Eine Nation im Krieg - mit sich selbst

Bei einer Schießerei in Colorado, USA wurden 15 Schüler getötet

Starr vor Schrecken steht Amerika vor der Ermordung von mindestens 15 Gymnasiasten und Lehrern der Columbine High School in Littleton, Colorado. Zehn verletzte Jugendliche, die blutüberströmt auf Bahren weggetragen werden; junge Mädchen, außer sich vor Entsetzen, die schildern, wie die Mitschüler an ihrer Seite in der Schulbibliothek der Reihe nach erschossen wurden - all das ruft Schrecken, Trauer, ja Wut hervor.

Entsetzliches ist geschehen, aber nicht zum erstenmal. Seit 1997 hat eine ganze Mordserie die Schulen erschüttert, man erinnere sich an Pearl (Mississippi), West Paducah (Kentucky), Jonesboro (Arkansas) und Springfield (Oregon). Die Schießerei von Littleton paßt genau ins Schema: Eine scheinbar glückliche Kleinstadt - stereotyp als "irgendwo in Amerika" beschrieben - die aus heiterem Himmel von mörderischer Gewalt zerrissen wird. Die Täter sind "Geächtete" oder "Einzelgänger". Schulleiter und Lokalpolitiker sind schockiert, sie versprechen, sich um die verstörten Schüler zu kümmern und mehr Sicherheit zu gewährleisten. Der Präsident tritt vor die Kameras, um die Opfer zu beklagen. Es wird eine Kommission einberufen. Nach ein bis zwei Wochen verschwindet das Thema "Gewalt an der Schule" wieder aus den Schlagzeilen... bis zur nächsten mörderischen Orgie.

Welcher Mensch mit intakten Sinnen und Verstand kann länger bestreiten, daß diese schrecklichen Fälle Ausdruck einer gesellschaftlichen Tendenz sind? Was geht in diesem Land vor?

Noch ehe die Toten identifiziert und beerdigt sind, setzt die ideologische Vernebelung ein. Die Kommentatoren kennen ihren Text. Sie stützen sich immer auf die gleiche selbstgerechte Prämisse: Die Wirtschaft läuft, die Bevölkerung ist zufrieden; nur ein paar unerklärliche Einzelfälle fallen aus dem Rahmen. Man murmelt etwas über individuelle Verantwortung und das Zerbrechen der Familie.

In seiner unnachahmlich scheinheiligen Art gab Clinton den Ton an: "Vielleicht werden wir niemals ganz verstehen, was geschah", predigte er, um gleich darauf die übliche biblische Autorität zu bemühen, damit bloß kein kritische Gedanke aufkomme. "Der heilige Paul", fuhr er fort, "erinnert uns daran, daß es Dinge in diesem Leben gibt, die wir alle nur undeutlich durch ein dunkles Glas sehen, und daß wir nicht alles verstehen können, was vorgeht."

Dies ist selbstgerechter Unsinn. Wenn man ein Ereignis verstehen will, muß man zuerst vorbehaltlos untersuchen, in welchem Zusammenhang es stattfindet.

Jeder Hinweis darauf, daß ein Zusammenhang bestehe zwischen dem Blutbad in Colodaro und der Gewalt, die Amerika zur Zeit weltweit entfesselt, löst Entrüstung aus. Und doch geben in der heutigen Zeit der hoch technisierten Kriege und präzisionsgesteuerten Waffen die Kriege des Pentagon den US-Soldaten die Möglichkeit, Tausende aus der Distanz zu killen, ohne einen einzigen amerikanischen Soldaten preiszugeben. Die Medien präsentieren den Krieg als Unterhaltung ohne reale Folgen - jedenfalls für die Amerikaner. Dem tieferen Zusammenhang zwischen den Kriegen der Vereinigten Staaten gegen mehr oder weniger wehrlose "Feinde" und den inneren Widersprüchen der eigenen Gesellschaft wird keinerlei Beachtung geschenkt. Ebenso wenig werden die negativen Folgen für eine Gesellschaft reflektiert, die Zerstörung und Tod über die Völker anderer Länder bringt.

Ohne Begründung wirft das amerikanische Militär Bomben und Raketen auf Jugoslawien, zerstört Städte und Dörfer und legt die Infrastruktur in Schutt und Asche. Auch Irak, der Sudan und Afghanistan wurden in den letzten Monaten angegriffen. Amerikanische Soldaten fallen in ein Land ein und schießen alles nieder. Die Medien versuchen der Öffentlichkeit zu suggerieren, sie habe Grund, sich im Ruhm der amerikanischen Militärmacht zu sonnen. Was soll man unter solchen Umständen von Clintons Predigt von Littleton halten, daß "wir uns unseren Kindern zuwenden und sie lehren müssen, nicht mit Gewalt, sondern mit Worten ihren Zorn zu äußern und ihre Konflikte zu lösen."

Der Krieg auf dem Balkan ist nicht einfach das Produkt ökonomischer und geopolitischer Bestrebungen. Er hat auch ideologische Wurzeln. Dies ist eine Gesellschaft ohne moralischen Kompaß, für die nur die Börse, der Spitzensport und Lotteriegewinne zählen. Die elementare menschliche Solidarität ist zerrüttet. Die übelsten Elemente sind obenauf. Die inneren gesellschaftlichen Widersprüche, lange verdeckt und ignoriert, eitern und beginnen zu faulen. Gewalt explodiert und implodiert in scheinbar irrationalen Formen.

Amerikas Herrscher behaupten - und sie glauben es vielleicht sogar selbst - sie könnten einen sauberen, "chirurgischen" Krieg führen und die amerikanische Gesellschaft raushalten. Sich selbst konnten sie vielleicht von der Realität ihrer Scheinwelt überzeugen. Aber jede Ursache hat ihre Wirkung, und dreckige Ursachen haben dreckige Wirkungen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen den Bomben auf Belgrad und den Kugeln, die die wehrlosen Kinder von Littleton niederstreckten.

In den letzten zwanzig Jahren haben Politiker und Medien Militarismus, Chauvinismus und allen Arten von gesellschaftlicher Rückständigkeit Vorschub geleistet und so den Nährboden für gesellschafts-unfähige und faschistische Elemente kultiviert. Sie haben die Timothy McVeigh's und Eric Rudolph's gezüchtet. Die toten Verursacher der Schießerei von Littleton, die zuletzt ihre Waffen gegen sich selbst richteten, gehörten laut Bericht zu einer Gruppe von leuten, die Schwarze und hispanische Studenten verabscheuten und schwarze Hakenkreuze auf ihre Körper malten. Der 20. April war Adolf Hitlers Geburtstag. Zudem ist Colorado eines der Zentren der ultra-rechten, christlichen Fundamentalisten.

Die Ereignisse von Littleton sind eine weitere, ernste Warnung. Die mörderischen Ausbrüche von Haß und Verzweiflung, die Massaker an amerikanischen Schulen hervorbringen, müssen verstanden und als das benannt werden, was sie sind - das Produkt irrationaler gesellschaftlicher Beziehungen und einer reaktionären Politik, die die Menschen abstumpft, entwürdigt und sie zu Unmenschen macht.

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