"Er war ein Revolutionär im besten Sinne des Wortes"

Gedenkversammlung zum 70. Geburtstag von Wadim S. Rogowin

Am 10. Mai wäre der russische marxistische Historiker und Soziologe Wadim S. Rogowin, der nach einem jahrelangen Kampf gegen den Krebs im September 1998 gestorben ist, 70 Jahre alt geworden. Eine Gedenkveranstaltung und eine Buchpräsentation ehrten am Freitag dem 11. Mai am Institut für Soziologie der russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau, an der er gearbeitet hatte, sein Leben und Werk.

Ungefähr dreißig seiner früheren Kollegen und Freunde versammelten sich in dem Gebäude, in dem Rogowin 1977 seine Arbeit begonnen hatte, und diskutierten die anhaltende Bedeutung seiner Forschungen über soziale Ungleichheit in der ehemaligen sowjetischen Gesellschaft und seiner monumentalen, siebenbändigen Buchreihe unter dem Titel Gab es eine Alternative?, die die Geschichte der sozialistischen, antistalinistischen Opposition in der Sowjetunion untersucht.

Zur Feier des Jahrestages wurde ein neuer russischsprachiger Band mit soziologischen Schriften aus den 1980er und frühen 1990er Jahren mit dem Titel Gerechtigkeit und Gleichheit veröffentlicht. Das Buch enthält Artikel und Essays Rogowins aus den Jahren vor und während der Perestroika, der Zeit der von Michail Gorbatschow eingeleiteten ökonomischen Reformen, die den Weg für die Wiedereinführung des Kapitalismus in der Sowjetunion bereiteten.

Auf der Gedenkveranstaltung fand eine lebhafte Diskussion über die Beziehung von sozialer Gerechtigkeit und sozialer Ungleichheit statt. Die Anwesenden unterzogen dabei die verschiedenen Seiten des Problems sowohl im Hinblick auf die Geschichte der Sowjetunion als auch auf das heutige Russland einer Untersuchung.

In den neunziger Jahren stand der Name Wadim S. Rogowin in breiten Kreisen für den Kampf um die historische Wahrheit über die Existenz einer wirklich marxistischen Alternative zum Stalinismus in der Sowjetunion. Gab es eine Alternative? war der erste Versuch eines sowjetischen Wissenschaftlers, Jahrzehnte alte Fälschungen und Lügen über die historische Rolle Leo Trotzkis in der russischen Revolution zu widerlegen. Die Schriftenreihe erläuterte die politische Perspektive, die Trotzkis Opposition zu Stalins Programm vom "Sozialismus in einem Land" beseelte.

Rogowins Bücher, die sich auf die Schriften Trotzkis und anderer Mitglieder der linken Opposition stützen, enthüllten die mörderische Kampagne, die Stalin gegen das gesamte marxistische intellektuelle und politische Erbe in der Sowjetunion geführt hatte. Er zeigte den Zusammenhang zwischen den Versuchen Stalins auf, sich mit Hilfe brutaler Gewalt die unangefochtene politische Kontrolle zu verschaffen, und dem Anwachsen und der Verteidigung von Privilegien der Partei- und Staatsbürokratie.

Jury Vitalewitsch Primakow, Sohn des hingerichteten Generals der Roten Armee, Vitali Primakow, erklärte auf der Gedenkveranstaltung: "Der wichtigste Beitrag Wadim Rogowins war, dass er als erster in der Sowjetunion die Wahrheit über die Opposition sagte. Wer in unserem Land lebte, wusste nichts über die Gedanken und Vorschläge (Trotzkis). Wir hörten vom Trotzkismus nur als Verwünschung, für die man erschossen werden konnte. Möglicherweise hatten die Leute im Ausland Kenntnisse über Bucharin oder über Trotzki, aber hier wussten wir nichts. All das hat Rogowin für uns wieder entdeckt."

Die Tochter des Linken Oppositionellen Leonid Serebriakow, Zoria Serebriakowa, sprach auch über Rogowins bedeutenden Beitrag zur Geschichte der Sowjetunion. "Wenn wir über soziale Gerechtigkeit sprechen," sagte sie, "dürfen wir nicht (Rogowins) Beitrag zu dieser Frage in seiner Arbeit über das Jahr 1937 vergessen. Er sagte die Wahrheit über Stalins blutigen Terror, die schrecklichste Ungerechtigkeit in der sowjetischen Geschichte. Heute sprechen viele über Stalins ‚politische Unterdrückung’. Dieser Begriff erfasst die begangenen Schreckenstaten nicht einmal ansatzweise. Rogowins Arbeit enthüllte diese Wahrheit."

Die Konferenz erhielt Grüße vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale, der trotzkistischen Bewegung, mit der Rogowin sehr enge intellektuelle und politische Verbindungen aufbaute, als er an Gab es eine Alternative zum Stalinismus? schrieb. Aus dem Brief von David North, dem leitenden Redakteur der World Socialist Web Site, wurde vorgelesen:

"Heute, am siebzigsten Jahrestag seiner Geburt, zollen das Internationale Komitee der Vierten Internationale und zahllose Genossen und Freunde dem Andenken Wadim S. Rogowins Anerkennung. Es ist unmöglich, sich an diesem Jahrestag nicht des herrlichen Tages vor zehn Jahren zu erinnern, als wir zusammen mit Wadim seinen sechzigsten Geburtstag feierten. Die Genossen, die Kollegen und Freunde, die sich an diesem Tag im soziologischen Institut der Akademie der Wissenschaften versammelt hatten, sprachen von der Bedeutung des Lebens und der Arbeit dieses außergewöhnlichen Mannes.

In meinem Beitrag", so North, "beschrieb ich Wadim als ‚Propheten der historischen Wahrheit’. Ich wollte die gewaltige intellektuelle, politische und moralische Bedeutung seines kompromisslosen Kampfes zur Erschütterung des massiven Lügengebäudes, das die bürokratische Diktatur errichtet hatte, erklären. Ein Lügengebäude, unter dem die revolutionären egalitären Prinzipien der Oktoberrevolution, die sozialistischen Grundsätze der Sowjetunion und das marxistische Programm Leo Trotzkis und der antistalinistischen Linken Opposition für mehr als ein halbes Jahrhundert begraben gewesen waren.

In seinem letzten Lebensjahrzehnt, widmete Wadim seine ganze anscheinend unerschöpfliche Lebenskraft der Erstellung von sieben Bänden eines historischen Zyklus, der zu den großen intellektuellen Leistungen des 20. Jahrhunderts gehört. Er zeigte auf, dass es eine Alternative zum Stalinismus gab, dass die Prinzipien und das Programm, für die Trotzki gekämpft hatte, die Sowjetunion in die Lage gebracht hätte, sich in eine unendlich humanere und fortschrittlichere Richtung zu entwickeln, und der Sache des Sozialismus auf der Welt einen großen Auftrieb gegeben hätte.

Als wir uns im Mai 1997 trafen", fuhr North fort, "wussten wir alle, dass Wadim schwer krank war. Aber sein Mut, seine unauslöschliche intellektuelle Produktivität gab uns die Hoffnung, dass er noch viele Jahre bei uns bleiben würde. Das sollte nicht so sein. Im September 1998 verstarb er im noch viel zu jungen Alter von 61 Jahren. Für diejenigen unter uns, die das Glück hatten, ihn zu kennen und zu seinen Freunden zu gehören, war sein Tod ein großer persönlicher Verlust. Aber sein Lebenswerk dauert fort und sein Einfluss wächst weiter, in Russland und weltweit. Der letzte Band seines historischen Zyklus trug den Titel Das Ende ist der Anfang. Mit diesem Titel wollte Wadim die historische Unsterblichkeit von Trotzkis politischem und historischem Erbe ausdrücken. Diese gleichen Worte sind heute passend, wenn wir das Vermächtnis von Wadim S. Rogowin ehren."

Die Neuauflage Rogowins soziologischer Schriften über die sowjetische Gesellschaft unter dem Titel Gerechtigkeit und Gleichheit ist Teil dieses Neubeginns.

Die Arbeiten in dem 350 Seiten umfassenden Buch zeigen auf, dass noch bevor es möglich war, das Sowjetregime offen zu kritisieren, Rogowin Artikel veröffentlichte, die eine deutliche Kluft zwischen dem Lebensstandard der einfachen Menschen und dem der Machteliten in der sowjetischen Politik, in der Wirtschaft oder im Kulturleben aufzeigten. Michail Wojekow, Wirtschaftswissenschaftler am Ökonomischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften und Kollege Rogowins, bemerkte auf der Gedenkveranstaltung: "Das Problem (sozialer Ungleichheit) war Rogowin ein zentrales Anliegen und beherrschte sein Denken sein ganzes tätiges Leben lang."

In Gerechtigkeit und Gleichheit schreibt Rogowin über die Notwendigkeit, sich mit der vorhandenen Ungleichheit in der höheren Bildung der Sowjetunion auseinanderzusetzen, wo die erdrückende Mehrheit der Studenten an Eliteuniversitäten einen privilegierten politischen und wirtschaftlichen Hintergrund hatten. Rogowin warf die Frage nach der sozialen Gleichheit auch bei der Untersuchung der Wohnungsfrage auf. Er setzte sich mit der Frage auseinander, dass einige Leute einen besseren Zugang zu Wohnraum hatten als andere, und dass die Wohnungskosten für diese oberen Einkommensschichtenschichten in der Sowjetunion tendenziell viel niedriger waren, da sie Zugang zu staatlich geförderten Wohnungen bekamen, deren Nebenkosten und andere Annehmlichkeiten zudem nur einen Bruchteil der regulären Kosten betrugen.

Rogowin verteidigte konsequent die Position, dass die Bezeichnung "sozial gerecht" nicht vom Kampf für soziale Gleichheit getrennt werden könne. Rogowin führte an, dass dieses Prinzip verletzt wird, wenn gewisse Schichten der Bevölkerung Zugang zu Gütern haben, die nicht für alle zugänglich sind, z.B. Güter, die im System der "geschlossenen Läden" gehandelt wurden. Rogowin beschränkt sich nicht schlicht auf die Frage der materiellen Lage der Bevölkerung, sondern besteht darauf, Gleichheit im weitest möglichen Sinn zu verstehen, einschließlich der Möglichkeit, an "gesellschaftlich wichtigen Entscheidungen" teilzuhaben. Mit anderen Worten, Gleichheit erfordert das Recht, an der Politik und an den Entscheidungen über die Sozialpolitik teilhaben zu können.

In mehreren Artikeln forderte Rogowin nicht nur die Festsetzung eines gesellschaftlich garantierten minimalen Lebensstandards, sondern die Festlegung eines gesellschaftlich garantierten maximalen Lebensstandards, damit es "keine sowjetischen Millionäre" geben konnte.

Es ist wichtig im Auge zu behalten, dass Rogowin diese Artikel unter Bedingungen schrieb, als das Sowjetregime sowohl das Vorhandensein von Klassenunterschieden als auch die Existenz der Privilegien der Bürokratie leugnete.

Im Laufe der achtziger Jahre wurde die politische Atmosphäre in der Sowjetunion weniger repressiv und Rogowin begann offener über das Problem der sozialen Ungleichheit und die Wirkungen der am Markt orientierten Perestroika -Reformen in der sowjetischen Gesellschaft zu schreiben. Mit diesen Arbeiten unterscheidet sich Rogowin von beinahe allen seinen Kollegen, von denen die Mehrheit zu Fürsprechern Gorbatschows wurden. Entweder beteiligten sie sich ganz offen als Berater an seiner Regierung oder schrieben Presseerklärungen, in denen sie seine Politik verteidigten, selbst dann noch, als der öffentliche Unmut über die Auswirkungen dieser Politik auf den Lebensstandard anwuchs.

Andrea, eine Doktorandin der Soziologie, die ihre Dissertation über die sowjetische Soziologie der 1980er Jahre schreibt, machte bei der Gedenkveranstaltung auch einen Beitrag: "Als die Folgen der Wirtschaftsreformen der Perestroika klarer wurden," sagte sie, "entwickelte sich Rogowins Arbeit zweigleisig. Erstens warnten seine Beiträge für diverse Zeitungen und Zeitschriften die Öffentlichkeit vor den Folgen der ungezügelten Akkumulation von privatem Reichtum, der unter dem Deckmantel der Perestroika vor sich ging. Er trat für eine Sozialpolitik ein,... die nach seiner Ansicht geeignet war, die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit zu verteidigen. Zweitens begann er über die historische Beziehung von Stalinismus, Korruption, des ideologischen Angriffs auf das Prinzip der Gleichheit und der Stagnation der sowjetischen Wirtschaft nachzudenken und zu schreiben.

Für Rogowin, war der Zusammenbruch von Moral und Arbeitsdisziplin nicht Ergebnis eines Mangels an materiellen Anreizen in der sowjetischen Wirtschaft. (Diese Position vertraten die meisten seiner Zeitgenossen.) Eher handelte es sich um das Ergebnis der Desillusionierung über das sozialistische Projekt unter den sowjetischen Massen, was dadurch begründet war, dass sich ein tiefer Graben aufgetan hatte zwischen den Idealen, für die die russische Revolution gekämpft hatte, und den Realitäten des wirtschaftlichen Lebens in der Sowjetunion. Dieser Graben hat sich nach Rogowin in der Breschnew-Ära noch verschlimmert, als Korruption, Bestechung und der Diebstahl von Staatseigentum ein deutliches Wachstum nicht-offizieller Formen sozialer Ungleichheit verursachten.

Weiter", sagte sie, "stellte Rogowin fest, dass die Perestroika keinen Bruch mit den ökonomischen Tendenzen bedeutete, die sich unter Breschnew entwickelt hatten, sondern eher deren logische Fortsetzung waren. Für Rogowin war wachsende soziale Ungleichheit, und sei es auch nur im Lohnsektor, nicht einfach eine Verletzung sozialer Gerechtigkeit. Sie war unlösbar mit der politischen Herrschaft der Partei- und Staatsbürokratie in der Sowjetunion verbunden. Deshalb lag Rogowin so viel daran, in einer Vielzahl von Artikeln den historischen Zusammenhang zwischen dem Aufkommen des Stalinismus in den dreißiger Jahren, der wachsenden Ungleichheit, und der Verteidigung bürokratischer Privilegien aufzuzeigen.

Viele der hier Anwesenden, die Rogowins Werk kennen, können sehen," schloss sie, "dass es eine organische Beziehung gab zwischen seiner Laufbahn als Soziologe, der Fragen von sozialer Ungleichheit und Sozialpolitik bearbeitete, und seiner späteren Arbeit über die Geschichte der sozialistischen Opposition gegenüber Stalin."

Wie Wojekow in seinen einleitenden Worten zur Gedenkveranstaltung sagte, "wandte sich Rogowin der Arbeit... über Trotzki zu, weil er glaubte, einzig durch ihn und seine Arbeit das Rätsel des ‚sowjetischen Sozialismus’ erforschen und lösen zu können."

Die Veröffentlichung von Gerechtigkeit und Gleichheit ist ein bedeutendes Ereignis, weil es Rogowin einen wichtigen Platz in der sowjetischen Soziologie und ihrem sozialen Denken einräumt. Trotz der zahlreichen Bücher, Artikel und Interviews, die während der vergangenen fünfzehn Jahre über die Geschichte der sowjetischen Soziologie von führenden Vertretern der Disziplin veröffentlicht wurden, findet man keinen Verweis auf Rogowins Werk. Die Tatsache, dass nicht ein einziger von Rogowins ehemaligen Kollegen an der Gedenkveranstaltung teilnahm, spricht für sich.

Der Freund und Kollege Rogowins, Jewgeni Grigorewitsch Andruschinko, bemerkte: "Viele beurteilten ihn ungerecht, aber er kümmerte sich nicht darum... Rogowin war ein Revolutionär im besten Sinne des Wortes," sagte Andruschinko. "Er war ein intellektueller Star in unserem Fach, der sich durch ungeheuere Stärke und Courage auszeichnete."

Siehe auch:
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