Neonazi-Akten vernichtet – Verfassungsschutz-Präsident Fromm tritt zurück

Am Montag erklärte der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV), Heinz Fromm (SPD), seinen Rücktritt. Zuvor waren brisante Informationen über den nationalen Inlandsgeheimdienst ans Licht gekommen. Dieser hatte kurz nach dem Auffliegen der Neonazi-Terrorzelle NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) im vergangenen November Akten über V-Leute vernichtet, die im direkten Zusammenhang mit der rechtsextremen Szene in Thüringen standen.

Ein kurzer Rückblick: Am 4. November letzten Jahres wurden die beiden Neonazis Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos tot in einem Wohnmobil in Eisenach aufgefunden. Die Polizei sprach sofort von Selbstmord. Am gleichen Tag sprengte ihre mutmaßliche Komplizin Beate Zschäpe die gemeinsame Wohnung in Zwickau in die Luft. Alle drei werden verdächtigt, neun Migranten und eine Polizistin ermordet, sowie vierzehn Banken überfallen zu haben.

Am 8. November stellte sich Zschäpe der Polizei, zwei Tage später übernahm die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen. Am Tag darauf wurden beim Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln sieben Personalakten von V-Leuten der Behörde vernichtet.

Die betreffenden V-Leute waren von 1996/97 bis 2003 Teil der bislang geheimen „Operation Rennsteig“, eines gemeinsamen Projekts des bundesweiten sowie des thüringischen Verfassungsschutzes und des Militärischen Abschirmdienstes (MAD). Infiltriert wurde dabei vor allem der rechtsextreme „Thüringer Heimatschutz“ (THS), die Organisation also, in der zu dieser Zeit auch die drei späteren NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe agierten.

Wie die Frankfurter Rundschau berichtet, filterten die drei Geheimdienste aus einer Liste von 73 Namen von THS-Angehörigen, auf der sich auch Mundlos und Böhnhardt befanden, eine zweite Liste mit 35 Namen. Diese Personen sollten damals angesprochen werden, um sie für eine Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz zu gewinnen.

Mindestens acht V-Leute aus dem THS seien durch „Rennsteig“ gewonnen worden. Sechs von ihnen wurden vom BfV gelenkt, zwei vom Thüringer Landesamt, und mindestens ein V-Mann arbeitete mit dem Militärischen Abschirmdienst zusammen.

Schon vorher war bekannt, dass mehrere V-Leute mit den drei Rechtsterroristen in Kontakt waren. Tino Brandt war von 1994 bis 2004 V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes. Er hat in diesen Jahren 200.000 DM vom Geheimdienst erhalten, die er nach eigenen Angaben zum Aufbau des THS verwandte.

Ralf Wohlleben, der einzige neben Beate Zschäpe noch Inhaftierte, trat 1999 der NPD bei, gründete deren Jenaer Kreisverband und wurde zu dessen Vorsitzendem. Ab 2002 war er dann stellvertretender Vorsitzender der NPD Thüringen und deren Pressesprecher. Er soll dem Mörder-Trio eine Waffe und Munition verschafft haben. Nach Geheimdienstberichten aus dem Jahr 1998 habe er „unmittelbaren Zugang“ zu den drei Untergetauchten als deren „Kontaktperson“ gehabt.

Die Informationen, die bislang zu dem Fall vorliegen, werfen zahlreiche Fragen auf.

Nach Auskunft des bisherigen Verfassungsschutz-Präsidenten Fromm können die Akten „voraussichtlich nicht mehr in vollem Umfang rekonstruiert werden“. Dennoch versicherte er sogleich, die Informationen aus den besagten Akten seien nur von „nachrangiger Bedeutung“. „Sämtliche damals geworbenen V-Leute haben nicht zum ‚Nationalsozialistischen Untergrund‘ (NSU) berichtet“, zitiert ihn Spiegel Online.

Fromm behauptete, der Beamte, der die Akten schreddern ließ, habe „in einer dienstlichen Erklärung versichert, sich vor dem Vernichten von den fehlenden Kontakten zum Terror-Trio überzeugt zu haben“. Dass eine solche Erklärung das Papier nicht wert ist, auf dem sie geschrieben steht, liegt in der Natur der Sache. Wer sollte seine Aussage jemals überprüfen können?

Dieser hohe Beamte, ein Abteilungsleiter, hatte immer wieder behauptet, die Akten seien bereits im Januar 2011 in einer „konzertierten Aktion“ vernichtet worden, um Sperrfristen für persönliche Daten einzuhalten. Zudem hieß es in einem Schreiben an den Generalbundesanwalt, dass die Akten gar nicht vollständig gewesen, und einige V-Leute überhaupt nicht gelistet worden seien, – „aus operativen Gründen“, wie Spiegel Online zitiert.

Das entsprach offensichtlich nicht der Wahrheit. Die betreffenden Personalakten existierten bis zum 11. November 2011, also fast ein Jahr länger, als sie nach der angeblichen Sperrfrist überhaupt hätten existieren dürfen. Dann aber wurden sie vernichtet, gerade als der Fall NSU publik wurde.

Weil dies nun doch an die Öffentlichkeit gelangte, sah Verfassungsschutz-Präsident Fromm keine andere Wahl, als Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) um seine Entlassung zu bitten. Der 63-jährige Fromm wird zum 31. Juli in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Gegen den betreffenden Abteilungsleiter ist ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden.

Der jetzige Vorfall wirft ein bezeichnendes Licht auf Arbeit und Charakter des Verfassungsschutzes. Die Medien und alle Bundestagsparteien sprechen und schreiben erneut von „Pannen“, „Versäumnissen“ oder „Versagen“.

Tatsächlich aber drängt sich immer deutlicher der Verdacht auf, dass der Verfassungsschutz über seine V-Leute selbst in die Mordserie der Thüringer Neonazis involviert war; ob aktiv oder um die Täter zu decken, ist unklar.

Auf jeden Fall sind die Geheimdienste in der Vergangenheit zahlreichen Hinweisen auf eine neonazistische Terrorszene nicht nachgegangen. Mehrfach konnten die drei Mörder unter den Augen der Sicherheitsbehörden einer Verhaftung entgehen.

Die Frankfurter Rundschau berichtete Anfang der Woche, dass das BfV im März 2003 auch vom italienischen Inlandsgeheimdienst AISI konkrete Hinweise auf ein mögliches Netz rechter Terrorzellen in Deutschland erhalten habe.

Nach einem Treffen europäischer Neonazis im belgischen Waasmunster im November 2002, an dem auch italienische und deutsche Rechtsextremisten teilgenommen hatten, schrieb der italienische Geheimdienst an das BfV, dass italienische Neonazis berichteten, sie hätten bei vertraulichen Gesprächen „von der Existenz eines Netzwerks militanter europäischer Neonazis erfahren“, heißt es in dem Schreiben des AISI aus Rom. Dieses bilde eine „halb im Untergrund befindliche autonome Basis, losgelöst von offiziellen Verbindungen zu den einschlägig bekannten Bewegungen“, und sei in der Lage, mittels spontan gebildeter Zellen kriminelle Aktivitäten auszuführen.

Im Bundesamt wurden diese Hinweise aber offenbar nicht weiter verfolgt.

Wie nah die Geheimdienste an den drei Neonazi-Terroristen waren, oder ob sie womöglich mit einem oder mehreren der drei Mitglieder des NSU kooperierten, ist nach wie vor unklar. Denn alle Hinweise auf diese Spuren werden von den Behörden unterdrückt und den Medien und Bundestagsparteien nicht weiter verfolgt.

So hatte sich ein hessischer Verfassungsschützer bis kurz vor oder sogar während des Mordes an Halit Yozgat im April 2006 in einem Internetcafé in Kassel am Tatort aufgehalten. Nach der Tat war er geflüchtet. Die Polizei konnte ihn allerdings anhand der Computerdaten ausfindig machen. Die Herausgabe von Akten des Mannes, der selbst einen rechten Hintergrund hat, oder die Preisgabe seiner V-Leute in der rechten Szene verweigerte die Behörde.

Das neueste Beispiel ist eine Meldung des Boulevardblatts Berliner Kurier vom 29. Mai. Etwas mehr als eine Stunde, nachdem Zschäpe am 4. November 2011 ihre Wohnung in Zwickau in die Luft jagte, versuchte jemand sie anzurufen. „Das Pikante: Die anrufende Nummer ist im Sächsischen Staatsministerium des Inneren registriert. Wer aus der Behörde in Dresden wollte Zschäpe sprechen, – und vor allem warum?“ Das Blatt rief nach eigenen Angaben die Handynummer an, die Beate Zschäpe sprechen wollte „und erntete eisiges Schweigen auf der anderen Gesprächsseite“.

Auch aus dem Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestages (PKGr), das laut Gesetz die Geheimdienste überwachen soll, hört man kaum etwas. Dabei hat das Gremium, das sich aus sämtlichen Bundestagsfraktionen rekrutiert, weit reichende Befugnisse. Es ist dazu berechtigt, jede Dienststelle sämtlicher deutscher Nachrichtendienste zu betreten und Akteneinsicht zu fordern. Darüber hinaus kann es Mitarbeiter der Nachrichtendienste einer konkreten Befragung unterziehen.

Wolfgang Neskovic, seit 2005 als Abgeordneter der Linksfraktion im PKGr, weigert sich bis heute, mögliche Erkenntnisse des Gremiums zu veröffentlichen und beruft sich dabei auf die Geheimhaltungspflicht. Statt einer wirklichen Aufklärung darüber, wieweit der Staat und seine Geheimdienste in die rechtsextreme Szene verstrickt sind, fordert er die Geheimdienste selbst auf, sich dieser Fragen anzunehmen. „Alle Sicherheitsbehörden müssen sich mit ganzer Kraft an der glaubwürdigen Aufklärung von Versäumnissen beteiligen“, sagte er.

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