuchte die Vorgeschichte des Menschengeschlechts abzuschließen. Die bolschewistische Revolution im Oktober 1917 war, ungeachtet des weiteren Schicksals der Sowjetunion, ein unauslöschlicher Meilenstein im historischen Fortschreiten der Menschheit. Solche »deterministische« Anschauungen mögen heutzutage aus der Mode gekommen sein, dennoch sind wir der Überzeugung, daß in der Oktoberrevolution die mächtigsten Tendenzen der gesetzmäßigen Entwicklung des Menschen als gesellschaftlichen Wesens ihren notwendigen, wenn auch nur vorläufigen Ausdruck fanden. Ein neuerlicher Anlauf zur Vollendung dessen, was im Jahr 1917 begonnen wurde, ist im grundlegendsten Sinne unvermeidlich.

Die wichtigste politische und geistige Aufgabe unserer Zeit ist daher das Studium des Oktobers 1917, der ersten proletarischen sozialistischen Revolution, und ihrer Folgezeit – nicht nur in Sowjetrußland, sondern auf der ganzen Welt. Zusammengenommen bildet dies das wesentlichste Element in der Gesamtheit der strategischen historischen Erfahrungen, aus denen Marxisten die theoretischen und praktischen Lehren ableiten müssen, die der Arbeiterklasse im einundzwanzigsten Jahrhundert als Leitfaden dienen werden.

In letzter Analyse muß sich jede ernsthafte Diskussion über die Aussichten des Sozialismus – und damit über die Zukunft der Menschheit – mit der Oktoberrevolution auseinandersetzen. Man kann diese Revolution unterstützen oder ablehnen, übergehen kann man sie nicht. Wie man die Probleme des heutigen Tages beantwortet, hängt unmittelbar damit zusammen, wie man die Oktoberrevolution, ihre Folgen, ihr Schicksal, und ihr Vermächtnis bewertet.

Wenn die Oktoberrevolution zum Scheitern verurteilt war, wenn die bolschewistische Machteroberung von vornherein ein verhängnisvolles Unterfangen war, wenn der Stalinismus das unausweichliche Ergebnis des Bolschewismus war, wenn sich die Verbrechen der stalinistischen Ära mit Notwendigkeit aus dem Begriff der »Diktatur des Proletariats« ergaben, und wenn der letztendliche Zusammenbruch der Sowjetunion den Bankrott der sozialistischen Ökonomie bezeugt, dann hat der Marxismus selbstredend politisch, geistig und moralisch auf ganzer Linie Schiffbruch erlitten. Dies ist gegenwärtig die vorherrschende Ansicht unter Akademikern an den Universitäten.

Wenn andererseits die Oktoberrevolution reale andere Möglichkeiten in sich barg, wenn der Stalinismus nicht dem Bolschewismus, sondern seinem Gegenteil entsprang, wenn der Aufstieg des Stalinismus auf den Widerstand der Marxisten traf, dann unterscheidet sich die historische Lage des revolutionären Sozialismus ganz erheblich von den entsprechenden Darlegungen der politischen und geistigen Vertreter der Bourgeoisie.

Das Internationale Komitee der Vierten Internationale vertritt den letzteren Standpunkt und stellt sich damit natürlich in Gegensatz nicht nur zu den offenen und ungenierten Verteidigern der Reaktion, sondern auch zu der von Skeptizismus, Demoralisierung und politischer Abtrünnigkeit geprägten Stimmung all jener, die sich bis vor kurzem noch für Sozialisten hielten.

Insbesondere die vom Stalinismus Beeinflußten haben nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion – den sie überhaupt nicht erwartet hatten – ihre Haltung zur Oktoberrevolution und deren geschichtlichem Stellenwert von Grund auf geändert. Wenn die Reaktion siegt, bemerkte Leo Trotzki einst, dann wirkt sie auch überzeugend. Viele langjährige Freunde der Sowjetunion (oder vielleicht genauer der Sowjetbürokratie), die früher Lenin und die »große Oktoberrevolution« über die Maßen bewunderten – und sich deshalb für sehr fortschrittlich hielten – betrachten sie jetzt als ein Unglück, das niemals hätte geschehen dürfen. Die Machteroberung war ein fürchterlicher Fehler. Wenn sie daher überhaupt eine Lehre aus dem Oktober 1917 und seinen Folgen ziehen, dann lautet sie, daß das gesamte Vorhaben des revolutionären Sozialismus, wie es von Marx entworfen und von Lenin in die Tat umgesetzt wurde, auf tragische und unwiderrufliche Weise widerlegt worden sei.

Diese Perspektive ergibt sich auch aus einem neuen Buch des britischen Historikers Eric Hobsbawm, der lange Jahre Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen war. Es trägt den Titel »Zur Geschichte« und enthält diverse Essays und Vorträge aus den letzten 25 Jahren. Sie decken ein weites Themenfeld ab, der Schwerpunkt des Bandes liegt jedoch auf der historischen Bedeutung der Oktoberrevolution.

Da ich viel Schlechtes über Professor Hobsbawms Buch sagen werde, möchte ich eingangs deutlich machen, daß er im Laufe seiner langen beruflichen Laufbahn als Historiker zahlreiche wertvolle Forschungsarbeiten vorgelegt hat. Seine Schriften zur Französischen Revolution und zur Entwicklung des Kapitalismus im neunzehnten Jahrhundert sind wohldurchdachte und feinfühlige Studien. Ein jüngeres Werk, eine kritische Analyse des Nationalismus und des Nationalstaates, enthält viele wertvolle und zeitgemäße Einsichten.

Mit dem Thema der russischen Revolution begibt sich Professor Hobsbawm allerdings auf für ihn gefährliches Terrain, denn hier wird seine wissenschaftliche Tätigkeit durch seine politische Einstellung konterkariert. Hobsbawm hat einmal eingestanden, daß er es als Mitglied der KP Großbritanniens vermied, über die russische Revolution und das zwanzigste Jahrhundert zu schreiben, weil die politische Linie seiner Partei der Wahrheitsfindung Grenzen setzte. Weshalb er dennoch Mitglied einer Partei blieb, die ihn zu Lügen gezwungen hätte – diese Frage hat er nie überzeugend beantwortet. Wie dem auch sei, es wäre besser für ihn und kein Verlust für die Geschichtsschreibung gewesen, wenn er sich weiterhin auf Ereignisse vor 1900 beschränkt hätte.

Das wichtigste Dokument in Hobsbawms Buch ist ein Vortrag, den er vor nicht allzu langer Zeit, im Dezember 1996 hielt. Er trägt den Titel »Können wir die Geschichte der russischen Revolution schreiben?«

Eingangs trifft Professor Hobsbawm eine richtige und bedeutsame Feststellung: »Die hitzigsten Debatten über die Geschichte Rußlands im zwanzigsten Jahrhundert drehten sich nicht um das, was geschah, sondern darum, was hätte geschehen können.«3 Die Diskussion über die Sowjetunion, sagt er, werfe daher das Problem der »konterfaktischen« Geschichtsschreibung auf – damit ist die Frage gemeint, inwieweit man hinsichtlich einer bestimmten historischen Situation zuverlässig beurteilen kann, was mit ihrem Eintritt nicht geschah bzw. was andernfalls hätte geschehen könne. Man kann Hobsbawm sicher nicht widersprechen, wenn er feststellt, daß die Diskussion über die sowjetische Geschichte unzählige solche Fragen aufwirft. Die wichtigste lautet, ob die russische Revolution einen grundlegend anderen Verlauf hätte nehmen können, als die Entwicklung zur stalinistischen Diktatur.

Hobsbawm steht der Revolution wohlwollend gegenüber. Er ist der Ansicht, daß Lenin und die bolschewistische Partei in ihrer Politik von den unerbittlichen Realitäten der gegebenen politischen Umstände des Jahres 1917 ausgingen und die Macht gestützt auf eine große, ja unwiderstehliche Welle der Unterstützung unter den Volksmassen übernahmen. Dennoch vermag er am Ende keine Grundlage für die Aussage zu entdecken, die Revolution hätte durchgreifend andere Ergebnisse zeitigen können.

Man muß die Methode, die Hobsbawm zu dieser Schlußfolgerung führt, sorgfältig analysieren. Im Gegensatz zu rechtsgerichteten akademischen Scharlatanen wie Pipes und Malia, die in der Oktoberrevolution nur eine finstere Verschwörung skrupelloser sozialistischer Ideologen gegen das russische Volk sehen, anerkennt Hobsbawm unbedingt die starken objektiven Kräfte, die in der Revolution am Werk waren. Doch er behandelt diese objektiven Kräfte sehr einseitig, d. h. er vernachlässigt weitgehend die Rolle des subjektiven Faktors – von Parteien, politischen Programmen, politischen Führern, des Massenbewußtseins – im historischen Prozeß. Als ernstzunehmender Historiker weiß Hobsbawm durchaus, daß es diesen subjektiven Faktor gibt und daß er den Ausgang der Ereignisse beeinflußt. Was er jedoch über die Beziehung zwischen objektiven und subjektiven Faktoren sagt, ist verworren, widersprüchlich, ungenau und verschwommen. Hobsbawm anerkennt in seinen Bemerkungen über Lenin und Stalin, daß »die Geschichte der russischen Revolution sicherlich ganz anders ausgesehen hätte, wenn diese zwei Männer nicht gewesen wären4 Doch was und wie, darüber erfahren wir nichts Genaues.

Hobsbawm bestreitet nicht, daß Lenin in der russischen Revolution eine bedeutende Rolle spielte. Aber er widmet sich nur sehr zögerlich dem »Konterfaktischen« – den Alternativen eines historischen Szenarios ohne Lenin. Was geschehen wäre, wenn es Lenin nicht gelungen wäre, 1917 aus der Schweiz nach Rußland zurückzukehren? Dazu könne man, so Hobsbawm, nur feststellen, daß dann vielleicht alles ganz anders gekommen wäre, vielleicht aber auch nicht. »Mehr kann man nicht sagen, alles andere wäre Fiktion5

In einem anderen Abschnitt seines Vortrags, der sich mit der historischen Rolle Stalins befaßt, meint Hobsbawm, man könne »mit gutem Recht argumentieren, daß es Spielraum für mehr oder weniger Härte bei der raschen Industrialisierung durch die sowjetische staatliche Planungsbehörde gab, doch wenn sich die UdSSR dieses Ziel gesteckt hatte, dann mußte, ungeachtet der aufrichtigen Hingabe von Millionen, auch eine gehörige Portion Zwang ausgeübt werden, selbst wenn die UdSSR von einer weniger brutalen und grausamen Persönlichkeit als Stalin geführt worden wäre.«6

Beiden Abschnitten liegt die Auffassung zugrunde, daß das subjektive Element angesichts immenser objektiver Kräfte keine entscheidende Bedeutung annehmen kann. An einer späteren Stelle vertritt Hobsbawm, wie wir sehen werden, ausdrücklich diesen Standpunkt. Es sei daher außerordentlich schwierig, wenn nicht überhaupt unklug, sich zu der Frage zu äußern, wie die An- oder Abwesenheit bestimmter subjektiver Kräfte die Geschichte geändert hätte.

In einem Vortrag über die historischen Alternativen der russischen Revolution wächst sich diese Argumentation zu einer offenen Apologie des Stalinismus aus. Denn, so Hobsbawm, die bolschewistische Partei habe 1917 die Macht in der Hoffnung ergriffen, daß eine Revolution in Deutschland, die Lenin für unmittelbar bevorstehend hielt, Sowjetrußland zu Hilfe kommen werde. Dies sei eine katastrophale politische Fehlkalkulation gewesen. Obwohl Lenin vom Gegenteil überzeugt gewesen sei, habe zum Ende des Weltkriegs in Deutschland keine ernstzunehmende Aussicht auf eine Revolution bestanden. Die Einschätzung, daß die deutsche Arbeiterklasse 1918 von den sozialdemokratischen Führern verraten worden sei, tut Hobsbawm als Mythos ab. »Eine deutsche Oktoberrevolution oder so etwas spielte sich eigentlich gar nicht ab und mußte von daher nicht verraten werden.«7

Ich möchte mich an dieser Stelle nicht mit Hobsbawms Einschätzung zur deutschen Revolution auseinandersetzen, die ich für grundfalsch halte. Sein Fehler liegt in derselben fatalistischen Auffassung der Beziehung zwischen subjektivem und objektivem Faktor, auf die ich bereits hingewiesen habe. Er ignoriert die Auswirkungen subjektiven politischen Handelns auf den Verlauf der Ereignisse. Ich werde auf diese Frage zurückkommen, möchte aber zunächst aus jenem Absatz zitieren, der Hobsbawms Argumentation zusammenfaßt und aus dem hervorgeht, wie seine einseitige Herangehensweise in eine Apologie des Stalinismus umschlägt.

Da auf einen deutschen Oktober keine Aussicht bestanden habe, behauptet Hobsbawm, »war es das Schicksal der russischen Revolution, den Sozialismus in einem rückständigen und bald vollkommen ruinierten Land aufzubauen..8 Folglich hatten die Bolschewiki 1917 die Macht »unter einem offenkundig unrealistischen Programm der sozialistischen Revolution« erobert.9

Hier scheint sich Hobsbawm übrigens selbst zu widersprechen, denn hier anerkennt er die enorme und entscheidende Rolle des subjektiven Faktors – d. h., er schreibt Lenins Fehler enorme, verheerende historische Folgen zu. Lenin, darauf läuft es hinaus, setzte ungeachtet seiner aufrichtigen Überzeugungen und ehrbaren Absichten auf die falsche Karte und verlor. Das Ergebnis war der Sozialismus in einem Land. »Die Geschichte muß von dem ausgehen, was geschah«, erläutert Hobsbawm. »Alles andere ist Spekulation.«10

Diese Auffassung ist reichlich hausbacken, denn das, »was geschah« – wenn man darunter nur die Zeitungsmeldungen des Tages versteht – ist ja mit Sicherheit nur ein kleiner Teil des historischen Prozesses. Die Geschichtsschreibung muß sich immerhin nicht einfach mit dem befassen, »was geschah«, sondern auch – und dies ist weitaus wichtiger –, weshalb das eine geschah und das andere nicht, und was hätte geschehen können. Sobald man über ein Ereignis nachdenkt – d. h. darüber, »was geschah« –, sieht man sich sofort gezwungen, auch die Vorgeschichte und die Umstände einzubeziehen. Ja, die Sowjetunion machte sich 1924 die Politik des »Sozialismus in einem Land« zu eigen. Das »geschah«. Aber die Opposition zum »Sozialismus in einem Land« »geschah« auch. Es »geschah« weiter der Konflikt zwischen der stalinistischen Bürokratie und der Linken Opposition, über den Hobsbawm keine Silbe verliert. Insofern Hobsbawm die Kräfte der Opposition, die der Politik der Sowjetunion eine andere Richtung geben wollten, bewußt ausklammert oder als bedeutungslos abtut, besteht seine Definition dessen, »was geschah«, aus einer einseitigen, eindimensionalen, pragmatischen und vulgären Verflachung der äußerst komplexen historischen Wirklichkeit. Von dem auszugehen, »was geschah«, bedeutet für Hobsbawm, dabei stehenzubleiben, »wer obsiegte«.

Weiter: »Was geschah«, ist, wenn man es ernst nimmt, ein recht weites Feld. Selbst der gewissenhafteste Erzähler historischer Begebenheiten kann nur einen kleinen Teil dessen anführen, »was geschah«. Das Studium und das Schreiben der Geschichte beinhaltet unweigerlich in beträchtlichem Umfange Auswahl und Spezialisierung. Doch bei dieser Auswahl und Spezialisierung sollte man zumindest dem historischen Prozeß Gerechtigkeit widerfahren lassen. Man sollte die wichtigsten Fäden zusammenführen, aus denen die Geschichte gewoben wurde. »Was geschah«, könnte man schließlich ebensogut anhand der verworfenen wie anhand der verwirklichten Politikoptionen definieren. Hobsbawm jedoch tut so, als ob die von Trotzki vertretene Politik kein wirkliches historisches Interesse mehr beanspruchen durfte, nachdem die Kommunistische Partei sie verworfen und ihn ausgeschlossen und des Landes verwiesen hatte.

Wenn man die geschliffene Prosa des Akademikers wegläßt, dann bleibt ein bloßer »Brot-und-Butter-Standpunkt« zur Geschichte. »Stalin siegte«, gibt uns Hobsbawm zu verstehen, »und es hat wirklich keinen Sinn, sich zu überlegen, was passiert wäre, wenn er nicht gesiegt hätte.« Darüber hinaus zu blicken, »was geschah«, d. h. den historischen Prozeß im Lichte des vollen Umfangs seiner konkreten Möglichkeiten zu betrachten, ist müßige Spekulation, d. h. eine Abwendung von der historischen Wirklichkeit und eine Flucht in unhaltbare Diagnosen und eigennützige Illusionen. Wir können nur über das sprechen, »was geschah«, denn darüber, was nicht geschah, können wir nichts wissen.

Diese Sichtweise des gesunden Menschenverstandes basiert auf der oben charakterisierten eindimensionalen Verflachung des historischen Prozesses. Wenn wir jedoch in das, »was geschah«, die widersprüchlichen und einander entgegenstehenden Elemente des historischen Prozesses einbeziehen, dann ist die Kluft zwischen dem, »was geschah«, und dem, »was nicht geschah«, nicht mehr der spekulative Abgrund, den Hobsbawm darin erblicken will. Eine umfassendere und vollständigere Studie der Geschichte würde zumindest einen Teil dessen, »was nicht geschah«, als etwas erscheinen lassen, »das hätte geschehen können«.

Auf der Grundlage eines Studiums der Alternativen für die Entscheidungsträger zu überlegen, »was hätte geschehen können«, ist nicht bloß leere Spekulation. Wenn wir dies aus unserem Geschichtsstudium ausschließen wollten, dann gäbe es überhaupt keinen Grund mehr, die Geschichte zu untersuchen. Denn immerhin sollte sie uns etwas lehren.

Während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erlebte die internationale Bourgeoisie nicht wenige große Katastrophen. Sie unterzog diese Erfahrungen einer sorgfältigen Untersuchung und lernte daraus. John Maynard Keynes war ein erbitterter Kritiker der Friedensverträge, die nach dem Ersten Weltkrieg geschlossen worden waren. Unter der Peitsche der Desaster, die sich aus Versailles ergaben, machte die Bourgeoisie Keynes’ Auffassungen zur Grundlage ihrer Politik nach dem Zweiten Weltkrieg.

Natürlich schlägt die Betrachtung der historischen Alternativen – d. h. der »nicht eingeschlagenen Wege« – jenseits einer gewissen Grenze in müßige Spekulation um. Auch kann man vom methodologischen Standpunkt her Gefahr laufen, objektive Faktoren zu unterschätzen oder zu übersehen, die die Möglichkeit eines grundlegend anderen Verlaufs der Geschichte bedeutend reduzierten. Gerade Marxisten haben ein derartiges, unangemessen spekulatives Herangehen an die Geschichte zu Recht kritisiert.

Doch was Hobsbawm vorbringt, sind nicht solche berechtigten Mahnungen. Er bezieht hinsichtlich der Geschichte der russischen Revolution und der Sowjetunion einen ultra-deterministischen, übermäßig objektivistischen und fatalistischen Standpunkt: es gab keine plausiblen Alternativen zu dem, »was geschah«. Diese Herangehensweise rechtfertigt er mit einer banalisierenden Gleichsetzung der sozialen Revolution mit natürlichen Prozessen.

»Auf dieser Stufe müssen wir jedoch die Spekulation beiseite lassen und uns wieder der tatsächlichen Lage Rußlands in der Revolution zuwenden. Große, von unten ausbrechende Massenrevolutionen – und das Rußland des Jahres 1917 war wohl das eindrücklichste Beispiel einer solchen Revolution in der Geschichte – sind in gewissem Sinne ›Naturereignisse‹. Sie sind wie Erdbeben und riesige Überschwemmungen, besonders, wenn wie in Rußland der Überbau der staatlichen und nationalen Institutionen praktisch zerfallen ist. Sie sind weitgehend unkontrollierbar.«11

Es besteht ein grundlegender Unterschied zwischen Erdbeben und Überschwemmungen auf der einen Seite und Revolutionen auf der anderen. Bei tektonischen Verschiebungen der Erdkruste und Überflutungen spielt das Denken keine Rolle. Die Erde beschließt nicht zu rumpeln, und der Fluß wägt nicht ab, ob er über die Ufer treten soll. In gesellschaftlichen Beziehungen hingegen ist das Bewußtsein ein immenser Faktor. Auf der einen oder anderen Ebene bedeutet die Revolution das Handeln denkender Menschen. Vom Revolutionär, der sein gesamtes Leben ihrer Vorbereitung verschrieben hat, bis hin zum einfachen Arbeiter, der zu dem Schluß gekommen ist, daß ihn seine unerträglich gewordene Lebenslage nun zum Kampf gegen die bestehende Gesellschaftsordnung zwingt, ist die soziale Revolution eine bewußte Tat. Wie mächtig die »rein« objektiven, d. h. ökonomischen, technologischen usw. Kräfte hinter dem sozialen Ausbruch auch sein mögen – und es gibt in der Gesellschaft keine »rein objektiven« Phänomene, da sich jeder objektive Prozeß vermittels des Handelns menschlicher Subjekte vollzieht –, eine revolutionäre Situation tritt dann ein, wenn die objektiven Triebkräfte in das menschliche Hirn eingedrungen und in recht komplexe Formen politischen Denkens übersetzt worden sind. Der Vergleich sozialer Revolutionen mit diversen zerstörerischen Naturereignissen kann zwar in beschränktem Sinne angebracht sein, aber mit dieser Metapher wurde auch viel Schindluder getrieben. Wenn man nicht den wesentlichen Unterschied zwischen natürlichen Ereignissen und dem menschlichen Handeln herausstellt, dann kann diese Metapher den historischen Prozeß nur mystifizieren, verzerren und verfälschen.

Hobsbawm übergeht diese wesentliche Unterscheidung und spricht sodann das folgende bemerkenswerte Verbot aus: »Wir dürfen die russische Revolution nicht länger unter dem Blickwinkel betrachten, welche Ziele und Absichten, welche langfristige Strategie die Bolschewiki oder irgend jemand sonst verfolgten, und welche Kritik andere Marxisten an ihrer Praxis übten.«

Wollte man dieser Anweisung nachkommen, dann wäre es schlicht unmöglich, die russische Revolution zusammenhängend darzustellen, geschweige denn zu verstehen. Sie verrät seine Unfähigkeit, das wichtigste Kennzeichen der historischen Entwicklung im zwanzigsten Jahrhundert zu begreifen: die einmalige und außerordentliche Rolle des Bewußtseins bei der Gestaltung der Geschichte. Die Entstehung sozialistischer Massenparteien war Ausdruck einer neuen historischen Erscheinung, die nur durch das Zusammenwirken zweier miteinander verbundener Prozesse möglich wurde – den Aufstieg der Arbeiterklasse und die Entstehung des Marxismus.

Zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts stand das Programm der sozialen Revolution auf dem Banner politischer Parteien. Von Marx und Engels mit der Einsicht in die objektiven Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung gewappnet, wollten die Führer der neuen sozialistischen Parteien die Arbeiterklasse auf die antikapitalistische Revolution vorbereiten, in der sie die führende und ausschlaggebende Rolle spielen sollte.

Sobald eine wissenschaftlich begründete Einsicht in die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung gegeben war – und damit die Fähigkeit, in zuvor undenkbarem Ausmaß die Bedeutung und Auswirkung politischer Ereignisse schon im Moment ihres Geschehens zu verstehen – gewannen die Analysen, Perspektiven, Strategien und Programme politischer Organisationen eine vollkommen neue Rolle im historischen Prozeß. Die Geschichte »geschah« nun nicht mehr einfach. Sie wurde vorausgesehen, vorbereitet und in bis dahin nicht möglichem Maße bewußt gesteuert. In Erwartung einer Revolution als Folge der sozio-ökonomischen Widersprüche, die erkannt und analysiert worden waren, faßte die Generation von Marxisten, die in den letzten Jahren des neunzehnten oder den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts politisch aktiv wurde, ihre eigene politische Arbeit ebenso wie jene ihrer Gegner immer im Hinblick auf ihre Konsequenzen für die Revolution auf. Nur in diesem Zusammenhang kann man verstehen, weshalb die marxistische Polemik ein so großes Gewicht darauf legte, festzustellen, welchen Klasseninteressen verschiedene Programme dienten und welchen »Klassencharakter« politische Strömungen besaßen.

Um noch einmal auf Hobsbawm zurückzukommen: er erzählt uns, wir dürften »die russische Revolution nicht länger unter dem Blickwinkel betrachten, welche Ziele und Absichten, welche langfristige Strategie die Bolschewiki oder irgend jemand sonst verfolgten, und welche Kritik andere Marxisten an ihrer Praxis übten.«

Doch gerade die Entwicklung der russischen Revolution enthüllte die tiefe und weitgreifende objektive Bedeutung der Ziele, Absichten, Strategien und Kritiken aller politischen Parteien und Tendenzen, die vor der Revolution in der einen oder anderen Weise in Rußland aktiv gewesen waren. Was die politischen Hauptakteure zwischen April und Oktober 1917 taten, auf welcher Seite der Barrikaden sie in den entscheidenden Schlachten standen, war in den großen theoretischen und politischen Kämpfen der vorangegangenen zwei Jahrzehnte vorweggenommen worden.

Oberflächlich erscheint es plausibel, die Revolution als eine unkontrollierbare Katastrophe zu schildern, der weder Mann noch Maus mit Plänen beizukommen vermag. Aber wenn das Bewußtsein eine so geringe Rolle spielt, wenn das Element der theoretischen Voraussicht im Chaos einer revolutionären Epoche verblaßt, wie soll man dann die Arbeit Lenins und Trotzkis vor, während und insbesondere nach 1917 einschätzen?

Nach der Revolution von 1905 versuchten die verschiedenen Fraktionen der russischen Sozialdemokratie die Aufgaben der Arbeiterklasse im Lichte der Erfahrungen dieses ungeheuren Ausbruchs zu definieren. Ihre Antworten sollten nicht nur ihre eigene Rolle in den folgenden Ereignissen, sondern auch den künftigen Verlauf der russischen Revolution bestimmen. Hobsbawm dagegen beteuert: »Was Lenin wollte – und letztlich setzte sich Lenin in der Partei durch – spielte keine Rolle.«12

Dieser Behauptung widerspricht schon die einfache Tatsache, daß ohne die Umorientierung der bolschewistischen Partei im Frühjahr 1917 auf der Grundlage von Lenins Aprilthesen – d. h. ohne die Annahme jener strategischen Linie, die zuvor von Leo Trotzki formuliert worden war – die Machteroberung der Bolschewiki nicht stattgefunden hätte. Ja, Revolutionen sind gewaltige Ereignisse; aber Politik und Programm – die Erzeugnisse des Bewußtseins – spielen in ihnen eine enorme, und unter bestimmten Bedingungen sogar entscheidende Rolle.

Hobsbawm versucht die Rolle des Bewußtseins im revolutionären Prozeß bis hin zu dessen Leugnung zu minimieren. Lenin, schreibt er, »konnte keine Strategie oder Perspektive haben, die weiter ging, als Tag für Tag Maßnahmen zu treffen, die über das unmittelbare Überleben oder den unmittelbaren Untergang entschieden. Wer konnte es sich schon leisten, die langfristigen Konsequenzen für die Revolution zu überdenken, wenn jetzt entschieden werden mußte, falls sich nicht mit dem Ende der Revolution alle weiteren Konsequenzen erübrigen sollten?«

Diese Darstellung Lenins als simpler Realpolitiker, der pragmatisch und intuitiv auf die Tagesereignisse reagierte, ergibt selbst innerhalb des von Hobsbawm gesetzten Rahmens schwerlich einen Sinn. Die Verteidigung der Revolution war an sich schon eine strategische Konzeption; ihre erfolgreiche Verwirklichung hing von der bewußten Einsicht in die Klassenstruktur und Dynamik der russischen Gesellschaft ab. Natürlich waren Lenin und Trotzki während der Revolution und des Bürgerkriegs sehr beschäftigt. Aber darum hörten sie nicht auf zu denken. Ihre Schriften – vor allem Trotzkis großartige Manifeste und Reden für die Kongresse der Kommunistischen Internationale – erstaunen noch heute durch die Tiefe und Breite ihrer strategischen Vision. Unter den zahlreichen politischen Kräften, die im Trubel der Revolution und des Bürgerkriegs wirkten, waren nur die Bolschewiki fähig, eine strategische Linie zu formulieren, die trotz außerordentlicher Schwierigkeiten Dutzenden Millionen Menschen in einem riesigen und kulturell zerklüfteten Land als gemeinsames Banner diente. Wie Carr so treffend bemerkte, war der Erfolg der Bolschewiki im Bürgerkrieg nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß Lenins Genie von Grund auf kreativ, und nicht in negativer Weise destruktiv war.

Wenn man wie Hobsbawm die Bedeutung des politischen Bewußtseins herabwürdigt, kann man praktisch nicht verstehen, wie die Bolschewiki an die Macht kamen und weshalb sie den Bürgerkrieg gewannen. Wenn politische Parteien nur Spielball der Vulkanausbrüche der Geschichte sind, dann folgt daraus, daß der Sieg der Bolschewiki entweder ihrem Glück oder dem Pech ihrer Gegner zuzuschreiben war – je nach Standpunkt.

Wendet man Hobsbawms Position auf die Periode nach der Revolution an, dann dient sie, wie bereits ausgeführt, im wesentlichen als Apologie des Stalinismus. Geschoben von unkontrollierbaren historischen Kräften, auf die er nur mit verzweifelten Improvisationen reagieren konnte, war das Schicksal des Bolschewismus schon 1921 besiegelt. Hobsbawm schreibt dazu: »Zu diesem Zeitpunkt war ihr zukünftiger Kurs mehr oder weniger vorgezeichnet.«13 In einem weiteren Aufsatz, der in demselben Band erscheint, verleiht Hobsbawm dieser Ansicht noch nachdrücklicher Ausdruck: »Leider fällt mir keine realistische Vorhersage ein, derzufolge sich die langfristige Zukunft der UdSSR stark von ihrer tatsächlichen unterschieden hätte.«14

Die sowjetische Geschichte hätte also vielleicht einen weniger grausamen Verlauf nehmen können, doch das Ergebnis des historischen Prozesses stand schon 1921 im wesentlichen fest. Stalin spielte lediglich, wenn auch unter exzessiver Gewaltanwendung, das Blatt aus, das ihm durch die vorausgegangene Entwicklung zugeteilt war.

Was uns Hobsbawm also liefert, ist eine »linke« Spielart der reaktionären Standardthese, daß es keine Alternative zum Stalinismus hätte geben können. Hobsbawm stimmt natürlich nicht damit überein, daß der stalinistische Totalitarismus das unvermeidbare Ergebnis des Marxismus selbst gewesen sei. Nein, sein Argument lautet, daß der Stalinismus unvermeidlich und unerbittlich aus den objektiven Bedingungen hervorgegangen sei, die nach 1917 in der Sowjetunion herrschten. Alles Gerede von einer Alternative zu dem, was tatsächlich geschah, sei reine Spekulation. Die objektiven Umstände hätten keine Alternative zugelassen. Die Politik der Regierung hätte etwas weniger grausam sein können, aber das hätte nur einen graduellen, keinen grundsätzlichen Unterschied gemacht.

Worin bestehen unsere Einwände gegen diese Einschätzung? Die Trotzkisten haben schließlich immer darauf bestanden, daß die stalinistische Degeneration der bolschewistischen Partei und des Sowjetstaates in letzter Analyse auf ungünstige objektive Bedingungen zurückging – in erster Linie die historische Rückständigkeit Rußlands, die durch sieben ununterbrochene Jahre Weltkrieg, Revolution und Bürgerkrieg angerichtete wirtschaftliche Verwüstung und schließlich die lange Isolation des Sowjetstaates infolge der Niederlagen der europäischen, insbesondere der deutschen Arbeiterklasse nach dem Ersten Weltkrieg.

Es besteht jedoch ein entscheidender Unterschied zwischen der Erkenntnis der objektiven materiellen Grundlagen des Stalinismus und der Aussage, daß diese Grundlagen zu einzig und allein einem politischen Resultat führen konnten – zu der unwiderruflichen bürokratischen Degeneration der UdSSR und ihrem schließlichen Zusammenbruch 1991. In dieser Auffassung der Sowjetgeschichte fehlt eine Kleinigkeit: die Rolle der Politik, der Programme, der Kämpfe verschiedener Richtungen, des Bewußtseins; die Bedeutung der Entscheidungen, was zu tun sei, die Individuen unter dem Einfluß einer größeren oder geringeren politischen Einsicht in den historischen Prozeß trafen. Die Geschichte wird in einen gänzlich abstrakten und überaus deterministischen Vorgang verwandelt: alles wird von blind wirkenden, unkontrollierbaren Kräften entschieden. Die Geschichte schwemmte die Bolschewiki an die Macht und fegte sie dann hinweg, wenn nicht von der Macht, dann doch in eine Sackgasse.

Ja, Hobsbawm hat uns bereits gesagt, wir »dürfen die russische Revolution nicht länger unter dem Blickwinkel betrachten, welche Ziele und Absichten, welche langfristige Strategie die Bolschewiki oder irgend jemand sonst verfolgten, und welche Kritik andere Marxisten an ihrer Praxis übten.« Das bedeutet im Grunde, daß es keinen Anlaß gibt, sich überhaupt mit den politischen Kämpfen zu befassen, die während der zwanziger Jahre in der bolschewistischen Partei tobten. Trotzkis Schriften über den Stalinismus, seine Kritik an der Sowjetpolitik, der Gegensatz zwischen der von ihm vertretenen langfristigen Strategie und jener der stalinistischen Führung sind, folgt man Hobsbawm, recht bedeutungslos. Das Schicksal der UdSSR war bereits 1921 in Stein gemeißelt, und nichts, was die kommunistische Regierung – egal, wer sie führte – hätte tun können, hätte einen grundlegenden Unterschied gemacht. Wer das Gegenteil vertritt, so muß Hobsbawm wohl glauben, ergeht sich lediglich in den müßigen Spekulationen trotzkistischer Dickschädel. Von daher überrascht es nicht, daß Hobsbawm in seinem Vortrag den Kampf der Linken Opposition und Trotzkis gegen den Stalinismus mit keiner Silbe erwähnt. In einem 300seitiger Band mit Essays und Vorträgen, deren zentrales Thema die Oktoberrevolution in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ist, erscheint Trotzkis Name nur ein einziges Mal.

Hobsbawm macht streng genommen nicht den Marxismus für den Stalinismus verantwortlich. Wenn aber, wie er behauptet, die stalinistische Diktatur das einzig denkbare Ergebnis der Oktoberrevolution war, dann kann man schwerlich daran festhalten, daß die Machteroberung der Bolschewiki den Interessen der Arbeiterklasse und dem historischen Fortschritt diente. Am Ende bleibt nur die Schlußfolgerung – die Hobsbawm auch stark andeutet –, daß der Oktober 1917 ein furchtbarer Fehler war und daß es wahrscheinlich besser gewesen wäre, wenn sich Kamenew, der Gegner des Aufstands, anstelle Lenins mit seinem Standpunkt in der bolschewistischen Partei durchgesetzt hätte.

Hobsbawms Argumentation stellt nicht nur die politische Berechtigung der Oktoberrevolution in Frage, sondern beschwört dunkle und bedrohliche Wolken über das sozialistische Vorhaben als Ganzes herauf. Man kann sich schließlich kaum eine soziale Revolution vorstellen, die unter derart perfekten Bedingungen stattfindet, daß ihr Erfolg am Ende garantiert ist. Die Revolution, die ohne riesige Verwerfungen und den Zusammenbruch der alten politischen und wirtschaftlichen Mechanismen der bestehenden Ordnung gar nicht denkbar ist, kommt von ihrem ganzen Wesen her in beträchtlichem Maße einem Sprung in unbekannte Gewässer gleich. Die objektiven Umstände werden zahlreiche Gefahren bergen. Eine politische Organisation wäre närrisch, wenn nicht in verbrecherischer Weise verantwortungslos, wenn sie die Arbeiterklasse zu einem revolutionären Aufstand aufriefe, ohne der festen Überzeugung zu sein, daß diese Umstände gemeistert, ihr weiterer Verlauf beeinflußt und sie den Zielen des revolutionären Programms unterworfen werden können.

Welche vernünftige Grundlage verbleibt jedoch noch für diese Zuversicht, wenn die Lehre aus dem Oktober 1917 und seinen Folgen lautet, daß revolutionäre Parteien einfach den objektiven Bedingungen ausgeliefert sind, daß sie einfach hilflose Werkzeuge des historischen Prozesses darstellen, der sie zwingt, jeden seiner Befehle, wie furchtbar er auch sein mag, zu erfüllen?

Hobsbawms über-deterministische Position liefert also nicht nur eine Apologie für Stalin – »die objektiven Umstände haben ihn dazu gebracht« – sondern unterstützt auch das klassische liberale Argument der bürgerlichen Demokratie gegen die Revolution als Instrument des historischen Wandels.

Aber Hobsbawms Position fehlt jede Grundlage: sie stützt sich zum einen auf eine falsche Methode und zum anderen auf einen recht nachlässigen – das Wort »unehrlich« möchte ich vermeiden – Umgang mit den Fakten. Hobsbawms fatalistischer Determinismus hat nichts mit der Methode des historischen Materialismus gemeinsam. Hobsbawm beruft sich auf die objektiven Bedingungen, als ob sie eine Art Marschbefehl seien, der Parteien und Menschen keine andere Wahl läßt, als ihnen zu folgen. Eine solche Auffassung ist in höchstem Maße einfältig.

Die Risse, die sich nach 1921 in der russischen Kommunistischen Partei auftaten, zeugen davon, daß die objektiven Bedingungen ein breites Spektrum von Reaktionen hervorriefen. Wie verschiedene Parteiführer auf die Probleme reagierten, und welche Tendenzen sich um diese Reaktionen sammelten, widerspiegelte nicht nur ihre unterschiedliche Einschätzung der objektiven Umstände, sondern auch ihre Beziehung zu verschiedenen und einander sogar feindlichen gesellschaftlichen Kräften.

Stalins Reaktion auf die »objektiven Bedingungen« widerspiegelte immer deutlicher die gesellschaftliche Stellung der wachsenden Staatsbürokratie, die sich aus der unteren städtischen Mittelklasse zusammensetzte, und artikulierte deren materielle Interessen.

Die Politik Trotzkis und der Linken Opposition artikulierte demgegenüber in sehr bewußter Form die Interessen des Industrieproletariats in der Sowjetunion. Je mehr diese gesellschaftliche Kraft, die der Hauptträger marxistischer Politik in der UdSSR war, durch die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen des Bürgerkriegs geschwächt wurde, desto ungünstiger gestalteten sich die Voraussetzung für die Entwicklung und Verwirklichung sozialistischer Politik.

Man darf diese »ungünstigen Bedingungen« jedoch nicht als eine Art nicht zu beeinflussende Wetterlage auffassen. Man muß sie in konkreten politischen Begriffen verstehen, d. h. als Ausdruck des Kampfes entgegengesetzter gesellschaftlicher Kräfte. Je mehr die Stellung des – durch den Bürgerkrieg dezimierten – Industrieproletariats geschwächt wurde, auf desto rücksichtslosere und brutalere Opposition stießen die marxistischen Führer der Arbeiterklasse von Seiten jener Elemente in der Partei- und Staatsbürokratie, in deren Augen die Politik der Linken Opposition eine Bedrohung dessen darstellte, was sie als ihre materiellen Interessen begriffen.

Darin bestand der Kern des politischen Kampfes, der in den zwanziger Jahren in der Kommunistischen Partei und der Kommunistischen Internationale tobte.

An dieser Stelle möchte ich eine Reihe von Aussagen anbringen, die Professor Hobsbawm für unzulässige Spekulation und für ein Hinausschießen über die historische Analyse halten würde.

Erstens: Wenn sich die Linke Opposition im Kampf innerhalb der russischen Kommunistischen Partei durchgesetzt hätte, dann wäre die Sache des internationalen Sozialismus unermeßlich gestärkt worden. Zu allermindest wären die konterrevolutionären Katastrophen der dreißiger Jahre – vor allem der Sieg des Faschismus in Deutschland – wahrscheinlich verhindert worden.

Zweitens: Das wirtschaftliche und politische Leben der Sowjetunion hätte insgesamt einen viel progressiveren Charakter angenommen. Das Argument, der Absturz der UdSSR in die totalitäre Bestialität der dreißiger Jahre sei durch unkontrollierbare »objektive Umstände« vorherbestimmt gewesen, ist schlichtweg nicht abgesichert. Wenn sich die »objektiven Umstände« für die Entwicklung der UdSSR in Richtung Sozialismus immer widriger gestalteten, so war dies vor allem eine politische Folge der Niederlage Trotzkis und der Linken Opposition.

Drittens, und das ist im wesentlichen eine Zusammenfassung der ersten beiden Punkte: Die Niederlage Trotzkis und der Linken Opposition bereitete allen folgenden Tragödien den Weg, welche die Sowjetunion, die internationale Arbeiterklasse und die sozialistische Bewegung heimsuchen sollten und unter deren Schatten wir bis heute leben.

Ich möchte einen weiteren Punkt hinzufügen: Man kann eine Diskussion über das Schicksal des Sozialismus im zwanzigsten Jahrhundert nicht ernst nehmen, wenn sie nicht mit der notwendigen Sorgfalt die Folgen von Trotzkis Niederlage bewertet. Man muß, anders gesagt, nicht nur betrachten, was unter Stalin »geschah«, sondern auch, was im Falle von Trotzkis Sieg »hätte geschehen können«.

Betritt man damit das Gebiet unstatthafter Spekulation? Man muß einräumen, daß die Frage nach der Zulässigkeit dieses Ansatzes durchaus berechtigt ist. Mit Sicherheit besteht die Gefahr, daß wir bei der Erörterung der Alternativen in unerlaubte Spekulation und reines Wunschdenken verfallen. Wenn wir uns andere Wege der historischen Entwicklung vor Augen halten, dürfen wir die damals tatsächlich vorhandene Bandbreite der Möglichkeiten nicht überschreiten. Außerdem müssen wir – auf der Grundlage eines sorgfältigen Studiums der ökonomischen Grundlagen, des technologischen Entwicklungsstandes und der Klassenstruktur der gegebenen Gesellschaft – uns eindeutig der Schranken bewußt bleiben, innerhalb derer das subjektive Handeln des Menschen, der selbst Produkt und Ausdruck spezifischer historisch entstandener Bedingungen ist, diese objektiv gegebenen Umstände beeinflussen und verändern konnte.

Ein auf die Herrschaft der Tudors spezialisierter Historiker könnte – wenn er wollte – beispielsweise überlegen, was hätte passieren können, wenn Katharina von Aragon, die erste Frau Heinrichs des Achten, einen männlichen Thronfolger zur Welt gebracht hätte. Welche Auswirkungen hätte das auf die Entwicklung Englands haben können? Hier sind verschiedene begründete Mutmaßungen denkbar, aber man kommt nicht sehr weit, bevor man sich eindeutig auf höchst spekulativem Terrain wiederfindet. Wahrscheinlich kann man davon ausgehen, daß Katharina, wenn sie einen Jungen geboren hätte und dieser dann nicht im Kindesalter gestorben wäre, von ihrem höchst triebhaften Ehegatten nicht vor ein Scheidungsgericht gezerrt worden wäre. Es ist daher möglich, wenn auch keineswegs sicher, daß die übrigen Herrschaftsjahre Heinrichs zumindest in persönlicher Hinsicht weniger abwechslungsreich verlaufen wären.

Könnten wir jedoch darüber hinaus schlußfolgern, daß England ohne die königliche Ehekrise ein vorwiegend katholisches Land geblieben wäre? Das wäre sicherlich ziemlich gewagt. Denn die Scheidung trieb nur eine politische Krise auf die Spitze, die tief in ganz Europa erfassenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozessen wurzelte. Die wirklich interessante und entscheidende Frage, die man beim Studium der Herrschaft Heinrichs des Achten beantworten muß, lautet gerade, weshalb eine gar nicht ungewöhnliche dynastische Erbfolgekrise in einen Kampf zwischen Kirche und Staat mit tiefgreifenden revolutionären Konsequenzen umschlug. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Beweggründe Einzelner – denen die historischen Dimensionen und Folgen ihres Handelns weitgehend nicht bewußt waren – nicht besonders ausschlaggebend.

Selbst wenn wir mehrere Jahrhunderte weiter gehen, in die Epoche der Französischen Revolution, finden wir noch einen Zustand vor, in dem die historischen Persönlichkeiten sich nur beschränkt über das Gewicht der objektiven historischen Kräfte, die auf sie einwirken, Rechenschaft ablegen. Natürlich unterscheidet sich der historische Bewußtseinsgrad Robespierres stark von jenem Heinrichs des Achten oder selbst Oliver Cromwells. Zum Ende des 18. Jahrhunderts war die bewußte Wahrnehmung gesellschaftlicher Kräfte und Interessen sicherlich ausgeprägter, als sie es ein oder zwei Jahrhunderte früher sein konnte. Aber die Kraft der historischen Notwendigkeit war noch nicht in die entsprechenden Formen wissenschaftlichen Denkens übersetzt worden – diese Leistung wurde erst mit der Entstehung des modernen Kapitalismus und der Arbeiterklasse möglich. In jedem Stadium der Französischen Revolution wurden die Ereignisse, ungeachtet ihrer herausragenden führenden Persönlichkeiten, von der überwältigenden Kraft der historischen Notwendigkeit geformt.

Das heißt nicht, daß es nur so und nicht anders kommen konnte. Man kann sich eine Menge »Gegentatsachen« ausdenken, die den Verlauf hätten ändern können. Aber angesichts des gesellschaftlichen Entwicklungsstandes und der noch beschränkten Einsicht des Menschen in die tieferen Gesetze der historischen Entwicklung wären jene Änderungen von den politisch Handelnden ohne auch nur ein annäherndes wissenschaftliches Verständnis über die Folgen ihres Tuns vorgenommen worden.

Im Frankreich des Jahres 1794 existierten weder die objektiven Mittel noch die ihnen entsprechende wissenschaftliche Einsicht, um den historischen Entwicklungsgang bewußt zu gestalten – d. h. einem Verständnis der objektiven Logik sozio-ökonomischer Prozesse entsprechend zu handeln. Zweifellos handelten die Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses bewußt und verfügten über ein recht feines Gespür für die in der Revolution aktiven gesellschaftlichen Kräfte. Robespierre etwa war sich sicherlich darüber im klaren, daß Danton bei gewissen Schichten der Bourgeoisie Unterstützung fand. Er spürte die Gefahr, die eine Konfrontation mit den Versöhnlern mit sich brachte. Aber Robespierre konnte sich nicht im modernen Sinne der historischen Implikationen seiner Taten bewußt sein. Die objektiven Voraussetzungen für den historischen Materialismus waren noch nicht herangereift, und die wirklichen Triebkräfte hinter historischem Handeln wurden noch in verschiedenen mystifizierten ideologischen Formen aufgefaßt und interpretiert (wie Vernunft, Menschenrechte, Tugend, Brüderlichkeit).

Wenn man also über Alternativen zum historischen Ausgang der Französischen Revolution diskutiert, so gerät man mit seinen Hypothesen leicht in ein sehr spekulatives Fahrwasser. Insoweit die führenden Personen die historischen Folgen ihres eigenen Handelns nicht voraussehen konnten, können wir schwerlich mit gewisser Sicherheit behaupten, daß der Sieg der einen Jakobinerfraktion anstelle der anderen den folgenden Gang der Geschichte grundlegend geändert hätte, ganz zu schweigen davon, auf welche konkrete Weise.

Mit der Herausbildung des Marxismus wandelte sich die Beziehung des Menschen zu seiner eigenen Geschichte von Grund auf. Der Mensch gewann die Fähigkeit, sein Denken und Handeln bewußt in objektiven sozio-ökonomischen Begriffen zu interpretieren und damit den genauen Stellenwert seines eigenen Handelns in der Kette von Ursache und Wirkung, die den objektiven Verlauf der Geschichte ausmacht, zu bestimmen.

Deswegen begibt man sich nicht auf den Boden aussichtsloser Spekulation, wenn man über Alternativen zum Ausgang des Kampfes innerhalb der russischen Kommunistischen Partei und der Kommunistischen Internationale nachdenkt. Hier ist es nicht so, wie 130 Jahre zuvor in Frankreich, daß politische Fraktionen im Dunkeln tappen, getrieben von sozio-ökonomischen Kräften, deren sie sich nicht bewußt sind, und ihr Handeln in weitgehend idealistischen Begriffen definieren und begründen.

Nein, als Leo Trotzki und die Linke Opposition den Kampf aufnahmen, besaßen sie ein außerordentlich weitreichendes Verständnis über die historischen Implikationen der Probleme, vor denen die Sowjetunion und die internationale sozialistische Bewegung standen. Sowohl in seiner Analyse der inneren und internationalen Widersprüche der UdSSR als auch in seinen Warnungen an die Stalinisten ließ Trotzki keinen Zweifel an den letztlichen Folgen der wachsenden Macht der Bürokratie und der falschen Politik der sowjetischen Führung.

»Birgt der Bürokratismus die Gefahr der Degeneration in sich oder nicht?« fragte Trotzki im Dezember 1923. »Nur ein Blinder könnte das leugnen.«15 Diese Zeilen wurden in der Eröffnungsrunde des Kampfes gegen die aufsteigende stalinistische Herrschaft verfaßt. Schon in diesem frühen Stadium nannte Trotzki als Antwort auf die Frage, »auf welchen politischen Wegen... der Sieg der Konterrevolution eintreten« könnte, die »allmähliche Degeneration« der Kommunistischen Partei.16

So ernst die Gefahr auch sei, argumentierte Trotzki, mit Hilfe der bewußten politischen Voraussicht, die sich auf eine marxistische Analyse stütze, könne die Partei die Krise überwinden: »Wir stellen diese Entwicklungsmöglichkeit natürlich nicht deshalb so kraß dar, weil wir sie für historisch wahrscheinlich halten – im Gegenteil, sie ist sehr unwahrscheinlich – sondern deshalb, weil nur eine derartige Fragestellung eine korrektere und vielseitigere historische Orientierung erlaubt und folglich gestattet, alle nur möglichen Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Unser größter Vorteil als Marxisten besteht darin, daß wir neue Tendenzen und Gefahren schon im Keim erkennen können.«17

Wenn wir überlegen, ob der Sieg der Linken Opposition den Verlauf der sowjetischen und der Weltgeschichte durchgreifend geändert hätte, so sollten wir uns vielleicht mit drei Fragen befassen, die für das Schicksal der UdSSR von ausschlaggebender Bedeutung waren: 1) die innerparteiliche und die Sowjetdemokratie, 2) die Wirtschaftspolitik, und 3) die internationale Politik.

Es ist bemerkenswert, daß praktisch keine jener vielfältigen politischen und geistigen Strömungen, die in der einen oder anderen Form die Sowjetunion für von vornherein dem Untergang geweiht erklären – sei es wegen der »Grundfehler« des Marxismus oder der unmöglichen objektiven Bedingungen, die der Bolschewismus vorfand –, sich jemals die Mühe macht, die Politik der Linken Opposition einer konkreten Analyse zu unterziehen. Trotzki ist bis auf den heutigen Tag »die große Unperson« der sowjetischen Geschichte. In jenen seltenen Fällen, in denen er erwähnt wird, geschieht dies gewöhnlich, um seine Arbeit zu verdrehen und zu verfälschen.

Das Schweigen wie die Lügen zollen auf ihre Weise der historischen Bedeutung von Trotzkis Kampf gegen den Stalinismus Tribut. Alle Behauptungen, daß der Untergang der UdSSR unvermeidlich gewesen sei, daß die sozialistische Revolution ihrem ganzen Wesen nach ein utopisches Unterfangen sei, daß von daher die Oktoberrevolution die russische Arbeiterklasse in eine Sackgasse geführt habe, aus der es kein Entrinnen gab, daß Marxismus unweigerlich zu Totalitarismus führe, usw., werden durch die historisch verbürgte Tätigkeit der Linken Opposition widerlegt. Sie war in ihrer Politik eindeutig eine tragfähige, theoretisch wohlbegründete und politisch mächtige Opposition gegen die stalinistische Bürokratie.

Lassen Sie mich nun zu den drei Problembereichen kommen, die ich angeführt habe. Zunächst die Frage der sowjetischen und der innerparteilichen Demokratie. Es ist eine historische – durch das bereits zitierte Dokument von 1923 belegte – Tatsache, daß Trotzki bereits in einem sehr frühen Stadium des Kampfes, noch bevor der Begriff Stalinismus in der Politik überhaupt gebräuchlich war, erkannte, daß der wachsende Bürokratismus und die Abnahme der innerparteilichen Demokratie eine potentiell tödliche Gefahr für den Bolschewismus und für das Überleben der Sowjetregierung darstellten. In zahllosen Dokumenten betonten Trotzki und die Linke Opposition, daß eine kluge und richtige Formulierung der sowjetischen Politik, ganz zu schweigen von der politischen Erziehung eines marxistischen Kaders und breiter Schichten der Arbeiterklasse, ohne demokratische Verhältnisse innerhalb der bolschewistischen Partei undenkbar war.

»Die öffentliche Meinung der Partei wird notwendigerweise aus Widersprüchen und Meinungsverschiedenheiten erarbeitet«, schrieb Trotzki 1923. »Wenn man diesen Prozeß nur auf den Apparat beschränkt, der danach die Früchte seiner Arbeit in Form von Losungen, Befehlen usw. an die Partei weitergibt, so schwächt man die Partei ideologisch und politisch... Um das zu vermeiden, müssen die führenden Parteiorgane aufmerksam auf die Stimme der breiten Parteimassen hören, sie dürfen nicht in jeder Kritik den Ausdruck des Fraktionismus sehen und auf diese Weise gewissenhafte und disziplinierte Parteimitglieder auf den Weg der Verschlossenheit und des Fraktionismus stoßen18

Trotzki wies die eigennützige Behauptung des Apparats zurück, daß jede Opposition gegen Beschlüsse der Führungsgremien der Partei unterschiedslos die Interessen feindlicher Klassenkräfte zum Ausdruck bringe: »Die Partei kann häufig ein und dieselbe Frage auf verschiedene Weise lösen. Und die Meinungsverschiedenheiten erheben sich darüber, welche dieser Möglichkeiten besser, kürzer und ökonomischer ist. Derartige Meinungsverschiedenheiten können, je nachdem, um welche Frage es geht, breite Kreise der Partei ergreifen, aber das bedeutet noch lange nicht unbedingt, daß es sich um den Kampf zweier Klassentendenzen handelt. Und zweifellos wird uns das nicht nur einmal, sondern Dutzende von Malen in der Zukunft passieren, da ein schwieriger Weg vor uns liegt und nicht nur die politischen Aufgaben, sondern auch z.B. die wirtschaftlich-organisatorischen Probleme des sozialistischen Aufbaus Meinungsverschiedenheiten und kurzfristige Gruppierungen schaffen werden. Eine politische Überprüfung aller Nuancen an Hand der marxistischen Analyse wird für unsere Partei immer eine notwendige Sicherheitsmaßnahme sein.«19

Der Charakter des Parteiregimes wirkte sich direkt auf den sozialistischen Aufbau aus. Die wirtschaftliche Planung, so erläuterte Trotzki bei unzähligen Gelegenheiten, verlange von ihrem ganzen Wesen her nach einer engagierten und demokratischen Beteiligung der Massen an den Entscheidungsprozessen und sei unvereinbar mit bürokratischen Verordnungen. Während Trotzki also eine weitsichtige Einschätzung der Widersprüche der sowjetischen Wirtschaft vertrat und konkrete Maßnahmen zu ihrer Linderung vorschlug, betonte er zugleich, daß die Formulierung und Verwirklichung einer richtigen Wirtschaftspolitik von demokratischen Verhältnissen innerhalb der Partei abhinge.

Die innerparteiliche Demokratie war nicht einfach ein abstraktes Prinzip, und ihre praktische Bedeutung beschränkte sich nicht auf die Wirtschaftspolitik. Bei Trotzkis Kampf zur Verteidigung der Sowjetdemokratie ging es um das gesamte Erbe der sozialistischen Kultur und des revolutionären Denkens, wie sie sich im Verlaufe des vorangegangenen Jahrhunderts in der internationalen Arbeiterbewegung entfaltet hatten. Die Bürokratie behandelte den Marxismus wie die Leiche Lenins: sie mumifizierte ihn und zelebrierte an ihm allerhand geradezu mystische Beschwörungsriten. Von 1927 an spielte der Marxismus bei der Formulierung der Sowjetpolitik im Grunde überhaupt keine Rolle mehr. Die Niederlage der Opposition und die Unterdrückung des revolutionären Marxismus läutete die Totenglocke für alle kritischen Gedanken auf praktisch jedem Gebiet des geistigen und kulturellen Lebens.

Damit muß ich mich der zweiten Frage zuwenden, der Wirtschaftspolitik der Linken Opposition. Dies ist ein umfangreiches Thema, das sich nicht in einige Zitate zwängen läßt, dennoch möchte ich das eine oder andere anführen, um zumindest anzudeuten, wie grundlegend sich die Opposition im Umgang mit Problemen der sowjetischen Wirtschaftsentwicklung von der stalinistischen Bürokratie unterschied.

Der Konflikt zwischen der Opposition und den Stalinisten über die Wirtschaftspolitik drehte sich um die grundlegendste Frage der historischen Perspektive: Konnte die Sowjetunion den Sozialismus mittels ihrer eigenen nationalen Ressourcen aufbauen, oder hing die sozialistische Entwicklung der UdSSR in letzter Analyse vom Sieg der proletarischen Revolution in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern Westeuropas und Nordamerikas ab? Bis 1924 bestand die unbestrittene Prämisse der Sowjetpolitik – ja, des gesamten revolutionären Vorhabens, das die Bolschewiki im Oktober 1917 begannen – darin, daß die Machteroberung in Rußland nur die Eröffnung der sozialistischen Weltrevolution war. Ein national auf sich gestellter sozialistischer Staat konnte, insbesondere in einem wirtschaftlich und kulturell so rückständigen Land wie Rußland, nicht lebensfähig sein. Als Stalin im Herbst 1924 die »Theorie« des »Sozialismus in einem Land« aufstellte – es war eigentlich keine »Theorie«, sondern eine plumpe pragmatische Reaktion auf die Niederlage der deutschen Revolution im Vorjahr und auf den zeitweiligen Rückgang der revolutionären Bewegung in Westeuropa – als er diese »Theorie« aufstellte, setzte er sich in Widerspruch zu der internationalistischen Orientierung, die die Bolschewiki unter der Führung Lenins und Trotzkis vertreten hatten.

Professor Hobsbawm würde nicht bestreiten, daß die Politik des »Sozialismus in einem Land« stark von der ursprünglichen Vision der Oktoberrevolution abwich. Doch er legt nahe, daß diese Vision nicht allzu realistisch gewesen sei, da es der russischen Revolution unvermeidlich »beschieden« war, den Sozialismus in einem Land aufzubauen oder dies zumindest zu versuchen. Würde man Hobsbawm auffordern, diesen Standpunkt zu verteidigen, so müßte er am Ende wohl argumentieren, daß die theoretische Lehre im allgemeinen abstrakten Sinne zwar auf Seiten Trotzkis, die praktische Realität aber eindeutig auf Seiten Stalins gestanden habe. Trotzkis Auffassung der Weltrevolution bilde zwar eine faszinierende Lektüre, habe aber im tatsächlichen Zusammenhang der politischen und wirtschaftlichen Lage der UdSSR Mitte der zwanziger Jahre wenig zu bieten gehabt. Wer also behaupte, daß die trotzkistische Politik eine wirkliche Alternative zu jener Stalins dargestellt habe, gebe sich revolutionären Schwärmereien hin.

Natürlich kann ich nicht sicher sein, daß Hobsbawm genau so argumentieren würde. Ich treibe hier ein bißchen »Spekulation«. Aber selbst wenn es nicht ganz exakt Hobsbawms Argumente sein sollten, so habe ich sie doch oft von bürgerlichen Historikern gehört, von offenen Apologeten des Stalinismus ganz zu schweigen.

Das grundlegendste Problem mit dieser Argumentation besteht darin, daß sie Trotzkis Ansichten und seine Differenzen mit Stalin in verzerrter und stereotyper Weise auffaßt. Man kann Trotzkis Perspektive viel leichter abschreiben, wenn man sie auf das ungeduldige und romantische Drängen zum Sturm auf die Barrikaden des Weltkapitalismus herabwürdigt und sie dann Stalins gewiefterer, nüchterner Sorge um die Entwicklung der Sowjetunion auf der Grundlage einer realistischen Bewertung der ihr national gegebenen Ressourcen gegenüberstellt.

Natürlich können wir die Schreiber der sowjetischen Geschichte nicht zwingen Trotzkis Schriften zu lesen. Diejenigen, die seine Artikel und Bücher mit der gebührenden Sorgfalt studieren – und Trotzki zählte meiner Meinung nach zu den größten politischen Denkern und Schriftstellern des zwanzigsten Jahrhunderts –, werden allerdings feststellen, daß Trotzkis revolutionärer Internationalismus gerade in den Analysen über die Widersprüche und Probleme der sowjetischen Wirtschaftsentwicklung seinen brillantesten und differenziertesten Ausdruck fand.

Nichts in Trotzkis Schriften deutet darauf hin, daß er der sowjetischen Wirtschaftspolitik angeraten hätte, einfach auf die Machteroberung der Arbeiterklasse in Westeuropa oder den Vereinigten Staaten von Amerika zu warten. Sein zentraler Ausgangspunkt bestand gerade darin, daß die UdSSR hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Probleme eine Politik benötige, mit der sie in einer mehr oder weniger langen Übergangsperiode überleben und sich entwickeln könne – die Dauer dieser Periode, in der die Sowjetunion in einem vom Kapitalismus dominierten internationalen Umfeld bestehen müsse, könne man nicht vorhersagen.

Ungeachtet ihres Programms des »Sozialismus in einem Land« hielt die stalinistische Bürokratie in den zwanziger Jahren immer noch, wenn auch inkonsequent, an der Verpflichtung der UdSSR gegenüber der internationalen Revolution fest. Trotzkis Hauptkritik an diesem Programm unter dem Gesichtswinkel der wirtschaftlichen Entwicklung bestand nicht darin, daß es, zumindest langfristig, die Bedeutung der Weltrevolution für das Schicksal der Sowjetunion kategorisch bestritten hätte. Vielmehr betonte Trotzki, daß die nationalistische Orientierung hinter dem »Sozialismus in einem Land« zu einer Politik der Autarkie führe, die sowohl die direkte wie auch die indirekte Einwirkung der Weltwirtschaft auf die Sowjetunion in gefährlicher Weise unterschätze.

Es mag paradox erscheinen, daß Trotzki, der große Protagonist der Weltrevolution, mehr als jeder andere sowjetische Führer seiner Zeit die eminente Bedeutung enger wirtschaftlicher Beziehungen zwischen der UdSSR und dem kapitalistischen Weltmarkt hervorhob. Die wirtschaftliche Entwicklung der Sowjetunion, betonte Trotzki, erfordere sowohl Zugang zu den Ressourcen des Weltmarktes als auch eine durchdachte Nutzung der internationalen Arbeitsteilung. Die Entwicklung der wirtschaftlichen Planung setze zumindest die Kenntnis der Wettbewerbsvorteile und der Schlagkraft auf internationaler Ebene voraus. Es ergab wirtschaftlich keinen Sinn, die Vergeudung der beschränkten sowjetischen Ressourcen auch noch zur Tugend zu erheben, indem man vergeblich versuchte, auf sowjetischem Boden zu kopieren, was man doch weitaus billiger auf dem kapitalistischen Weltmarkt einkaufen konnte.

»Wenn wir unsere Hoffnung auf eine isolierte sozialistische Entwicklung und auf ein von der Weltwirtschaft unabhängiges Tempo setzen, so fälschen wir damit die ganze Perspektive. Unsere Wirtschaftsführung kommt damit aus dem richtigen Geleise und verliert die leitenden Fäden zu einer günstigen Regelung unserer weltwirtschaftlichen Beziehungen. Wir können gar nicht mehr entscheiden, was wir selbst fabrizieren und was wir aus dem Auslande einführen sollen. Eine entschlossene Abkehr von der Theorie einer isolierten sozialistischen Wirtschaft führt im Verlauf weniger Jahre zu einer unvergleichlich schnelleren Ausnutzung unserer Hilfskräfte, zu einer schnelleren Industrieentwicklung, zu einem planvollen und starken Anwachsen unserer eigenen Maschinenerzeugung. Sie führt auch zu einer schnelleren Vermehrung der Zahl der beschäftigten Arbeiter und zu einer wirklichen Senkung der Preise – mit einem Wort, zu einer wahren Stärkung der Sowjetunion in der kapitalistischen Umgebung.«20

Trotzki gehörte natürlich jener Generation russischer Marxisten an, die die Gelegenheit ihres Exils als Revolutionäre genutzt hatten, um die Wirkungsweise des kapitalistischen Systems in den fortgeschrittenen Ländern genau zu beobachten und zu studieren. Sie kannten nicht nur die oft geschilderten »Schrecken« des Kapitalismus, sondern auch seine positiven Errungenschaften. Die zahllosen Stunden, die sie mit dem Studium des »Kapitals« zugebracht hatten, waren durch viele Jahre Anschauungsunterricht ergänzt worden. Bei ihrer Rückkehr nach Rußland – das gilt besonders für Trotzkis engste Gesinnungsgenossen während der Zeit des Exils – brachten sie ein präzises Verständnis für die Kompliziertheit der modernen Wirtschaftsorganisation mit. Wenn die Frage durch politische Kämpfe nicht mit so tragischen Implikationen belastet gewesen wäre, so hätten sie über den Gedanken, daß Rußland durch die Verstaatlichung seiner armseligen Produktionsmittel irgendwie in den Sozialismus springen könnte, wohl einfach nur gelacht. Weit entfernt, den Kapitalismus auf der Grundlage nationaler Autarkie einzuholen und zu überholen, argumentierte Trotzki, bestand eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung der sowjetischen Wirtschaft hin zum Sozialismus in der Aneignung der Grundlagen von Management, Organisation, Buchführung und Produktion im Kapitalismus.

Unser sehr knapper Überblick über den Gegensatz zwischen der Wirtschaftspolitik Trotzkis und Stalins muß auch die Frage der Kollektivierung ansprechen. Es ist allgemein bekannt, daß sich die sowjetische Landwirtschaft nie vollständig von den traumatischen Folgen der ebenso gedankenlosen wie brutalen Kollektivierung unter Stalin von 1929 bis 1932 erholt hatte. Ein vernünftigerer Umgang mit den Problemen der sowjetischen Landwirtschaft hätte der UdSSR gewiß unermeßliche Verluste und eine endlose Agonie erspart. Gerade auf diesem Gebiet nimmt die Frage einer alternativen Politik enorme praktische Bedeutung an, und gerade deshalb tun politisch rechts stehende Historiker im allgemeinen so, als habe es keine gegeben. Es wird sogar oft behauptet, die Kollektivierung habe sich daraus ergeben, daß Stalin in den späten zwanziger Jahren das Programm der Linken Opposition zur schnellen Industrialisierung übernommen habe. In Wirklichkeit hat Trotzki sich der blindwütigen Kollektivisierungskampagne der Stalinisten widersetzt und sie verurteilt. Trotz der pseudo-sozialistischen Demagogie, die mit der Kollektivierung einherging, warnte Trotzki, daß diese Politik, die in gewissenloser Mißachtung der tatsächlichen produktiven Möglichkeiten von Industrie und Landwirtschaft vollzogen wurde, auf denselben nationalistischen und antimarxistischen Auffassungen vom »Sozialismus in einem Land« beruhte, wie auch die vorangegangenen gescheiterten Wirtschaftsprogramme der stalinistischen Bürokratie.

In einer Kritik an der stalinistischen Kollektivierung aus dem Jahr 1930 räumte Trotzki ein, daß er früher für eine raschere Industrialisierung eingetreten sei und eine stärkere Besteuerung der wohlhabenderen Bauernschichten (der Kulaken) vorgeschlagen habe, um Mittel für die Entwicklung der Industrie freizumachen. »Aber wir haben die Ressourcen der Industrialisierung nie für unbegrenzt gehalten. Wir dachten nie, ihr Tempo könne nur mit der Peitsche der Bürokratie reguliert werden. Immer wieder haben wir auf die Notwendigkeit einer systematischen Verbesserung der Lage der arbeitenden Klasse als auf eine Grundbedingung der Industrialisierung hingewiesen. Die Kollektivierung sahen wir stets in Abhängigkeit von der Industrialisierung. Die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft stellten wir uns als eine Aufgabe vieler Jahre vor. Nie haben wir verkannt, daß innere Widersprüche beim sozialistischen Aufbau eines einzelnen Landes unvermeidbar sind. Die Widersprüche auf dem Lande können nur beseitigt werden, wenn die Widersprüche zwischen Stadt und Land beseitigt werden, und das ist nur durch die Weltrevolution möglich. Wir haben niemals von Stalin und Krschischanowski die Liquidierung von Klassen im Rahmen des Fünfjahresplanes gefordert... Das Tempo der Industrialisierung ist keine Angelegenheit bürokratischer Phantasien, sondern eine Frage des Lebens und der Kultur der Massen. Die Planung des sozialistischen Aufbaus kann sich daher nicht an bürokratischen Direktiven orientieren, die von der Erfahrung abgekoppelt sind. Sie muß wie der sozialistische Aufbau selbst im Rahmen einer umfassenden Sowjetdemokratie ausgearbeitet und verbessert werden.«21

Trotzki bekräftigte dann die wesentliche Grundlage seiner Kritik an der stalinistischen Kollektivierung: »Immer haben wir uns nachdrücklich gegen das Projekt ausgesprochen, ›in kürzester Frist‹ eine nationale, sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Kollektivierung und Industrialisierung sind für uns untrennbar mit der Weltrevolution verbunden. Die Probleme unserer Wirtschaft werden letzten Endes auf internationaler Ebene entschieden.«22

Wenn wir versuchen uns vorzustellen, wie der Sieg der Linken Opposition die Geschichte der Sowjetunion vielleicht verändert hätte, so behaupten wir nicht, daß man ein genaues Bild ihrer möglichen Entwicklung zeichnen könnte. Eine detaillierte hypothetische Rekonstruktion der Vergangenheit ist ebenso unmöglich wie die Vorhersage der Zukunft. Die Verwirklichung einer anderen Politik nach 1924 hätte in die historische Gleichung eine große Menge neue politische, gesellschaftliche und ökonomische Variable eingebracht, die in ihrem Zusammenwirken den Verlauf der Ereignisse vielleicht ganz anders gestaltet hätten, als wir es uns vorstellen können, wenn wir rückblickend die Alternativen bewerten. Doch auch wenn man dem Prinzip der historischen »Ungewißheit« Rechnung trägt, bedeutet das nicht, daß man überhaupt nichts Kluges oder Überzeugendes über historische Alternativen sagen könnte. Es gibt sehr solide faktische und theoretische Gründe für die Annahme, daß ein Sieg der Linken Opposition eine rationalere, produktivere und menschlichere Entwicklung der sowjetischen Wirtschaft höchst wahrscheinlich gemacht hätte. Hobsbawm versucht diese Möglichkeit zu entkräften, indem er schreibt, daß die Industrialisierung in jedem Falle »eine gehörige Portion Zwang« erfordert hätte. Die Frage sei nur, wie viel. Aber das ist, wie die Geschichte der UdSSR zur Genüge beweist, keine kleine Frage. Man sollte die dialektische Beziehung zwischen Quantität und Qualität nicht vergessen. Es besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen einer hohen Besteuerung der reichsten Bauernschichten und der physischen »Liquidierung der Kulaken als Klasse«. Hätte die Wirtschaftspolitik der Opposition nichts weiter erreicht, als die Schrecken der stalinistischen Kollektivierung zu verhindern – und es ist praktisch unvorstellbar, daß sie bei einem Sieg der Opposition stattgefunden hätte –, dann wäre der UdSSR diese Katastrophe mit allen ihren Folgen erspart geblieben.

Wenden wir uns nun den Folgen der Niederlage Leo Trotzkis und der Linken Opposition für die internationale Arbeiterklasse und die sozialistische Weltbewegung zu. Diese wesentliche internationale Dimension bleibt in Hobsbawms Haltung zu den nicht realisierten Alternativen unberücksichtigt. Von seinem Standpunkt aus, wonach der letztliche Zusammenbruch der UdSSR unaufhaltsam aus den objektiven Bedingungen von 1921 hervorging, muß er gar nicht erst untersuchen, wie die internationale Politik des stalinistischen Regimes auf die Entwicklung der Sowjetunion zurückwirkte. Er geht so weit zu behaupten, daß zwischen der Innen- und Außenpolitik kaum ein Zusammenhang bestanden habe: »Die russische Revolution hat eigentlich zwei ineinander verwobene Geschichten: ihre Auswirkung auf Rußland und ihre Auswirkung auf den Rest der Welt. Wir dürfen die beiden nicht durcheinanderwerfen.«23

Eine solche Trennung würde dazu führen, daß man das Phänomen des Stalinismus nicht mehr begreifen kann. Das stalinistische Regime entstand auf der Grundlage einer russischen nationalistischen Reaktion gegen den proletarischen sozialistischen Internationalismus, den die bolschewistische Regierung unter der Führung Lenins und Trotzkis verkörperte. Das Programm des Sozialismus in einem Land diente all jenen Elementen innerhalb der Bürokratie als Banner, die ihre eigenen materiellen Interessen mit der Entwicklung der UdSSR als machtvollem Nationalstaat identifizierten. Die Bürokratie sicherte sich ihre Privilegien vermittels des Staatseigentums an den Produktionsmitteln. Je bewußter sie sich über die nationalstaatlichen Grundlagen ihrer Privilegien wurde, desto weniger war die Bürokratie bereit, diese im Interesse der Weltrevolution aufs Spiel zu setzen. Das Programm des Sozialismus in einem Land legitimierte die Unterordnung der Interessen der internationalen sozialistischen Bewegung unter die nationalen Interessen des Sowjetstaates, so wie die Bürokratie sie auffaßte.

Gerade auf der Ebene des internationalen Klassenkampfes führte die Niederlage der Linken Opposition zu den tragischsten und langfristigsten Folgen, und daher stellt sich gerade hier die Frage, ob sich die UdSSR anders hätte entwickeln können, besonders ernst und schwerwiegend. In seiner Analyse des Wachstums des stalinistischen Regimes betonte Trotzki stets, daß die politische Reaktion gegen Programm und Traditionen des Oktober innerhalb der UdSSR durch die Niederlagen der internationalen Arbeiterklasse ausgesprochen gestärkt wurde. Der anfängliche Rückschlag der Linken Opposition im Spätherbst 1923 hing eindeutig mit der Niederlage der deutschen Revolution zusammen, nach der in der UdSSR die Hoffnungen auf eine baldige Hilfe der europäischen Arbeiter verblaßten. Dieses Klima steigerte die Empfänglichkeit für die nationalistische Perspektive des Sozialismus in einem Land. Die politische Fehlorientierung, welche die sowjetischen Führer innerhalb der Kommunistischen Internationale hervorriefen, führte ihrerseits zu weiteren Niederlagen der Arbeiterklasse außerhalb der UdSSR. Jede dieser Niederlagen verstärkte die Isolation Sowjetrußlands, untergrub weiter das Vertrauen der sowjetischen Arbeiter auf die Perspektive der Weltrevolution und erschütterte die politische Stellung der marxistischen und internationalistischen Opposition gegen das stalinistische Regime.

Da sie von Hause aus jeglicher Revolution, die in ihren Augen einen Verstoß gegen den normalen Gang der Geschichte darstellt, äußerst skeptisch begegnen, qualifizieren Berufshistoriker die internationale Perspektive hinter der Oktoberrevolution gern als unrealistisch und utopisch ab. Wir haben bereits gesehen, daß Hobsbawm Lenins Vertrauen auf eine deutsche Revolution für einen fatalen politischen Fehlschluß hält. Hobsbawm äußert sich aber mit keinem Wort über Trotzkis Kampf gegen die Politik des Sozialismus in einem Land. Wenn man ihn nach seiner Meinung dazu fragen würde, dann würde er sicherlich antworten, daß Trotzkis internationale Perspektive in den zwanziger und dreißiger Jahren ebenso unrealistisch war, wie jene Lenins im Jahr 1918. Hobsbawm würde argumentieren, daß die Ansicht, Trotzkis internationales Programm habe eine tragfähige Alternative dargestellt, die den Verlauf der sowjetischen Geschichte vielleicht geändert hätte, wieder nur zwecklose Spekulation sei.

Wie also können wir nachweisen, daß die internationale Politik der Linken Opposition, die sich auf die Theorie der permanenten Revolution stützte, die Kommunistische Internationale ausnehmend gestärkt und die internationale Stellung der Sowjetunion verbessert hätte? Natürlich können wir nicht mit politischer und moralischer Sicherheit beweisen, daß der Sieg der Linken Opposition den Erfolg der revolutionären Kämpfe außerhalb der Sowjetunion garantiert hätte. Wir geben gern zu, daß auf dem Gebiet der Revolution nicht die logische Beweisführung, sondern der tatsächliche physische Kampf den Ausschlag gibt. Das heißt jedoch nicht, daß wir gestützt auf historische Quellen keine plausiblen Schlußfolgerungen über die wahrscheinlichen Folgen eines Sieges der Opposition für die revolutionäre Weltbewegung ziehen könnten.

Wir wollen, wenn auch nur kurz, auf zwei entscheidende Episoden in der Geschichte der internationalen Arbeiterklasse eingehen.

Als erstes die katastrophale Niederlage der chinesischen Revolution von 1927: Die Ursache dieser Niederlage war die Unterordnung der Kommunistischen Partei Chinas unter die von Tschiang Kai-Schek geführte bürgerliche Kuomintang. Die chinesische KP wurde von Stalin angewiesen, Tschiang und die Kuomintang als autoritative Führung der demokratischen Revolution zu akzeptieren. Der politische Hintergrund dieser Anweisung waren Stalins Bemühungen um engere Beziehungen zwischen der Sowjetunion und China vermittels eines politischen Bündnisses mit Tschiang. Trotzki warnte unaufhörlich, daß die Unterordnung der KP unter die bürgerliche Kuomintang, ein Verstoß gegen die grundlegendsten Lehren aus der bolschewistischen Strategie von 1917, katastrophale Folgen für die Arbeiterklasse haben werde. Tschiang sei kein Bundesgenosse, in den die Kommunistische Partei und die Arbeiter das geringste Vertrauen setzen könnten. Sobald sich eine Gelegenheit biete, werde Tschiang auf den Druck seiner imperialistischen und bürgerlichen Schutzpatrone hin erbarmungslos gegen die KP und die revolutionären Arbeiter von Schanghai vorgehen. Diese Warnungen wurden in den Wind geschlagen. Noch während Tschiangs Benehmen immer bedrohlicher wurde, drängte Stalin die KP Chinas, ihre Loyalität gegenüber der Kuomintang offener denn je zur Schau zu stellen. Am Ende wies die KP Chinas die revolutionären Arbeiter in Schanghai an, vor dem Einzug von Tschiangs Truppen ihre Waffen abzugeben. Während Trotzkis vernichtendes Urteil über Stalins Politik in der ganzen Kommunistischen Internationale widerhallte, trieben die Ereignisse in China auf ihren katastrophalen Höhepunkt zu. Tschiangs Truppen marschierten in Schanghai ein, wo sie, genau wie Trotzki und die Linke Opposition gewarnt hatten, Zehntausende kommunistische Arbeiter niedermetzelten. Die KP Chinas erlitt einen Schlag, von dem sie sich nie wieder erholte.

Man muß nicht feststellen, was sich per se nicht beweisen läßt: daß die Politik der Linken Opposition für den Sieg der chinesischen Revolution in den zwanziger Jahren gesorgt hätte – obwohl ein solcher Sieg meines Erachtens möglich gewesen wäre. Man kann aber mit großer Gewißheit festhalten, daß die chinesische Kommunistische Partei Tschiangs Staatsstreich im April 1927 nicht zum Opfer gefallen und die Position der Arbeiterklasse nicht so fatal geschwächt worden wäre. Unter der Führung Stalins entwickelten sich die Ereignisse in einer Weise, daß die historischen Folgen der Niederlage in China ihrem Umfang nach wahrhaft unermeßlich wurden. Abgesehen von ihren unmittelbaren Auswirkungen auf die UdSSR – sie steigerte deren politische Isolation und stärkte damit das bürokratische Regime – führte die Niederlage von 1927 auch zu einer tragischen Wandlung der revolutionären Bewegung in China selbst. Nachdem die KP in den Städten durch Tschiangs konterrevolutionären Schlag zerschlagen worden war, zogen sich ihre verwirrten Überreste auf das Land zurück und gaben ihre historische Orientierung auf die Arbeiterklasse auf. Von nun an stützte sich die Arbeit der KP Chinas unter der Führung Maos – der übrigens auf dem rechten Flügel der zerschlagenen Partei gestanden hatte – auf die Bauernschaft. Die Partei, die 1949 an die Macht kam, verfügte daher über wenig echte Verbindungen zur Arbeiterklasse und ähnelte kaum noch der Bewegung aus der Zeit vor der Katastrophe von 1927. Bis zum heutigen Tag, da die Erben Maos die Ausbeutung der chinesischen Massen durch transnationale Konzerne fördern und überwachen, leben wir mit den direkten Folgen der katastrophalen Politik Stalins vor 1927.

Wenn der Sieg der Linken Opposition nichts weiter erreicht hätte, als die von Stalins Politik herbeiführte Katastrophe in China zu verhindern, dann hätte dies allein den Verlauf der Weltgeschichte von Grund auf zugunsten der Sowjetunion und der internationalen revolutionären Bewegung geändert.

Kommen wir nun zum zweiten Ereignis: der Aufstieg des Faschismus in Deutschland. Vor dem Sieg Hitlers im Januar 1933 verfügten die beiden Massenparteien der Arbeiter in Deutschland – die Sozialdemokratische und die Kommunistische Partei – über eine Anhängerschaft von 13 Millionen Wählern. Bei den letzten Wahlen vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler hatten diese beiden Parteien zusammen mehr Stimmen erhalten, als die Nazis. Doch die Anzahl der Wählerstimmen widerspiegelt nur ungenügend die jeweilige tatsächliche Stärke der faschistischen und der sozialistischen Bewegungen. Hitlers Bewegung, die sich auf das ruinierte Kleinbürgertum und auf Lumpenelemente stützte, bestand selbst in ihren Stoßtrupps aus einer formlosen und instabilen Masse. Die beiden sozialistischen Parteien hingegen stützten sich auf die Arbeiterklasse, die aufgrund ihrer Stellung zu den wichtigsten Produktivkräften potentiell eine ungeheuer mächtige gesellschaftliche und politische Kraft darstellte.

Hitlers großer Vorteil bestand jedoch in der politischen Spaltung der Arbeiterbewegung. Die Führer sowohl der Sozialdemokratischen wie auch der Kommunistischen Partei verweigerten sich jeder gemeinsamen Aktion zur Verteidigung der Arbeiterklasse gegen die faschistische Gefahr. Die Haltung der Sozialdemokratie ergab sich aus ihrer feigen Unterordnung unter die verfaulende bürgerliche Regierung der Weimarer Republik und aus ihrer Angst vor den möglicherweise revolutionären Folgen einer gemeinsamen Offensive sozialdemokratischer und kommunistischer Arbeiter gegen die Faschisten.

Das zentrale Problem der Kommunistischen Partei bestand darin, diese lähmende Spaltung der Arbeiterklasse zu überwinden. Der Weg dazu wäre das Angebot einer Einheitsfront mit den Sozialdemokraten gegen die faschistische Bedrohung gewesen. Ungeachtet der politischen Opposition der SPD-Führer hätten offizielle, direkte und nicht nachlassende Aufrufe der KPD zu einer Einheitsfront zumindest einen tiefen Eindruck auf die sozialdemokratischen Arbeiter gemacht und ihnen gezeigt, daß nicht die Kommunisten für die lähmende Spaltung in den Reihen des deutschen Proletariats verantwortlich waren. Selbst wenn der Meinungsumschwung der sozialdemokratischen Massen nicht ausgereicht hätte, den Widerstand der SPD- und Gewerkschaftsführer gegen einen ernsthaften Kampf gegen Hitler zu überwinden, so hätte eine konsequente Kampagne der Kommunistischen Partei deren Ansehen in den Augen von Millionen sozialdemokratischer Arbeiter doch gehoben und einen beträchtlichen Teil von ihnen für sie gewonnen.

Doch die KPD führte keine solche Kampagne. Gemäß der ultralinken Linie der »dritten Periode«, die die Stalinisten auf dem sechsten Kongreß der Kommunistischen Internationale durchgesetzt hatten, erklärte die KPD die Sozialdemokratie zu einer Spielart des Faschismus – zum »Sozialfaschismus«, um es genau zu sagen. Abmachungen mit dem »Sozialfaschismus« galten als unzulässig.

Schon 1930 warnte Trotzki, der sich mittlerweile im Exil auf der türkischen Insel Prinkipo befand, daß der Faschismus eine ungeheure Gefahr für die deutsche und internationale Arbeiterklasse darstelle, und daß das Versagen der KPD, indem sie den Kampf für eine Einheitsfront ablehne, Hitler den Weg an die Macht ebne.

Am 17. September 1930 schrieb Trotzki: »Der Faschismus ist in Deutschland zu einer wirklichen Gefahr geworden; er ist Ausdruck der akuten Ausweglosigkeit des bürgerlichen Regimes, der konservativen Rolle der Sozialdemokratie und der akkumulierten Schwäche der Kommunistischen Partei im Kampf gegen dieses Regime. Wer das leugnet, ist blind oder ein Schwätzer.«24 Ein erfolgreicher Verteidigungskampf gegen den Faschismus, schrieb er, hieße »sich der Mehrheit der deutschen Arbeiterklasse zu nähern und mit den sozialdemokratischen und parteilosen Arbeitern eine Einheitsfront gegen die faschistische Gefahr zu bilden.«25

Am 26. November 1931 schrieb Trotzki: »Es ist Pflicht der Linken Opposition, Alarm zu schlagen: Die Leitung der Komintern führt das deutsche Proletariat in eine gewaltige Katastrophe, in die panische Kapitulation vor dem Faschismus! Die Machtergreifung der deutschen ›Nationalsozialisten‹ würde vor allem die Vernichtung der Elite des deutschen Proletariats nach sich ziehen, die Zerstörung seiner Organisationen, den Verlust seines Selbstvertrauens und des Glaubens an seine Zukunft. Entsprechend der weitaus größeren Reife und Schärfe der sozialen Gegensätze in Deutschland würde sich die Höllenarbeit des italienischen Faschismus wahrscheinlich als eine unbedeutende, beinahe humane Erfahrung ausnehmen im Vergleich zur Arbeit des deutschen Nationalsozialismus.«26

Am 27. Februar 1932 antwortete Trotzki auf die erbärmlichen Behauptungen der stalinistischen Führer, daß ein Sieg Hitlers lediglich das Vorspiel zu einem Sieg der Kommunisten wäre: »Der Faschismus ist nicht einfach ein System von Repressionen, Gewalttaten, Polizeiterror. Der Faschismus ist ein besonderes Staatssystem, begründet auf der Ausrottung aller Elemente proletarischer Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Aufgabe des Faschismus besteht nicht allein in der Zerschlagung der proletarischen Avantgarde, sondern auch darin, die ganze Klasse im Zustand erzwungener Zersplitterung zu halten. Dazu ist die physische Ausrottung der revolutionärsten Arbeiterschicht ungenügend. Es heißt, alle selbständigen und freiwilligen Organisationen zu zertrümmern, alle Stützpunkte des Proletariats zu zerstören und die Ergebnisse eines dreiviertel Jahrhunderts Arbeit der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften zu vernichten.«27

Nur noch einen weiteren Absatz aus Trotzkis Schriften möchte ich anführen. Im April 1932 veröffentlichte Trotzki eine Erklärung, in der er warnte, daß ein Sieg Hitlers einen Krieg zwischen Deutschland und Sowjetrußland unvermeidlich machen würde. Trotzki wählte seine Worte mit Bedacht, als er erklärte, wie er, wenn er an der Macht wäre, auf einen faschistischen Sieg in Deutschland reagieren würde: »An ihrer Stelle würde ich, sobald ich die telegraphische Nachricht von diesem Ereignis erhielte, eine Teilmobilmachung anordnen. Steht man einem Todfeind gegenüber und ergibt sich der Krieg mit Notwendigkeit aus der Logik der realen Situation, so wäre es unverzeihlicher Leichtsinn, diesem Gegner Zeit zu lassen, sich festzusetzen und zu stärken, Bündnisse einzugehen, sich die nötige Hilfe zu verschaffen, einen umfassenden militärischen Angriffsplan – nicht nur für den Westen, sondern auch für den Osten – auszuarbeiten, und so eine ungeheure Gefahr wachsen zu lassen.«28

Wir wissen heute, was dann geschah – der Sieg der Nazis, der folgende perfide Nichtangriffspakt Stalins mit Hitler, der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, die Zerstörung der sowjetischen Verteidigungsbereitschaft durch Stalin, während Hitler die Operation Barbarossa vorbereitete, der Verlust von 27 Millionen sowjetischen Soldaten und Zivilisten im Kampf gegen die deutsche Invasion. Vor diesem Hintergrund kann man Trotzkis Worte nicht lesen, ohne den tragischen Verlust und die Vergeudung von Menschenleben zu empfinden. Wie viel Leid und Elend hätte vermieden werden können, wie anders hätte das zwanzigste Jahrhundert verlaufen können, wenn sich die Politik Trotzkis, die Politik des revolutionären Marxismus durchgesetzt hätte.

Unser kurzer Rückblick auf die Niederlagen in China und Deutschland kann kaum mehr sein, als ein erster Einstieg in das Thema der konterrevolutionären Rolle des Stalinismus in der internationalen Arbeiterbewegung und deren Auswirkungen auf die Entwicklung der UdSSR. Wir stoßen jedoch schon jetzt an die Grenzen dessen, was man im Rahmen eines einzigen Vortrags ausführen kann. Dennoch möchte ich um der historischen Klarheit willen noch einen Punkt hinzufügen. Die Niederlage der deutschen Arbeiterklasse bildete einen entscheidenden Wendepunkt in der Entwicklung des stalinistischen Regimes. Angesichts der schweren Bedrohung durch ein starkes faschistischen Regime, für dessen Entstehung seine eigene Politik die Hauptverantwortung trug, durchtrennte Stalin die letzten dünnen Fäden, die den sowjetischen Staat noch mit dem Ziel der sozialistischen Weltrevolution verbanden. Fortan sollte sich die Verteidigung der UdSSR auf politische Bündnisse mit imperialistischen – demokratischen oder faschistischen, je nachdem – Staaten stützen, denen die Interessen der internationalen Arbeiterklasse geopfert wurden. Die Rolle der Sowjetunion in der Weltpolitik nahm einen direkt konterrevolutionären Charakter an, und diese Verwandlung fand ihren mörderischen Ausdruck im Verrat an der spanischen Revolution, im Massaker an den alten Bolschewiken, in der Jagd auf revolutionäre Gegner des stalinistischen Regimes außerhalb der UdSSR, und schließlich im Stalin-Hitler-Pakt.

Hobsbawm verschließt nicht nur vor alledem die Augen. Seine Aufsätze erwecken auch den Eindruck, als ob er die politischen Auffassungen, die ihn Jahrzehnte lang in der britischen Kommunistischen Partei hielten, niemals kritisch überdacht habe: »Das furchtbare Paradox der Stalinzeit«, erzählt uns Hobsbawm allen Ernstes, »besteht darin, daß der von den sowjetischen Völkern erfahrene Stalin und der außen als Befreier empfundene Stalin derselbe Mann war. Und er war zum Teil deshalb den einen Befreier, weil er den anderen Tyrann war.«29

Aufrichtig wäre es gewesen, wenn Hobsbawm geschrieben hätte: »Der Stalin, den das sowjetische Volk erfuhr, und der Stalin, so wie ihn die britische Kommunistische Partei fälschlicherweise darstellte, waren nicht ganz ein und derselbe.« Statt dessen kompromittiert er sich leider als Historiker, indem er schäbige Rechtfertigungstheorien für den Stalinismus auftischt, und stellt damit das tragische Paradox seines eigenen geistigen Lebens zur Schau.

In unserem Überblick über die wesentlichen Differenzen zwischen dem stalinistischen Regime und der Linken Opposition auf drei Gebieten – dem Parteiregime, der Wirtschaftspolitik und der internationalen Strategie – haben wir versucht nachzuweisen, daß der Sieg des Trotzkismus, d. h. des wirklichen Marxismus, aller Wahrscheinlichkeit nach den Verlauf der sowjetischen Geschichte und der internationalen sozialistischen Bewegung von Grund auf anders gestaltet hätte. Wir rechnen dabei mit der Abfuhr all jener, die die Geschichte der Sowjetunion im Rahmen eines absoluten Determinismus der historischen Niederlage interpretieren. Für diese unverbesserlichen Skeptiker und Pessimisten, die die Sache des Sozialismus von vornherein für aussichtslos halten, spielen Politik, Programm und alle anderen Formen subjektiven Handelns in der Geschichte überhaupt keine Rolle.

Wie wir bereits erklärt haben, kann man unmöglich mit Sicherheit behaupten, daß Trotzkis Sieg das Überleben der UdSSR und den Triumph des Sozialismus garantiert hätte. Aber auch ohne eine solche Behauptung behält unsere Erwägung der historischen Alternativen ihre volle politische und geistige Berechtigung. Es genügt uns, festzustellen, daß es ein wirkliches Potential für einen anderen historischen Entwicklungsweg gab, und daß die Sowjetunion an bestimmten entscheidenden Wendepunkten ihrer Geschichte sozusagen am Scheideweg stand, an dem die Durchführung einer anderen, d. h. ein marxistischen Politik einen weitaus günstigeren Verlauf der Ereignisse ermöglicht hätte.

Hier sehen wir eine weitere Frage voraus, die wir für ernsthaft und angebracht halten: Selbst wenn man zugibt, daß die Positionen Trotzkis und der Linken Opposition vom Standpunkt der Theorie aus eine wirkliche marxistische Alternative zu jenen des stalinistischen Regimes darstellten, vertrat diese Opposition dann auch eine einigermaßen bedeutende politische Kraft innerhalb der Sowjetunion? Wenn das Überdenken von Alternativen keine fruchtlose Spekulation sein soll, dann muß es sich immerhin auf das beschränken, was im Rahmen der objektiven Umstände möglich war.

Um diese wichtige Frage zu beantworten, möchte ich aus dem wertvollen Werk »Die Geburt des Stalinismus« des Historikers Michael Reiman zitieren. »Die Bedeutung der linken Opposition wird in der einschlägigen Literatur nicht selten unterschätzt... Doch halten viele Autoren es für unwahrscheinlich, daß die Opposition irgendeinen nennenswerten Einfluß auf die Masse der Parteimitglieder oder gar auf breitere Bevölkerungskreise ausgeübt habe. Aber für eine solch einschränkende Ansicht lassen sich kaum stichhaltige Argumente anführen. Sie wirkt sogar reichlich paradox angesichts jener Berge von Munition, die von der Führung der KPdSU(B) in diesen Jahren gegen die Opposition verschossen wurden: Hunderte von Erklärungen, Aufsätzen, Büchern, Broschüren – ganz zu schweigen von den politischen Massenkampagnen, die noch in den letzten Winkel der UdSSR vordrangen. Schon im Frühjahr 1926 hatte die Vereinigte Opposition, gestützt auf die Kader der alten und erfahrenen Parteiführer, nicht unbedeutendes Terrain erobert. Sie behielt einen gewissen Einfluß in Leningrad, in der Ukraine, in Transkaukasien, im Ural und in einer Reihe von Betrieben Moskaus und des Zentralen Industriebezirks, in höheren Lehranstalten und einigen zentralen Institutionen, sowie im Kommandokorps von Armee und Marine, das die harte Zeit des Bürgerkriegs unter Trotzkis Führung durchgemacht hatte. Innerhalb der Partei gab es zahlreiche verdeckte oppositionelle Zellen und Komitees, die Verbindung mit den Führern in Moskau unterhielten.«30

Trotzki und die übrigen bedeutendsten Führer der Linken Opposition wurden auf einem Plenum des Zentralkomitees, das im Juli und August 1927 tagte, aus der russischen Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Doch die Opposition ließ sich dadurch nicht zum Schweigen bringen. »Auch nach dem Plenum«, schreibt Reiman, »gingen bei den Parteiorganisationen – besonders in großen städtischen Zentren und in den Hauptstädten – oppositionelle Flugblätter und Literatur in größeren Mengen ein. Starke oppositionelle Aktivität wurde der Reihe nach aus verschiedenen Städten und Gebieten der UdSSR bekannt: aus Leningrad und der Ukraine, aus Transkaukasien, Sibirien, dem Ural und natürlich auch aus Moskau, wo ein großer Teil der oppositionellen Politiker sein Tätigkeitsfeld hatte. Allmählich wuchs die Zahl illegaler und halblegaler Zusammenkünfte, an denen sich in erheblichem Umfang Arbeiter und junge Leute beteiligten. Der Einfluß der Opposition in einigen großen Parteiorganisationen war beträchtlich. Das erschwerte die Arbeit der von Stalin beherrschten Parteiapparate. Auch vor der Armee machte die oppositionelle Tätigkeit nicht halt. Nachrichten vom Anwachsen der Autorität der Opposition kamen aus dem Militärbezirk und der Garnison von Leningrad, aus Kronstadt, aus Verbänden in der Ukraine und in Belorußland. Das Hauptproblem der Führung lag indessen nicht hier, sondern in den allgemeinen Kräfteverhältnissen innerhalb der Partei. Auf seiten der Opposition standen viele bekannte Politiker. Die besonders im Falle Stalins und Bucharins geschwächte Autorität der Führung reichte nicht aus, die Mißerfolge und das Versagen der Parteipolitik vor den Parteimitgliedern als Errungenschaften hinzustellen.«31

Wie konnte die Stalinfraktion der Herausforderung durch die Linke Opposition begegnen? Reiman erklärt: »Die Führung hätte nur dann problemlos Herr der Lage werden können, wenn sie die Möglichkeit gehabt hätte, die Organe der OGPU in den Kampf einzuschalten.«32

Die weitere Geschichte der UdSSR und der internationalen sozialistischen Bewegung zeugt von den blutigen Gewaltmethoden, mit denen die stalinistische Bürokratie ihre Macht und ihre Privilegien festigte, Man kann eine Besprechung der historischen Alternativen einfach nicht abschließen, ohne auf die Auswirkungen und Kosten der stalinistischen Unterdrückung hinzuweisen. Hobsbawm geht, wie wir gesehen haben, leichtfertig über diese Frage hinweg. Bei der Industrialisierung, hatte er uns erklärt, mußte »eine gehörige Portion Zwang ausgeübt werden, selbst wenn die UdSSR von einer weniger brutalen und grausamen Persönlichkeit als Stalin geführt worden wäre.« Über die soziale Grundlage und den politischen Zweck der Gewalttaten, die die Bürokratie organisierte, setzt sich Hobsbawm einfach hinweg. Die stalinistische Gewalt war unterdessen kein revolutionärer Exzeß, sondern konterrevolutionärer Terror.

Wenn Hobsbawm diesem Problem ausweicht, so deshalb, weil eine ehrliche Behandlung der historischen Bedeutung und der Folgen der Säuberungen für die Sowjetunion und für die internationale sozialistische Bewegung beim besten Willen nicht mit seiner historischen Apologetik vereinbart werden kann. Es gab eine Alternative zur stalinistischen Variante der sowjetischen Entwicklung, und der stalinistische Terror war das Mittel, mit dem sie zerstört wurde. Was in den Kellern der Lubjanka und zahllosen weiteren Hinrichtungszellen in der ganzen Sowjetunion vernichtet wurde, waren Hunderttausende revolutionärer Sozialisten, die zum Sieg der Oktoberrevolution beigetragen hatten. Ihr Einfluß auf die Arbeiterklasse und auf die Sowjetunion hatte sich nicht auf die Verbreitung bestimmter politischer Ideen beschränkt, so wichtig diese auch waren. Stalins Opfer waren, in ihrem kollektiven Handeln, die Träger jener bewundernswerten sozialistischen Kultur, die der revolutionären Bewegung der russischen Arbeiterklasse welthistorische Bedeutung verliehen hatte.

In Trotzkis Persönlichkeit fand diese Kultur ihren höchsten Ausdruck. Wie Victor Serge so treffend erklärte: »Damit ein Mann wie Trotzki entstehen konnte, mußten Tausende und Abertausende diesen Typus über eine lange historische Periode hinweg erschaffen. Es war ein breites gesellschaftliches Phänomen, nicht das plötzliche Aufleuchten eines Kometen... Die Herausbildung dieses großartigen sozialen Typus – meines Erachtens das Höchste, dessen der moderne Mensch fähig war – hörte nach 1917 auf, und die meisten seiner überlebenden Vertreter wurden 1936-37 auf Stalins Befehle hin ermordet. Während ich diese Zeilen schreibe, während mir so viele Namen und Gesichter einfallen, wird mir deutlich, daß diese Art Mensch, seine ganze Tradition und Generation, vernichtet werden mußte, bevor das Niveau unserer Zeit hinreichend gesenkt werden konnte. Männer wie Trotzki erinnerten allzu störend an die menschlichen Fähigkeiten der Zukunft, als daß sie in Zeiten der Trägheit und Reaktion am Leben bleiben durften.«33

* * *

Weshalb haben wir die letzten Stunden damit zugebracht, mögliche Alternativen zum historischen Ausgang der Oktoberrevolution zu diskutieren? Gewiß, die Vergangenheit kann man nicht mehr ändern, und wir müssen mit ihren Folgen leben. Aber die Art und Weise, wie wir die Vergangenheit und den Prozeß, durch den sich ihre Folgen ergaben, auffassen und begreifen, bildet die wesentliche Grundlage für unser Verständnis der gegenwärtigen historischen Lage und des darin verborgenen Potentials. Unsere Einschätzung der Möglichkeiten für den Sozialismus in der Zukunft hängt unauflöslich damit zusammen, wie wir die Ursachen für seine Niederlagen im Verlaufe dieses Jahrhunderts bewerten.

Welche Lehren ziehen wir aus dem zwanzigsten Jahrhundert? Wenn alles, was seit Ausbruch des Ersten Weltkriegs passiert ist, lediglich der Ausdruck unkontrollierbarer und unbegreifbarer Kräfte war, dann können wir wenig mehr tun, als – je nach Vorliebe und Verzweiflungsgrad – hoffen oder beten, daß wir in Zukunft mehr Glück haben.

Wer die Lehren dieses Jahrhunderts studiert und sich angeeignet hat, sieht die heutige historische Situation und die Aussichten für die Zukunft allerdings in einem ganz anderen Licht. Die Ereignisse dieses Jahrhunderts gewinnen dann einen breiten historischen Zusammenhang und eine ebensolche Bedeutung. Keine andere Periode der Geschichte war so reich an revolutionären und konterrevolutionären Erfahrungen. Der Zusammenstoß gegensätzlicher gesellschaftlicher Kräfte nahm in diesem Jahrhundert eine beispiellose Intensität an. Die Arbeiterklasse und ihre fortgeschrittenen Elemente erwiesen sich, nachdem sie 1917 den ersten großen revolutionären Durchbruch erzielt hatten, in den Folgejahren der furchtbaren Kraft der Konterrevolution nicht gewachsen. Durch die Arbeit Trotzkis, der Linken Opposition und der Vierten Internationale jedoch wurden der Charakter der Konterrevolution und die Ursachen für die Niederlagen analysiert und verstanden. Und auf diesen theoretischen und politischen Grundlagen bereitet sich die Vierte Internationale bewußt und ohne Reue mit revolutionärem Optimismus auf die Zukunft vor.

Anmerkungen

1 Franz Mehring, Gesammelte Schriften, Berlin 1975, Bd. 14, S. 319 - zurück

2 Stefan Zweig, »Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers«, Frankfurt / Main 1970, S. 15 - zurück

3 Eric Hobsbawm, »On History«, S. 243 - zurück

4 ebd. S. 245 - zurück

5 ebd. S. 246 - zurück

6 ebd. S. 245 - zurück

7 ebd. S. 247 - zurück

8 ebd. S. 247f (Hervorhebung durch DN) - zurück

9 ebd. S. 243 - zurück

10 ebd. S. 249 - zurück

11 ebd. S. 249 - zurück

12 ebd. S. 247 - zurück

13 ebd. S. 249 - zurück

14 ebd. S. 48 - zurück

15 Leo Trotzki, »Der neue Kurs«, Berlin 1972, S. 21 - zurück

16 ebd. S. 47 - zurück

17 ebd. S. 48 - zurück

18 ebd. S. 32ff - zurück

19 ebd. S. 41 - zurück

20 »Plattform der Vereinigten Opposition«, in: Die Linke Opposition in der Sowjetunion, Berlin 1977, Band 5, S. 380 - zurück

21 Leo Trotzki, Schriften, Hamburg 1988, Bd. 1.1., S. 155ff - zurück

22 ebd. S. 158 - zurück

23 Eric Hobsbawm, »On History«, S. 251 - zurück

24 Leo Trotzki, Schriften über Deutschland, Frankfurt / Main 1971, Bd. 1, S. 82 - zurück

25 ebd. S. 96 - zurück

26 ebd. S. 156 - zurück

27 ebd. S. 182 - zurück

28 ebd. S. 315 - zurück

29 Eric Hobsbawm, »On History«, S. 252 - zurück

30 Michael Reiman, »Die Geburt des Stalinismus. Die UdSSR am Vorabend der ›zweiten Revolution‹«. Frankfurt/Main 1979, S. 42f - zurück

31 ebd. S. 56f - zurück

32 ebd. S. 57 - zurück

33 »The Serge-Trotsky Papers«, London 1994, S. 208f - zurück

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