Neue Einzelheiten über das Massaker im afghanischen Kundus, bei dem Anfang September vergangenen Jahres 142 Menschen, darunter viele Zivilisten ums Leben kamen, widerlegen die bisherigen Behauptungen und Erklärungen der Bundesregierung.
Unter der Überschrift "Geheime Kommandosache Kundus" berichtet Zeit-Online, dass ungewöhnlich viele Elitesoldaten der Kommando Spezialkräfte (KSK) Anfang September in Kundus stationiert waren. Außerdem sei die Bombardierung der Tanklastwagen, mit den verheerenden Auswirkungen, kein Einzelfall gewesen. Mindestens fünf Bombardierungen von Zielen in Afghanistan sollen auf deutschen Befehl hin bereits vor dem 4. September durchgeführt worden sein, berichtet das Magazin unter Berufung auf einen Insider.
Dem Bericht zufolge ergibt sich folgendes Bild: Von den 120 Soldaten der geheimen Spezialeinheit Taskforce 47, die in unmittelbarer Nähe des Bundeswehr-Feldlagers Kundus eingesetzt waren, gehörten mindestens 60 Mann dem Kommando Spezialkräfte an. Eine derartige Konzentration der KSK-Einheiten ist außergewöhnlich.
Welche Rolle die KSK in der Spezialeinheit Taskforce 47 spielt ist nicht klar ersichtlich und unterliegt der Geheimhaltung. Die Betonung der KSK als Eliteeinheit der Bundeswehr lässt allerdings vermuten, dass ihre Mitglieder auch in der Spezialeinheit Taskforce 47 als weisungsberechtigte Führungseinheit fungiert.
Bis zum Herbst vergangenen Jahres war die Existenz dieser Taskforce 47 als geheime Spezialeinheit der Bundeswehr in Afghanistan kaum jemandem bekannt. Ihre Aufgabe bestehe darin, Gegner aufzuklären, die deutschen Feldlager zu beschützen und afghanische Informanten zu führen. Außerdem betreibe sie die Flugleitung für Kampfjets im Norden Afghanistans. "Geführt wird die Taskforce 47 nicht von Kundus aus, sondern vom Regionalkommando in Masar-i-Sharif", heißt es in dem Zeit -Bericht.
In der Bombennacht vom 4. September spielte die Taskforce 47 eine zentrale Rolle. Der abschließende ISAF-Bericht kommt sogar zu der Schlussfolgerung, dass der Luftangriff von der Taskforce 47 initiiert worden sei. Die Bundeswehr bestreitet das, hält aber alle konkreten Informationen geheim.
Viele offene Fragen drehen sich um die Rolle der KSK und ihr massives Auftreten in Kundus vor den Tagen der Bombardierung. Die Eliteeinheit umfasst insgesamt nur 1.200 Soldaten, wobei die aktiven Einsatzkommandos nur etwa 240 Mann umfassen, wie ein Militärsprecher betonte. Rund ein Viertel dieser Spezialisten seien zur fraglichen Zeit im Feldlager bei Kundus zusammengezogen worden. Das sei außergewöhnlich, betont Rainer Arnold, Obmann der SPD im Verteidigungsausschuss.
Normalerweise operiere das KSK in sehr kleinen Teams. Gruppen von vier oder fünf Mann beteiligen sich an Spezialaufgaben. Sie beobachten etwa tagelang Gehöfte, um gesuchte Taliban-Anführer aufzuspüren. Eine große Anzahl dieser Spezialisten in Kundus deutet jedoch auf größere Aufgaben hin, erklärt Arnold und fügt hinzu: "Doch dazu schweigt das Verteidigungsministerium".
"Das KSK hatte im September bei Kundus einen Einsatzschwerpunkt", bestätigt auch Hans-Peter Bartels, Verteidigungsexperte der SPD. Er und andere Mitglieder des Untersuchungsausschusses wollen klären, welche Rolle die Spezialkräfte bei der Bombardierung gespielt haben. Doch bisher verweigern die Sprecher des Verteidigungsministeriums und der Bundeswehr jegliche konkrete Auskunft und betonen, dass die Tätigkeit der KSK-Einheiten der vollständigen Geheimhaltung unterliegen.
Aus verschiedenen Untersuchungsberichten der ISAF und der Bundeswehr-Feldjäger geht allerdings hervor, dass die Kommando Spezialkräfte eine wichtige Rolle spielten. Ein Offizier des KSK, der zur Taskforce 47 gehörte, hielt den Kontakt zu einem afghanischen Informanten, der den Kommandostand der Spezialeinheit über Vorgänge bei den Tanklastern auf dem Laufenden hielt. Die Aussagen dieses Informanten waren neben den Luftbildern von zwei amerikanischen F15-Kampfjets die wesentlichen Informationsquellen, die Oberst Klein in der Bombennacht zur Verfügung standen.
Der Fliegerleitfeldwebel, der zur selben Zeit den Kontakt zu den amerikanischen Kampfflugzeugen hielt, war ebenfalls Mitglied der Taskforce 47. Ob auch er der KSK angehörte ist bisher nicht bekannt. Er spielte eine Schlüsselrolle bei der Übermittlung der Informationen zwischen Oberst Klein und den US-Kampfpiloten, die mehrmals vorschlugen, durch einen Tiefflug die sichtbar vielen Menschen bei den Tanklastern vor der Bombardierung zu warnen.
Die starke Beteiligung der KSK-Einheiten am Massaker von Kundus widerlegt die Behauptung der Bundesregierung, Oberst Klein habe den Befehl zur Bombardierung der auf einer Sandbank festgefahren Tanklastwagen alleine getroffen. Und er habe dies aus Sorge vor einem Anschlag auf die Operationszentrale der Bundeswehr und zum Schutz der Soldaten getan.
Die Organisationsstruktur der KSK lässt eine derartige Eigenständigkeit nicht zu. Als Eliteeinheit ist sie straff und zentral organisiert. Die Führung des KSK in Afghanistan sitzt in Potsdam und zwar im "Kommando Führung Operationen Spezialkräfte". Dort werden alle wichtigen Entscheidungen getroffen. "Das KSK unternimmt nichts ohne Zustimmung aus Potsdam", betont auch Rainer Arnold und beklagt sich darüber, dass er als Obmann der SPD im Verteidigungsausschuss bisher bei den zuständigen Stellen im Verteidigungsministerium auf eine Mauer des Schweigens und der Informationsblockade gestoßen sei. Jeder Versuch die Kontrolle des Parlaments über die KSK zu stärken, stoße auf Ablehnung und Widerstand, so Arnold.
Zeit-Online zitiert noch einen anderen Parlamentarier mit den Worten: "Wenn es in der Nacht der Bombardierung einen KSK-Einsatz in der Region gegeben hat, dann muss es einen Kontakt zum Einsatzführungszentrum in Potsdam gegeben haben."
Zweimal hat der parlamentarische Untersuchungsausschuss bereits getagt, doch bisher wurden alle Fragen zur Rolle der KSK und andere wichtige Informationen mit dem Argument der Geheimhaltung abgeschmettert. Die Armeeführung entscheidet darüber was die Parlamentarier erfahren und in welchem Umfang die Informationen weitergegeben und veröffentlicht werden dürfen.
Als die Bundeswehr zehn Jahre nach Kriegsende, im Mai 1955 gegründet wurde, war das mit starken Auflagen, vor allem einer strikten Kontrolle durch das Parlament verbunden. Eine Wiederkehr des deutschen Militarismus, der in der Vergangenheit einen Staat im Staat gebildet und die größten Verbrechen begangen hatte, sollte damit verhindert werden.
Die parlamentarische Untersuchung des Massakers in Kundus macht deutlich, dass sich die Beziehung zwischen Armee und Parlament bereits ins Gegenteil verwandelt hat. Nicht die Parlamentarier überprüfen die Rechtmäßigkeit der militärischen Operationen und ziehen die Armeeführung zur Rechenschaft, sondern die Militärs verlangen von den Parteien eine stärkere Unterstützung des Kriegs gegen den wachsenden Widerstand in der Bevölkerung.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Es gibt viele Anzeichen dafür, dass das Massaker von Kundus von Teilen der Armeeführung gewollt und bewusst herbei geführt wurde, um die Politik zu zwingen, einen Krieg, der von zwei Dritteln der Bevölkerung strikt abgelehnt wird, stärker als bisher zu unterstützen. Gleichzeitig soll damit erreicht werden, alle Beschränkungen, die der Bundeswehr seit ihrer Gründung auferlegt wurden, zu überwinden und die Politik gezielten Tötens zu übernehmen, wie sie von der amerikanischen, britischen und der israelischen Armee bereits seit langem praktiziert wird.
Diese Stärkung des Militarismus richtet sich nicht nur nach außen, zur Durchsetzung der militärischen Besatzung in Afghanistan und der Verfolgung geostrategischer Interessen unter den Bedingungen wachsender Gegensätze zwischen den Großmächten. Sie richtet sich auch nach innen und ist Bestandteil der Vorbereitungen, die Bundeswehr gegen Streiks und sozialen Widerstand einzusetzen.
Während die Halbwahrheiten und offenen Lügen der Bundesregierung und des Verteidigungsministers immer mehr die Form einer Verschwörung gegenüber der Bevölkerung annehmen, gibt es nicht eine einzige Partei im Parlament, die es wagt, dem rechtswidrigen Verhalten der Militärführer entgegenzutreten. Alle Bundestagsparteien unterstützen den Krieg und zeigen Verständnis für die "schwierige Aufgabe" der Armeeführung.
Die Linkspartei bildet dabei keine Ausnahme. Zwar stimmte sie im Parlament gegen die Verlängerung des Afghanistan-Mandats - wohl wissend, dass es auf ihre Stimmen nicht ankam. Doch ihre Abgeordneten im Verteidigungs- und Untersuchungsausschuss akzeptieren die Geheimhaltungsvorschrift und das Diktat der Militärs. Sie nutzen ihre Arbeit im Ausschuss, um der Regierung Unterstützung zu signalisieren und sich als staatstragende Partei anzubieten.
Niemand wagt es, das rechtswidrige Verhalten der verantwortlichen Militärführer zu untersuchen und sie wegen ihrer Aussageverweigerung oder ihrem schuldhaften Verhalten mit dem Strafrecht und Gefängnis zu konfrontieren.
In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe andeutete, sie werde aller Voraussicht nach kein Verfahren gegen Oberst Klein einleiten. Sie werde in absehbarer Zeit die Ermittlungen gegen Klein einstellen und sich dabei auf das Völkerrecht berufen. Demnach würde der Afghanistan-Einsatz als nicht-nationaler bewaffneter Konflikt eingestuft und in der Beurteilung des Bombardements müsste das "humanitäre Völkerrecht" angewandt werden. In dieser Rechtskategorie sei ein militärischer Schlag gegen Konfliktgegner zulässig. Zivilisten verlieren ihren Schutzanspruch vorübergehend, wenn sie sich - wie beim Tanklastzug - in eine Konfliktsituation begeben, heißt es in Pressemeldungen.
Mit anderen Worten: Das größte Kriegsverbrechen seit den Gräueltaten der Wehrmacht soll nicht gerichtlich verfolgt werden und wird damit zu einem wichtigen Schritt in der Stärkung des Militarismus.