Internationale Redaktionskonferenz der WSWS

Künstlerische und kulturelle Probleme in der gegenwärtigen Situation

Dies ist ein Bericht zu künstlerischen und kulturellen Problemen, den David Walsh im Rahmen einer erweiterten Redaktionskonferenz der World Socialist Web Site in Sydney vom 22. bis 27. Januar 2006 hielt. Walsh ist Mitglied der WSWS-Redaktion und ihr verantwortlicher Kulturredakteur.

Ganz im Allgemeinen ist die gegenwärtige Lage der Kunst von zwei Tendenzen beherrscht. Zum einen entwickeln sich in gewaltigem Maßstab die objektiven Bedingungen für eine weltumspannende Kultur künstlerischen Schaffens mit dem Potential, Massen von Menschen aufzuklären, zu vergnügen und innerlich zu berühren, und damit das Leben der Menschen in nahezu unvorstellbarer Weise zu bereichern und letzten Endes zu verändern. Zum anderen wirkt der bestehende Zustand gesellschaftlichen Zerfalls in die gegensätzliche Richtung, indem er die Menschheit mit der Aussicht auf Krieg und Diktatur bedroht, das bestehende Kulturleben gefährdet und das Aufkommen neuer Formen und Ideen unterdrückt.

Der Angriff auf die Kunst, den komplexesten Teil der Kultur, vollzieht sich in Form immer schamloserer Attacken auf die künstlerische Freiheit und Zensurbestrebungen in vielen Teilen der Welt (den USA, China, Großbritannien, der Türkei, dem Iran, in Saudi-Arabien, Sri Lanka, Indien und anderswo). Unter anderem werden die reaktionärsten Kräfte ermuntert, sowohl faschistische als auch religiös-fundamentalistische - in all ihren christlichen, hinduistischen oder muslimischen Spielarten. Dazu kommt die fortschreitende Kommerzialisierung und Trivialisierung der Kunst und die Korrumpierung ganzer Schichten der Intelligenz, sowohl ihrer offen rechten als auch gewisser nominell "linker" Elemente.

Von einem wie auch immer gearteten empirischen Überblick über die globale Kunst und Kultur kann hier nicht die Rede sein. Ein solches Unterfangen würde etliche wissenschaftliche und historische Probleme mit sich bringen; doch wir können vielleicht mit einigen wenigen statistischen Hinweisen dazu beitragen, die Dimensionen der gegenwärtigen Lage des weltweiten Kulturschaffens in ein klareres Licht zu rücken.

In Bezug auf Kultur und Bildung hat der Kapitalismus ebenso versagt, wie er es nicht vermag, der Weltbevölkerung ein anständiges Leben zu bieten. Nichtsdestotrotz hat die schiere Macht des Bevölkerungswachstums und der weltweiten Wirtschaftsexpansion zu einem sprunghaften Anstieg in der Zahl lesekundiger Erwachsener geführt. Ihre Anzahl hat sich von 1970 bis 1998 mehr als verdoppelt, von 1,5 Milliarden auf 3,3 Milliarden.

Schon die Anzahl der Bücher alleine ist überwältigend. Weltweit werden jedes Jahr etwa eine Million Titel veröffentlicht. Laut einer Schätzung umfasst der bestehende Bücherstock an die 65 Millionen Titel. Der Online-Buchhandel Amazon wirbt damit, vier Millionen Titel vorrätig zu halten. Im Jahr 2000 kam man weltweit auf 158.000 einzelne Zeitschriftentitel und auf über 600.000 Veröffentlichungen im Bereich der Fortsetzungsliteratur.

In den USA wurden 1999 über 1,1 Milliarden Bücher verkauft. Die jährliche Gesamtauflage amerikanischer Magazine übersteigt 500 Millionen Exemplare.

Die Herstellung und Nutzung von Büchern und Periodika sind von gewaltigen Ungleichheiten gekennzeichnet. Die USA produzieren etwa 40 Prozent allen bedruckten Materials auf der Welt, während ganze Kontinente nach Information und Kultur hungern.

Dies wirft die folgende Frage auf: Hat der Kapitalismus eine harmonische Weltkultur geschaffen oder ist er dazu in der Lage?

Der Handel von Kulturgütern ist in den letzten beiden Jahrzehnten exponentiell gewachsen. Zwischen 1980 und 1998 stieg das Volumen des Welthandels bei Drucksachen, Literatur, Musik, bildender Kunst, Kino, Fotografie, Radio, Fernsehen, Spielen und Sportartikeln von 95,3 Milliarden auf beinahe 400 Milliarden Dollar. Jedoch produzierten im Jahr 2002 drei Staaten - Großbritannien, die USA und China - ganze 40 Prozent der weltweit gehandelten Kulturgüter, wohingegen Lateinamerika, die Karibik, Ozeanien und Afrika zusammen (bei einer Bevölkerung von mehr als anderthalb Milliarden) weniger als vier Prozent beitrugen, so ein Bericht des statistischen Instituts der UNESCO.

Zahlen aus dem Jahr 2001 kann man entnehmen, dass fünf Länder - Indien, China einschließlich Hongkong, die Philippinen, die USA und Japan - jeweils über 200 Spielfilme produzierten. Indien bringt jährlich 700 Filme und mehr auf den Markt; die philippinische Filmindustrie ist seitdem zusammengebrochen - sie ist von 240 produzierten Spielfilmen auf 40 zurückgefallen. Die USA produzieren mehr als 400 Filme im Jahr; die Japaner produzierten während der 1990er jährlich etwa 240 Filme. Auf China werden wir später eingehen.

Im Jahr 2001 produzierten 25 Staaten, hauptsächlich in Europa und Asien, zwischen 20 und 199 Filmen. 72 Staaten produzierten zwischen einem und 19 Filmen, und 88 der insgesamt 190 Staaten auf der Welt besaßen keinerlei Filmindustrie.

Mit anderen Worten: 160 von 190 Staaten produzierten 2001 weniger als 20 Filme. Das gesamte subsaharische Afrika bringt im Durchschnitt lediglich 42 Filme jährlich hervor. Vietnam verfügt bei 83 Millionen Einwohnern über nicht mehr als 60 Kinosäle. Brasilien hat bei 170 Millionen Einwohnern nur 2000 Kinosäle. Die USA haben 36.700.

Die Hollywood-Studios besitzen weltweit 85 Prozent der Kinos, mit Spitzenwerten von über 90 Prozent in einigen europäischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Staaten. Die Umsätze von Hollywood fielen im Jahr 2005 um 6 Prozent oder 500 Millionen Dollar. Auch in Westeuropa fielen die Kartenumsätze. Dies ist teilweise die Folge von höheren Eintrittspreisen, der allgemeinen Wirtschaftslage, dem DVD-Markt, dem Kabelfernsehen - aber es ist auch der allgemeinen Minderwertigkeit der Filme zuzuschreiben. Die Zuschauer reagieren auf die miserable Qualität so vieler Filme.

Unterhaltung ist ein Industriesektor, in dem die USA einen massiven Überschuss erwirtschaften. Europäische Filme beherrschen nur ein Prozent des US-Marktes. China (das lediglich 20 ausländische Filme pro Jahr zulässt), Russland, die Türkei, Indien, Frankreich und Südkorea sind einige der Länder, in denen einheimische oder zumindest nichtamerikanische Filme einen signifikanten Marktanteil haben.

Die chinesische Filmindustrie ist mittlerweile vom Umsatz her die drittgrößte der Welt nach Hollywood und Indien. Im Jahr 2005 produzierte China 260 Filme, 20 Prozent mehr als im Vorjahr (1997 wurden 76 Filme gedreht). Die Kartenumsätze in China betrugen 248 Millionen Dollar, 30 Prozent mehr als im Vorjahr, und weitere 204 Millionen Dollar wurden in Überseemärkten erwirtschaftet. Der Anstieg um 30 Prozent im Jahr 2005 war beachtlich, doch verblasst er im Vergleich zu dem Anstieg um 58 Prozent im vorhergehenden Jahreszeitraum. China leidet immer noch unter einer relativ geringen Zahl von Filmtheatern und darüber hinaus unter weit verbreiteter Armut. Im Jahr 2004 betrugen die Kartenumsätze in China lediglich ein Viertel der Umsätze von Südkorea.

Die Unterhaltungsindustrie hat in den 1990er Jahren einen erstaunlichen Konzentrationsprozess durchlaufen. 1993 betrug der Jahresumsatz der fünfzig größten Audiovisionsunternehmen 118 Milliarden Dollar. Vier Jahre später wurde die gleiche Summe von nur sieben großen Medienkonglomeraten erwirtschaftet.

1993 hatten 36 Prozent der Unternehmen ihren Stammsitz in den USA, 36 Prozent in der EU und 26 Prozent in Japan. 1997 hatten mehr als 50 Prozent aller Unternehmen ihren Stammsitz in den USA. Was große Teile der Welt sehen und hören dürfen, wird maßgeblich von Vertretern der sieben Medienkonglomerate bestimmt.

Wir sind mit einer radikal veränderten Situation im Bereich der Kultur konfrontiert: Es gibt mittlerweile zehntausende von Onlinepublikationen und ein enormes Wachstum der computerbasierten und digitalen Technologien, die künstlerische Medien hervorbringen, welche ein paar Jahrzehnte zuvor nicht einmal denkbar waren. Selbst wenn man nur die "traditionellen" Kunstformen betrachtet - Dichtung, Poesie, Malerei, Musik, Kino (das zumindest für das 20. Jahrhundert als "traditionell" gelten kann), Architektur, Tanz - so hat eine weltweite Explosion stattgefunden.

Die Möglichkeit einer alternativen Perspektive zu der unseren wurde bei unserem Treffen diese Woche erörtert - die Möglichkeit, dass wir uns in den Geburtswehen eines erneut stabilisierten kapitalistischen Weltsystems befinden, in dem die grundlegenden Widersprüche des gesellschaftlichen Lebens überwunden sind und sich letztlich die Aussicht auf wirtschaftliche Prosperität eröffnet, auf die Befreiung der Weltbevölkerung von Entbehrungen und abstumpfender Plackerei. Wenn dies wirklich der Fall wäre, dann müsste eine derart bemerkenswerte, befreiende Entwicklung mit den freimütigsten und aufrichtigsten Einschätzungen zur Lage der Menschheit einhergehen. Wenn wir an der Schwelle zu einer neuen Epoche ständen, so würden Vorahnungen davon in der Kunst sichtbar.

Genauer noch, wenn diese Gesellschaft die echte Möglichkeit bereithielte, die Lebensbedingungen von Massen von Menschen zu verbessern, dann würde ihr offizielles Kunstschaffen sich den selbstkritischsten Anstrengungen hingeben. Die Kunst würde das Bestehende einer gründlichen Überprüfung unterziehen, sie würde die verbliebenen Übel aufdecken und ihre Beseitigung mit künstlerischen Mitteln vorwegnehmen. Eine außerordentliche Freimütigkeit und Offenheit würden vorherrschen, und die Lage der Menschheit würde in weitest möglichen Kreisen und auf demokratischste Weise diskutiert.

Entspricht dies der gegenwärtigen Lage? Mit Sicherheit nicht. Was erleben wir tagtäglich? Die Verschleierung der Lebensbedingungen, den Ausschluss großer Massen von Menschen und ihres Lebens von künstlerischer Betrachtung und nur allzu häufig die fantasierte, triviale Behandlung des Lebens 'schöner' Menschen ohne finanzielle Probleme - Menschen, die es gar nicht gibt - sowie die systematische Herabsetzung der populären Kultur, das bewusste Bestreben, die Menschheit abzustumpfen und gegen Leiden und gesellschaftliche Missstände gleichgültig zu machen.

Wir können es wahrlich eine Schande und einen schmachvollen Zustand nennen, dass das Leben von hunderten Millionen Afrikanern in lediglich 42 Filmen Ausdruck findet (und diese stammen keineswegs gleichmäßig vom ganzen Kontinent). Doch werden die hunderte Filme, die in Indien produziert werden, die meisten davon alberne Musicals, den Lebensumständen der indischen Bevölkerung gerecht? Oder erhellen die hunderte von Hollywoodfilmen, die jedes Jahr herauskommen, im Großen und Ganzen die Lebensumstände des amerikanischen Volkes?

Der erste zentralafrikanische Spielfilm erschien erst 1966, ganze 70 Jahre nach dem Auftauchen der Kinematographie ("La Noire de..." von Ousmane Sembène). Wir haben ihn kürzlich besprochen. Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich berichten, dass im Tschad, einem großflächigen afrikanischen Staat mit 10 Millionen Einwohnern, bis 1999 kein einziger Film produziert wurde. Ich habe das während eines Interviews mit dem Regisseur in Toronto im Jahr 2000 erfahren. In einem Kontinent, in dem die Analphabetenrate außerordentlich hoch ist, stellt das Kino eines der zentralen Mittel dar, durch das die Menschen etwas über ihr Leben und die Welt erfahren könnten.

Vor einigen Jahren schrieb ein Kommentator: "Die Hoffnungen und Erwartungen auf politische und wirtschaftliche Erneuerung und Transformation unter der Ägide der Weltbank und ihrer Strukturanpassungsprogramme und anderen Liberalisierungsmaßnahmen, sowie die erwarteten positiven Nebeneffekte dieser Maßnahmen, besonders auf dem kulturellen Sektor, sind in Wirklichkeit in eine Katastrophe gemündet. Afrikanische Filmemacher bekamen bald die schmerzlichen Folgen von Etatkürzungen und dem allmählichen Verlust sowohl externer als auch interner Produktionsfördermittel zu spüren. Parallel dazu kam es zum allmählichen, aber orchestrierten Verschwinden von Filmtheatern, einem der traurigen Ereignisse der 1990er, als die Privatisierung den Erwerb der Kinos durch lokale Unternehmer ermöglichte, die die Kinosäle nach und nach in Warenhäuser für Zucker, Reis, Zement und andere Waren umwandelten."

Wenn die Statistiker der Filmproduktion die "Welt" untersuchen, lassen sie im allgemeinen Afrika außen vor. Die Bevölkerung von Afrika und dem Nahen Osten zusammengenommen trug 1998 zu den "gesamten weltweiten Kinoerlösen" ganze 1,2 Prozent bei.

Zwischen denen, die die kulturellen Produktionsmittel kontrollieren, und breiten Schichten der Weltbevölkerung besteht eine enorme soziale Kluft. Darüber hinaus macht gerade die Tiefe der Krise und die Brisanz der gegenwärtigen Lage für die Menschheit diese Frage zu explosiv, als dass sie von der offiziellen Kultur ernsthaft behandelt werden könnte.

Trotzki schreibt: "Der Niedergang der bürgerlichen Gesellschaft bedeutet eine unerträgliche Verschärfung der gesellschaftlichen Widersprüche. Sie verwandeln sich zwangsläufig in individuelle Widersprüche und machen dadurch die Forderung nach einer befreienden Kunst noch brennender." Meiner Ansicht nach ist dies eine treffende Beschreibung der gegenwärtigen Weltlage.

Sich verschärfende gesellschaftliche Widersprüche verwandeln sich in individuelle Widersprüche und bewirken ein immer größeres Bedürfnis nach befreiender Kunst. Auf dieses wachsende Bedürfnis reagiert die offizielle Kultur zum derzeitigen Zeitpunkt mit immer mehr Unaufrichtigkeit und Unempfänglichkeit.

Wir könnten nach Russland und Osteuropa blicken, wo die Gesellschaft eine Art von Geburtswehen erlebt hat, doch handelt es sich bei diesem neuen sozialen Organismus um einen Fortschritt oder um einen fürchterlichen Rückschritt? Der Vorstellung, dass der Kapitalismus einen Weg nach vorne weist, kann man ganz einfach dadurch begegnen, indem man sich die düsteren und demoralisierenden kulturellen und künstlerischen Zustände in den meisten dieser Staaten ansieht. Das russische Kino produziert größtenteils hysterische, pessimistische, menschenverachtende Werke oder aber Kommerzfilme, die das Schlimmste imitieren, was Hollywood an Vulgarität und Brutalität zu bieten hat.

Das Theater war einst das Juwel des polnischen Kulturlebens und in den 1960ern und 1970ern ein Ort des Experimentierens, der unter anderem Grotowskis legendäres "armes Theater" hervorbrachte. Ein Kritiker schrieb kürzlich, dass Warschau "dieser Tage weniger 'für ein armes Theater' steht als für ein gefälliges, internationales, etwas verarmtes Theater, das sich in nichts von dem irgendeiner Provinzhauptstadt unterscheidet".

Solche oder noch ärgere Zustände dominieren in Osteuropa, wo die Kulturetats zusammengestrichen und die Marktprinzipien wiederhergestellt wurden. Insofern sich das Kulturleben erholt, wird es eine feindselige Haltung gegenüber der mafiaartigen kapitalistischen Elite einnehmen müssen.

Wenn der Kapitalismus in seiner Blüte stände und unbegrenzte Potentiale bereithielte, wie wäre es dann möglich, dass seine Kultur so abgrundtief daran gescheitert ist, die gegenwärtige Lage der Menschheit künstlerisch zu erfassen? Und wie erklärte man dann, dass in dem Maße, in dem diese Wirklichkeit erfasst wird (und man kann einen Stimmungswechsel in diese Richtung beobachten), dies von einem oppositionellen, zunehmend antikapitalistischen Standpunkt aus geschieht?

Erich Auerbach beschreibt in seinem Buch Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur die Grundlagen des modernen Realismus im frühen 19. Jahrhundert wie folgt: "Die ernsthafte Behandlung der alltäglichen Wirklichkeit, das Aufsteigen breiterer und sozial tieferstehender Menschengruppen zu Gegenständen problematisch-existentieller Darstellung einerseits - die Einbettung der beliebig alltäglichen Personen und Ereignisse in den Gesamtverlauf der zeitgenössischen Geschichte, der geschichtlich bewegte Hintergrund andererseits".

Was begegnet uns heutzutage? Geradezu das exakte Gegenteil einer solchen Herangehensweise.

Wir sind berechtigt zu fragen: In welcher moralischen Verfassung befindet sich sozusagen die globale Kultur? Hier werden Statistiken nicht genügen.

Trotzki machte richtigerweise darauf aufmerksam, dass jede eindringliche Betrachtung des Lebens unweigerlich ein Element des Protests enthält. Wie könnte es anders sein bei den Zuständen, in denen die große Mehrheit lebt? Die traumatischen politischen Erfahrungen in der Mitte und am Ende des 20. Jahrhunderts hatten, so könnte man sagen, mehrere miteinander verbundene vorläufige (doch anhaltende) Konsequenzen: Sie beschädigten das Vertrauen des Künstlers in eine Alternative zum Kapitalismus, sie hielten ihn oder sie von einer eindringlichen Betrachtung des Lebens ab und sie machten derartige Versuche, wo sie geschahen, wesentlich langatmiger und verworrener und schmälerten ihre Verbindung mit der historischen und politischen Perspektive des Sozialismus.

Die fortgeschrittene Kunst im späten 19. Jahrhunderts und den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts konnte sich recht sicher darauf verlassen, dass eine breit angelegte Opposition gegen die bestehende Ordnung existierte. Sie konnte daraus moralischen Rückhalt und Mut in Bezug auf die Möglichkeit einer radikalen Änderung der sozialen Beziehungen schöpfen. Es wäre völlig abwegig, wenn man den außerordentlichen Reichtum der kreativen Anstrengungen dieser Jahrzehnte losgelöst von der Beziehung zwischen Kultur und revolutionärem politischen Denken und Handeln erklären wollte.

Wirtschaftliche Faktoren sind zu den gegenwärtigen ideologischen Problemen hinzugekommen. Eine beachtliche Schicht der Intelligenz hat sich materiell bereichert, was angesichts der vorherrschenden politischen und moralischen Konfusion umso bereitwilliger akzeptiert wurde. In dieser Hinsicht ähneln die Zustände vielleicht denen, die von Plechanow in der Periode vor 1914 beschrieben wurden: Viele russische Intellektuelle vollzogen nach 1905 eine Bewegung nach rechts, hin zu politischer Gleichgültigkeit.

Zu zahlreichen Anlässen haben wir darauf hingewiesen, welchen Werdegang Teile der 1968er-Generation genommen haben. Eine neue Gruppe von Parteigängern Bushs in den USA hat sich unangenehm bemerkbar gemacht - Leute wie Christopher Hitchens, Paul Berman, Todd Gitlin (der frühere SDS-Führer, der nach dem 11. September erklärte, dass "gelebter Patriotismus Opferbereitschaft verlangt") und verschiedene andere ehemalige Teilnehmer der Socialist Scholars Conferences. Das Aufgeben früherer Prinzipien, der Verrat an der eigenen Vergangenheit, der Verzicht auf die eigene Integrität bleibt nach wie vor ein florierendes Geschäft. Opportunismus und Feigheit gesellen sich in diesem Prozess zu Desorientiertheit und historisch-politischer Ignoranz.

Es handelt sich um ein weltweites Phänomen. In Anlehnung an Harold Pinters Nobelpreisrede beklagte kürzlich eine ägyptische Journalistin "einen kulturellen Apparat, der die [Kultur] nur als Ornament für das Establishment behandelt". Sie bezog sich auf ein Buch mit dem Titel "Intellektuelle im Angebot", das offenbar in Ägypten Furore gemacht hat. Der Autor war in den vergangenen 18 Jahren ein enger Berater des ägyptischen Kultusministers, bis er in Ungnade fiel.

Die Journalistin bemerkte, dass die "Geschichten über Korruption und, vielleicht noch wichtiger, die Geschichten über die vom Kulturministerium verwendeten Mechanismen zur Heranziehung und Gewinnung von Intellektuellen immer noch haarsträubend sind." Sie sprach von der "Zerstörung der Kultur, die in den letzten drei Jahrzehnten in Ägypten stattgefunden hat und ohne käufliche Intellektuelle nicht möglich gewesen wäre".

Überall hat sich ein bestimmter Teil der Intellektuellen zum Kauf angeboten.

Skeptizismus und Demoralisierung haben sowohl ein rechtes als auch ein "linkes" Gesicht. Zwei Figuren, mit denen wir uns wesentlich ernsthafter auseinandersetzen müssen - hier ist nicht der Platz für diese Auseinandersetzung, sondern nur für eine kurze Betrachtung - sind Terry Eagleton, der britische Kritiker, und Fredric Jameson, der amerikanische Akademiker, die beide ständig als "führende marxistische Kritiker" bezeichnet werden. Dies gelten als in der englischsprachigen Welt und vielleicht auch darüber hinaus als die führenden 'marxistischen' Kritiker. Beide sind mit revisionistischer Politik verbunden.

Eagleton wurde, nachdem er Mitte der 1970er die staatskapitalistische International Socialists Gruppe verlassen hatte, während seines Aufenthalts in Oxford Mitglied von Alan Thornetts Workers Socialist League - was keine unbedeutende Tatsache ist. Jameson stellt seine Analyse der postmodernen Kultur explizit in Zusammenhang mit Ernest Mandels Theorie des "Spätkapitalismus".

Eines von Eagletons jüngeren Werken heißt After Theory ("Nach der Theorie"), wobei der Autor mit "Theorie" das "goldene Zeitalter der Kulturtheorie" meint, das durch die Werke von Jacques Lacan, Claude Lévi-Strauss, Louis Althusser und Michel Foucault, sowie Raymond Williams, Pierre Bourdieu, Julia Kristeva, Jacques Derrida, Jürgen Habermas, Fredric Jameson und Edward Said geprägt wurde. Ohne diese Gruppe von Denkern pauschal abqualifizieren zu wollen, handelt es sich doch im Großen und Ganzen um einen Block von Antimarxisten. Sie waren zwar nicht ohne Einsichten, stellten jedoch ein Block von bewussten Antimarxisten dar - die Besten ihrer Art, die das späte 20 Jahrhundert gegen den dialektischen und historischen Materialismus aufzubieten hatte.

Eagleton erklärt zu Anfang seines Buches, dass das "goldene Zeitalter" der Kulturwissenschaften vorüber ist. Er fährt fort: "Es kann keine Rückkehr zu einer Zeit geben, in der es genügte, Keats für ergötzlich und Milton für einen tapferen Geist zu halten. Nicht, dass das ganze Projekt [der Kritischen Theorie] ein schrecklicher Fehler gewesen wäre, der nun von einer mitleidsvollen Seele bloßgestellt worden ist. [...] Wenn Theorie eine einigermaßen systematische Widerspiegelung der uns leitenden Annahmen ist, so bleibt sie unverzichtbar wie je."

Dass Eagleton die Idee vertritt, "Theorie" sei eine Widerspiegelung der "uns leitenden Annahmen" und nicht die Untersuchung und Kenntnis der äußeren Welt und ihrer Bewegungsgesetze, spricht Bände. (Und bringt tatsächlich Bände hervor, wie man sehen kann, wenn man eine beliebige Buchhandlung in einer größeren Metropole oder in der Nähe einer bedeutenden Universität besucht.)

Auch wenn seine Beschreibung der präpostmodernen Kulturkritik eine Karikatur ist - die ernsthafte bürgerliche Kulturkritik des 20. Jahrhunderts hat viel mehr vollbracht, als Keats für "ergötzlich" zu halten - müssen wir uns vor Augen führen, dass wir es mit einem selbsternannten Marxisten zu tun haben. Nimmt man ihn beim Wort, so scheint er zu argumentieren, dass vor Althusser und Lévi-Strauss und Derrida und Habermas keine ernstliche kritische Kulturtheorie existiert hat, sondern nur bürgerlicher Akademismus. Was ist mit der marxistischen Tradition? Dieses umfangreiche Werk verdient es nicht einmal, in diesem Zusammenhang angesprochen zu werden, so komplett identifiziert sich Eagleton mit den Strömungen, die er lose als strukturalistisch, poststrukturalistisch oder postmodern bezeichnet. Eagleton präsentiert sich selber als Kritiker dieser Tendenzen, doch seine Waffen sind stumpf.

Eagletons Buch hat in anderer Hinsicht einen gewissen Wert. Er vermittelt einen Einblick in die gegenwärtige Lage der "Kulturtheorie", und hier stammt sein Wissen trotz des selbstgefälligen Tons zweifelsohne aus erster Hand. "Strukturalismus, Marxismus, Poststrukturalismus und ähnliches sind nicht länger die attraktiven Themen, die sie waren. Was stattdessen anzieht, ist Sex. An den wilderen Gestaden des akademischen Lebens ist das Interesse an der französischen Philosophie der Faszination am französischen Kuss gewichen. In manchen kulturellen Zirkeln übt die Politik der Masturbation eine deutlich größere Faszination aus als die Politik des Nahen Ostens. Der Sozialismus hat das Feld an den Sadomasochismus verloren. Unter Studenten der Kulturwissenschaften ist der Körper ein ungeheuer modisches Thema, doch ist es der erotische Körper, nicht der ausgehungerte. Es gibt ein ausgeprägtes Interesse an kopulierenden Körpern, nicht an arbeitenden. Sanftmütige Mittelstandsstudenten drängen sich emsig in Bibliotheken, um über sensationelle Themen wie Vampirismus und Augenausstechen, Cyborgs und Pornofilmen zu arbeiten.

Das ist nur allzu verständlich. Über die Literatur zu Latex oder die politischen Implikationen des Nabelpiercings zu arbeiten, heißt die gute alte Devise wörtlich zu nehmen, dass das Studium Spaß machen sollte. Das ist ein wenig so, als würde man eine Diplomarbeit über die vergleichende Geschmacksforschung bei Malt-Whiskey schreiben oder über die Phänomenologie des Den-Tag-im-Bett-Verfaulenzens. Dies schafft eine nahtlose Verbindung zwischen dem Intellekt und dem täglichen Leben. Es hat seine Vorteile, eine Doktorarbeit schreiben zu können, ohne sich vom Fernseher weg bewegen zu müssen." Klingt wirklich verlockend.

Wie wir letzten Sommer kurz diskutiert haben, betrachtet Fredric Jameson den zeitgenössischen globalen Kapitalismus als ein durch und durch alptraumhaftes und überwältigendes Phänomen, in dem die Bevölkerung von einem gewaltigen Netz aus bürokratischer Kontrolle und Medienmanipulation beherrscht wird. Die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Erschütterung, geschweige denn "der endgültige Verfall, Zusammenbruch und Tod des Systems als solches", wird weitgehend ausgeschlossen.

1995 argumentierte Jameson, dass der globale Kapitalismus nie zuvor einen solchen Spielraum zum Manövrieren hatte. Er schrieb, dass "all die bedrohlich gegen ihn selbst gerichteten Kräfte, die er in der Vergangenheit hervorgebracht hat, [...] heute in einem Zustand kompletter Verwirrung zu sein scheinen, wenn sie nicht in der einen oder anderen Weise effektiv ausgeschaltet sind". Möglicherweise würde irgendwann in der Zukunft ein neues Proletariat entstehen, doch bis dahin "sind wir noch am Boden, und niemand kann sagen, wie lange wir dort liegen bleiben werden".

In seinem neuesten Werk liegen wir offenbar immer noch am Boden, vielleicht noch mehr als vorher. Jameson hat ein Buch geschrieben, dass die Vorzüge des Utopismus preist, eine Tendenz, über die wir bereits geschrieben und gesprochen haben.

"Utopia scheint seine Vitalität als politisches Schlagwort und politisch beflügelnde Perspektive wiedergewonnen zu haben. In der Tat hat eine ganze neue Generation der Postglobalisierungslinken [...] immer williger dieses Schlagwort aufgegriffen, in einer Situation, in der die Diskreditierung sowohl der kommunistischen als auch der sozialistischen Parteien sowie die Skepsis hinsichtlich überlieferter Revolutionsvorstellungen das diskursive Feld geklärt haben [...].

Lähmend ist nicht die Anwesenheit eines Feindes, sondern vielmehr der allgemeine Glaube, dass nicht nur diese Tendenz unumkehrbar ist sondern auch die historischen Alternativen zum Kapitalismus sich als nicht lebensfähig und undurchführbar erwiesen haben und kein anderes sozioökonomisches System denkbar, geschweige denn praktisch verfügbar ist. Die Utopisten offerieren nicht nur, sich solche alternativen Systeme vorzustellen, die utopische Form ist selbst eine begriffliche Meditation über radikale Differenz, radikale Andersartigkeit und über die systemische Natur der gesellschaftlichen Totalität, bis zu dem Grad, dass es unmöglich wird, sich einen grundlegenden Wandel in unserer gesellschaftlichen Existenz vorzustellen, der nicht so viele utopische Visionen abgeworfen hat wie ein Komet Sternschnuppen."

Das ist Jameson in Reinform, eine prätentiöse Anpassung an die bestehende Realität, eine Lobpreisung der fertigen Tatsache. In seiner Unfähigkeit, sich einen Kampf gegen die momentanen Schwierigkeiten vorzustellen, ist er ein Produkt des Radikalismus der 1970er, der - falls er es je hatte - schon vor langer Zeit jegliches Vertrauen in die revolutionäre Fähigkeit der Arbeiterklasse, vor allem der amerikanischen, aufgegeben hat.

Viele haben einen noch ausgeprägteren moralischen und intellektuellen Zersetzungsprozess durchlaufen.

Das französische Kunst- und Geistesleben offenbart einige dieser Tendenzen in der schärfsten Form - als vorübergehende, aber ernstzunehmende Schwindsucht des französischen Kinos und der Literatur. Ein Romanautor und Herausgeber behauptet kategorisch, dass "die französische Literatur zur Wüste geworden ist". In dieser Wüste finden wir, als einen der prominentesten französischen Autoren, Michel Houellebecq. Wir haben vor ein paar Jahren über ihn geschrieben (http://www.wsws.org/articles/2003/may2003/nov-m02.shtml).

In seinen Romanen wechseln sich Beschreibungen kalter, absichtlich geschmackloser sexueller Handlungen mit langen Passagen ab, in denen die lächerlichen Mätzchen beschrieben werden, mit denen sich Teile der französischen Mittelklasse spirituell über Wasser halten. Das alles ist ohne geschichtlichen Kontext oder menschliche Sympathie verfasst. Es sind öde Werke, die nur die Oberfläche des französischen Lebens streifen. Seine Charaktere oder der Erzähler mögen auf antiarabischen Rassismus anspielen; der Autor sagt, dass es sich nicht um seine Stimme handelt, aber die Werke sind so bar jeden kritischen Rahmens oder Abstands, dass man dies unmöglich bestimmen kann.

Die erniedrigenden Handlungen werden nicht kritisiert, der Autor schwelgt in ihnen. Es handelt sich um eine relativ unvermittelte Antwort auf den allgemeinen Niedergang des französischen Kapitalismus und speziell den Zerfall der Generation von 1968. Für all dies wird irgendwie die Bevölkerung selbst und ihre Fähigkeit zur Selbsttäuschung verantwortlich gemacht. Houellebecq wurde mit Louis-Ferdinand Céline, dem Autor von Reise ans Ende der Nacht, verglichen. Trotzki hat Céline in einem berühmten Essay als einen tief verwundeten Moralisten bezeichnet, der zwischen Licht und Dunkelheit wählen musste. Er entschied sich für Faschismus und Antisemitismus. Dies sollte Warnung genug sein, doch ist Houellebecq kein Céline. Hier findet man keine Dringlichkeit oder Ernsthaftigkeit, keinen Biss in der Satire, außer wenn es gegen die vergleichsweise Wehrlosen geht.

Ein paar Worte zu amerikanischen Romanen und Filmen. In den letzten Jahren gab es in den USA eine Art Renaissance des Gesellschaftsromans, verkörpert von Autoren wie Don DeLillo, Jonathan Franzen, Richard Powers und anderen. Ihre Bücher zeigen ein Bewusstsein für bestimmte gesellschaftliche Prozesse: die Existenz eines globalisierten, computerbestimmten Wirtschaftslebens, die Kriminalität von Großunternehmen und Regierungen, die geistige Entmündigung des amerikanischen Volkes, die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung, ihre Entfremdung, ihre moralische Vereinzelung und nicht selten Erbärmlichkeit.

In DeLillos letztem Buch Cosmopolis, einer Art schwarzer Komödie, schlängelt sich ein 28-jähriger milliardenschwerer Vermögensverwalter, der in einer 104 Millionen Dollar teuren Wohnung lebt, in seiner weißen Limousine inmitten des mittäglichen Verkehrsstaus durch Manhattan. Er geht seinen Geschäften nach, die an diesem Tag darin bestehen, gegen den Yen zu spekulieren (er verliert Hunderte Millionen Dollars im Verlauf des 200-seitigen Romans). Seine Arbeit bewerkstelligt er vom Rücksitz seiner Limousine aus mit Hilfe einer Reihe von Bildschirmen und Handhelds. Auf dem Weg trifft er sich mit seinen verschiedenen Beratern für Finanzen, Sicherheit, Gesundheit sowie mit seinem "Häuptling der Theorie". Er begegnet seiner 22-tägigen Ehefrau, die wie eine völlig fremde Person erscheint, hat Sex mit verschiedenen Personen, wenn auch nicht mit seiner Frau, und fällt am Ende einem Mordanschlag zum Opfer. Das alles passiert im Verlauf einer einzigen Fahrt durch die Stadt. Das Buch ist scharfsinnig, gelegentlich amüsant und doch ziemlich kühl.

Diese neuen amerikanischen Romane haben etwas im Grunde Unbefriedigendes an sich. Bei aller Brillanz sind sie ein wenig unmenschlich, fern von der Wirklichkeit des Alltagslebens, zuweilen gewollt komisch und übertrieben. Der Buchkritiker der Zeitschrift New Republic, James Wood, versuchte in einem Artikel nach dem 11. September, die Schwächen dieser Werke gegen sie zu verwenden. Laut Wood, einem der ernsthafteren Literaturkritiker in den USA, sollen die amerikanischen Romanautoren gar nicht erst versuchen, die gesellschaftliche Wirklichkeit aufzudecken. Er äußerte die Hoffnung, dass der 11. September "einen Raum schaffen könnte für das Ästhetische, Kontemplative, für Romane, die uns nicht erzählen, 'wie die Welt funktioniert', sondern 'wie jemand etwas empfindet' - ja, wie eine Menge verschiedener Menschen eine Menge verschiedener Dinge empfinden (so etwas nennt man gewöhnlich Romane über menschliche Wesen)."

Wood meinte, dass nach den Terrorangriffen "Romanautoren ihre Stimme nur argwöhnisch als Analytiker der Gesellschaft erheben werden, solange die Gesellschaft sich dagegen sträubt und so hilflos nach Schuldigen sucht. Mit Sicherheit werden sie bei ihren Verallgemeinerungen vorsichtig zu Werke gehen. Es ist heute sehr leicht, schnell alt auszusehen." Er stellte die Frage: "Wer würde wagen, jetzt über Sachkenntnissen in Fragen der Politik und Gesellschaft zu verfügen?"

Die angemessene Frage angesichts der Gräueltat des 11. September und seiner Verbindung zur internationalen Politik und Geschichte müsste lauten: "Wer würde es wagen, jetzt nicht über Sachkenntnissen in Fragen der Politik und Gesellschaft zu verfügen?"

Woods Gegenüberstellung von Romanen mit "menschlichem" und "gesellschaftlichem" Anspruch ist grundfalsch. Er will Romane über "individuelles Bewusstsein", wie er sagt. Auch wir wollen ernsthafte Bücher über menschliche Wesen, keine Schablonen oder Traktate.

Aber was ist Individualität? Wie Trotzki bemerkt, besteht sie in der besonderen Weise der Verbindung aus "Ererbtem, Nationalem, Klassenmäßigem, zeitlich Vorübergehendem, Alltäglichem" aus. Die einzigartige Weise, in der sich diese Elemente verbinden, macht die Individualität aus.

Der Leser besteht aus den gleichen wesentlichen Elementen wie der Künstler, wenn auch vielleicht in einer anderen Kombination. Aus diesem Grunde kann der Leser den Künstler verstehen - was als Brücke von einem menschlichen Wesen zum anderen dient, ist nicht das Einzigartige, sondern das Gemeinsame. Nur durch das Allgemeine wird das Einzigartige erkannt.

Wenn das Besondere nicht auf das Allgemeine zurückgeführt wäre, dann gäbe es keine Kommunikation und keine Kunst. Dieses gemeinsame Element setzt sich zusammen aus den tiefsten und dauerhaftesten Bedingungen des Lebens, der Erziehung, der Arbeit und so weiter. Die gesellschaftliche Bedingung ist, an allererster Stelle, die Bedingung der Klassenzugehörigkeit. Eine ernsthafte Beschäftigung mit der menschlichen Seele erfordert demnach eine ernsthafte Beschäftigung mit sozialen Klassen und mit Geschichte. Lyrischer Charakter und Gesellschaftsanalyse stehen nicht im Gegensatz zueinander, auch wenn der bürgerliche Spießer dies annimmt.

Wood irrt hinsichtlich der großen Fragen, aber er äußert berechtigte Kritik an dieser Schule amerikanischer Gesellschaftsromane, und diese hat nach meiner Ansicht auch Bedeutung für das Kino. "Heutzutage wird jeder, der einen Laptop besitzt, für den Scharfsinn in Bewegung gehalten. Man füllt die Romane mit kleinen Essays und großen Wissensdarlegungen. In der Tat ist das 'Bescheidwissen' zu einer der Qualifikationen des zeitgenössischen Romanautors geworden. [...] Das Ergebnis, wenigstens in Amerika, sind Romane von immenser Selbstbefangenheit, dabei ohne jedes Selbst, merkwürdig festgefahrene und sehr 'brillante' Bücher, die tausend Dinge und doch kein einziges menschliches Wesen kennen."

Er beschreibt, was er "hysterischen Realismus" nennt: "Diese Sorte Realismus ist eine sich unaufhörlich bewegende Maschinerie, die sich in der Geschwindigkeit verloren hat. Handlungen und Unterhandlungen sprießen auf jeder Seite. Es findet ein Jagen nach Lebendigkeit um jeden Preis statt." Dies sind berechtigte Vorwürfe gegen eine bestimmte Sorte linker Kunstwerke, die meiner Ansicht nach mit diversen postmodernen Ideen (ziemlich explizit im Fall von DeLillo, wie ich meine) und mit demoralisierten politischen Stimmungen eng zusammenhängen.

In der cineastischen Kunst finden wir den "Tour de force"-Film, so zum Beispiel fantastische historische Kulissen bei relativ dürftigem Inhalt. Alles ist möglich... doch fast nichts wird getan. Damit verbunden ist ein Hang zu Übertreibungen, überbetontem Spiel, Toleranzgrenzen überschreitenden komischen oder absurden Momenten, die einen Sinn für Proportion vermissen lassen.

Der Sinn für künstlerische Proportion geht verloren, wenn sich ein Künstler von den wirklichen Triebkräften im Leben und der Gesellschaft mehr oder weniger entfernt hat, wenn die wahre Schlachtordnung der gesellschaftlichen und psychologischen Kräfte unklar ist und es an Konkretheit mangelt. Ebenfalls häufig ist Skepsis in Bezug auf die Auffassungsgabe und Fähigkeiten des Menschen wie auch ein gehöriges Maß an Misanthropie gegeben.

Offensichtlich spielen objektive historische Probleme bei diesen Schwierigkeiten eine Rolle. Die Kunst kann sich nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen oder aus sich selbst heraus vollkommen Klarheit schaffen. Die gesellschaftliche Bewegung der Massen spielt eine entscheidende Rolle. Trotzki schreibt über "die emanzipatorische Bewegung der unterdrückten Klassen und Völker, [die] die Wolken der Skepsis und des Pessimismus verjagt, die heute den Horizont der Menschheit verdunkeln."

Wir müssen uns selber einen Sinn für Proportion und eine gewisse Geduld bewahren. Es macht keinen Sinn, einfach auf Individuen einzudreschen, wenn das Problem in den allgemeinen Rahmenbedingungen liegt. Nichtsdestoweniger müssen wir darauf bestehen, dass Veränderungen nötig sind und Anstrengungen erfordern, und auf eben diese Weise die Grundlage dafür schaffen.

Was Auerbach über Balzac, den großen französischen Romancier, schreibt, trifft denke ich den Punkt: "In der Tat sind seine Menschen und Atmosphären, so gegenwärtig sie sind, stets als aus den geschichtlichen Ereignissen und Kräften entsprossene Phänomene vorgestellt; [...] die Erfindung [schöpft] nicht aus der freien Einbildungskraft [...], sondern aus dem wirklichen Leben, wie es sich überall bietet. Nun besitzt Balzac gegenüber diesem mannigfaltigen, von Geschichte durchtränkten, rücksichtslos mit allem Alltäglichen, Praktischen und Häßlichen und Gemeinen dargestellten Leben eine Einstellung, wie sie ähnlich auch schon Stendhal besaß: er nimmt es in dieser wirklich-alltäglich-innergeschichtlichen Gestalt ernst, und sogar tragisch. [...] Die Neuartigkeit der Einstellung und die neue Art von Gegenständen, welche ernst, problematisch, tragisch behandelt wurden, bewirkten die allmähliche Entwicklung einer ganz neuen Art ernsten oder, wenn man will, hohen Stils [...]."

Nun denn: die ernste oder hohe, problematische und sogar tragische Behandlung des wirklichen Lebens, in seiner historischen und sozialen Konkretheit und Bewegung. Wir haben keine Schablonen oder Rezepte. Wir versuchen, kritisch den Weg zu beleuchten, wie Trotzki es ausdrückte, doch wir unterstützen eine solche Mischung aus künstlerischer Ernsthaftigkeit und alltäglichem Leben... Wie diese sich heutzutage darstellt, das wird nicht davon bestimmt, was französische Romanschriftsteller vor 150 oder 200 Jahren getan haben. Dennoch ist diese Art von wachsender Ernsthaftigkeit und hohem Stil in der Behandlung unseres gegenwärtigen Daseins ein wichtiger Schlüssel zur Entwicklung einer neuen Kunst.

Während ihrer Debatte in den 1930ern warf Brecht dem pro-stalinistischen Kritiker Lukacs vor, er wolle "Balzac, nur modern". Dies ist nicht unsere Vorstellung. Unsere Wirklichkeit, die Wirklichkeit der gegenwärtigen Massengesellschaft, ist äußerst komplex. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass sich vieles verändert hat.

Das Leben zu behandeln, erfordert einen hohen Grad an künstlerischer Objektivität und tiefem Gefühl für die menschliche Natur. Wir streben nicht danach, irgendeine besondere Phase der Kulturgeschichte zu wiederholen. Das ist ohnehin gar nicht möglich. Doch wäre es meiner Ansicht nach leichtfertig, unter den gegebenen Umständen, wo ein echter Rückschritt stattgefunden hat und eine Menge verloren gegangen ist, die Ursprünge und die Entwicklung des modernen Realismus zu ignorieren.

Worin nun könnten einige der persönlichen Widersprüche bestehen, die durch die gegenwärtige Verschärfung der gesellschaftlichen Widersprüche hervorgerufen werden? Ganz offensichtlich brutale wirtschaftliche und soziale Umstände, heutige Arbeitsbedingungen, all die mit enormen Veränderungen und neuem Druck verbundenen psychologischen Dilemmas - die Fesseln, in denen sich die zwischen verschiedenen Anforderungen zerrissenen Menschen finden - der Einfluss auf Liebe, Freundschaft und persönliche Beziehungen, die durch schockierende Veränderungen und Umstände hervorgerufenen moralischen Widersprüche. Die Beziehungen zwischen allen gesellschaftlichen Schichten. Die Geschichte eines Geschäftsmannes kann etwas über das Leben offenbaren, was sonst verborgen bleibt. Es gibt keinen Mangel an dramatischen Stoffen in unserer Welt.

Wie ist dies darzustellen?

Es ist unmöglich, dies präzise vorauszusagen. Es mag ohne große formale Kunstfertigkeit oder Innovation geschehen. Dies mag für Künstler nicht die unmittelbare Herausforderung darstellen. Es könnte mit eher konservativen oder konventionellen Formen beginnen, die plötzlich explosive Probleme behandeln und dabei noch einige Altlasten mit sich herumschleppen.

Wir befürworten eine deutlich größere Aufmerksamkeit gegenüber den Problemen des Alltagslebens. Dabei grenzen wir uns aber von den Populisten, Stalinisten und diversen Radikalen ab, indem wir beharrlich den Standpunkt vertreten, dass die Wahrheit über diese Realität nur dann hervortreten kann, wenn sie auf im höchsten Maße kultivierte, erhaben-kunstvolle, "weltgeschichtliche" Weise behandelt wird, ohne Schablonen und ohne Beschönigungen.

"Das künstlerische Schaffen gehorcht seinen eigenen Gesetzen selbst dann, wenn es sich bewußt in den Dienst einer sozialen Bewegung stellt. [...] Die Kunst kann nur insoweit ein großer Bundesgenosse der Revolution sein, als sie sich selbst treu bleibt." (Trotzki, Kunst und Revolution, 1939) Und genau hieraus ergeben sich meiner Ansicht nach die Grenzen selbst der besten Nachkriegsschulen wie dem italienischen Neorealismus, dem iranischen Film und anderen: Sie haben sich selbst beschränkt und sich die Hände gebunden, und zwar aus populären Rücksichten, die im Großen und Ganzen eine klassische Erhabenheit und Ernsthaftigkeit ausschlossen. Naive, einfache oder vereinfachte Werke reichen nicht aus.

Zweifellos findet ein Stimmungsumschwung statt: Wir sehen das sogar an den populären Filmen in den USA, an den Filmen auf dem letzten Toronto Filmfestival. Pinters moralische Distanzierung vom Kapitalismus und seiner offiziellen Kultur ist ein Beispiel der jüngsten Zeit für die Umbrüche, die bevorstehen.

In seiner Nobelpreisrede griff Pinter die US-Politik scharf an und nannte ihre Verbrechen "systematisch, konstant, infam, unbarmherzig". Er beschrieb die Invasion des Iraks als einen "Akt von unverhohlenem Staatsterrorismus, der eine absolute Verachtung des Prinzips von internationalem Recht demonstrierte."

Er schloss mit den Worten: "Ich glaube, dass den existierenden, kolossalen Widrigkeiten zum Trotz die unerschrockene, unbeirrbare, heftige intellektuelle Entschlossenheit, als Bürger die wirkliche Wahrheit unseres Lebens und unserer Gesellschaften zu bestimmen, eine ausschlaggebende Verpflichtung darstellt, die uns allen zufällt. Sie ist in der Tat zwingend notwendig."

Eine derartige Stellungnahme ist nicht einfach eine Abirrung oder ein Ruf in der Wüste. Sie spiegelt eine zunehmende Stimmung unter denjenigen, die die Lage der Menschheit am aufmerksamsten und feinfühligsten beobachten. Und sie erwartet eine Resonanz, auf die sie auch gestoßen ist.

Wir haben die Bedeutung von München erwähnt - kein Meilenstein der Filmgeschichte, aber ein Werk, das sich in Gegensatz zur Brutalität und Gleichgültigkeit stellt, die der jüngeren Populärkultur so vielfach anhaftet, einschließlich der stupiden Brandstifter wie Tarantino.

Was brauchen wir selber? Eine gemeinschaftlichere und breiter angelegte internationale Anstrengung, die künstlerischen und geistigen Entwicklungen zu verfolgen, einen systematischeren und theoretischeren Ansatz. Wir können nicht einfach von einem zum nächsten Werk springen. Wir benötigen eine Theorie des zeitgenössischen Kunstschaffens und seiner Entwicklung, wir müssen uns durch Eagleton, Jameson und andere Autoren hindurcharbeiten und die bedeutenderen bürgerlichen Literaturkritiker verfolgen. Wir brauchen größere internationale Teilnahme und Zusammenarbeit - in den Vereinigten Staaten mehr Beachtung für insbesondere die Literatur und für die sie begleitenden Debatten, in Großbritannien und Deutschland müssen wir besonders dem Theater mehr Aufmerksamkeit schenken, in Asien ebenfalls dem Film und Roman, in Australien besonders der Literatur. Wir müssen allgemein mehr auf die bildenden Künste achten.

Unsere Arbeit hat eine objektive Geltung und Bedeutung, die nur weiter wächst. Was wir tun und was wir sagen, wird weithin verfolgt. Wir haben alles Recht, auf den Erfolg unserer Anstrengungen zu vertrauen.

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