NSU-Prozess: Warum schweigt Zschäpe?

Die Hauptangeklagte im NSU-Prozesses vor dem Münchener Oberlandesgericht (OLG), Beate Zschäpe, muss ihre Pflichtverteidiger behalten. Am Mittwoch vergangener Woche hatte sie einem Polizeibeamten im Gerichtssaal gesagt, sie habe das Vertrauen in ihre drei Verteidiger verloren. Die Nachfrage des Vorsitzenden Richter Manfred Götzl bestätigte sie durch ein Nicken.

Da es sich bei Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm um gerichtlich bestellte Pflichtverteidiger handelt, kann Zschäpe sie nicht selbst entlassen. Die Entscheidung liegt beim Gericht. Richter Götzl forderte sie auf, eine schriftliche Erklärung zu den Umständen des Vertrauensverlustes zu geben, was Zschäpe mit Hilfe eines vierten Anwalts tat.

Die Süddeutsche Zeitung berichtet, Zschäpe habe vor allem kritisiert, dass ihre Verteidiger nicht alle Fragen an die Zeugen richteten, die ihr wichtig erschienen. „Entzündet hatte sich ihr Unmut offenbar an der Befragung des Zeugen Tino Brandt in der vergangenen Woche“, schreibt die Zeitung.

Tino Brandt baute als V-Mann des Landesamtes für Verfassungsschutz in Thüringen mit dem Geld der Behörde den „Thüringischen Heimatschutz“ (THS) auf, aus dem der NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) hervorging, der dann neun Menschen aus rassistischen Motiven und eine Polizistin ermordete, Banken überfiel und Bombenattentate auf Migranten verübte.

Unter der Überschrift „NSU-Trio bekam Geld vom Verfassungsschutz“ hat die Leipziger Volkszeitung über die Aussage von Brandt berichtet.

Durch einen Anruf aus der Szene habe er eine oder zwei Wochen nach dem Untertauchen erfahren, dass Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt geflohen seien. Er habe dann begonnen, Geld für die drei aufzutreiben, zunächst bei Stammtischen und auf einem Konzert. Die Spenden seien jedoch nach einiger Zeit versiegt, aber es habe weiter Geld gegeben, „das der Freistaat Thüringen gespendet hat. Sechs, sieben Mal so...“.

Er habe damit Zahlungen des Verfassungsschutzes an ihn gemeint, die für den NSU bestimmt waren, stellt die LVZ klar.

Auf die Nachfrage des Vorsitzenden Richters, ob das Geld tatsächlich ausdrücklich für die Weitergabe an das Trio bestimmt war, antwortete Brandt laut LVZ: „Soweit ich mich erinnere, war das direkt für die Weitergabe.“ An die genaue Summe und die konkrete Kontaktperson, an die er das Geld weitergegeben hatte, könne er sich nicht eindeutig erinnern, sagte Brandt in München.

Allerdings hatte er sich schon früher gebrüstet, dass er rund 200.000 Mark vom Verfassungsschutz erhalten und für den Aufbau rechtsradikaler Organisationen genutzt habe.

Das Gericht lehnte das Gesuch Zschäpes, die Bestellung der drei Pflichtverteidiger aufzuheben, am Dienstag ab, und der Prozess wird in unveränderter Form fortgesetzt.

Seit inzwischen rund 130 Prozesstagen schweigt die Hauptangeklagte Zschäpe auf Anraten ihrer Pflichtverteidiger und macht von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch. Es ist bemerkenswert, dass ihr Misstrauensantrag gegen ihre Pflichtverteidiger direkt nach der Vernehmung von Tino Brandt erfolgte. Es ist durchaus möglich, dass Zschäpe sprechen wollte. Zur Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz hätte sie sicherlich viel zu sagen.

Mittlerweile ist aktenkundig, dass die rechtsextreme Szene, der THS und der NSU, ohne die Unterstützung der verschiedenen Verfassungsschutzbehörden und Geheimdienste nicht die Entwicklung genommen hätte, die sie nahm. Die Feststellung dreier Richter am Bundesverfassungsgericht vor mehr als elf Jahren, die dann zur Einstellung des Verbotsverfahrens gegen die rechtsextreme und neonazistische NPD führte, gilt genauso für den THS, den NSU und vermutlich für die gesamte rechtsextreme Szene. Die drei Richter hatten erklärt, der Einfluss staatlicher Behörden auf die NPD sei so groß, dass „der Sache nach von einer Veranstaltung des Staates gesprochen“ werden müsse.

Mittlerweile ist bekannt, dass das Bundesamt (BfV) und die Landesämter für Verfassungsschutz (LfV), der Militärische Abschirmdienst (MAD) und das Berliner Landeskriminalamt (LKA) mindestens 24 V-Leute im direkten Umfeld des NSU platziert hatten.

Als im April 2006 in einem Kasseler Internetcafé der 21-jährige Halit Yozgat erschossen wurde, war Andreas Temme anwesend, V-Mann-Führer des hessischen Verfassungsschutzes. Wenige Stunden zuvor hatte er noch mit einem rechtsradikalen V-Mann, der sich in der Stadt aufhielt und Kontakte nach Thüringen hatte, telefoniert. Temme selbst sind rechtsradikale Ansichten nicht fremd. In seinem Heimatort nannte man ihn „Klein Adolf“, bei Hausdurchsuchungen fand man abgeschriebene Passagen aus Hitlers Buch „Mein Kampf“.

Die beiden NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hatten schon ab Mitte der 1990er Jahre Bekanntschaft mit der Polizei und den Geheimdiensten gemacht. 1995 sprach der militärische Geheimdienst MAD (Militärischer Abschirmdienst) Mundlos an, um ihn als Mitarbeiter und Informant zu gewinnen.

Im November 1997 observierte das Landesamt für Verfassungsschutz Thüringen Mundlos und Böhnhardt beim Kauf möglicher Bombenbauteile. Zwei Monate später durchsuchte die Polizei eine von Zschäpe gemietete Garage und fand eine funktionstüchtige Bombenwerkstatt. Böhnhardt war anwesend und konnte sich ungehindert in seinen Wagen setzen und wegfahren.

Anschließend tauchten die drei späteren Terroristen angeblich ab. Die Staatsanwaltschaft Gera hat noch im selben Jahr die Löschung von aufgezeichneten Telefonaten veranlasst, die Böhnhardt in den vier Wochen nach der Garagendurchsuchung führte.

Der Führer des rechtsextremen Musikvertriebs „Blood & Honour“ in Sachsen, Jan Werner, stand zumindest 1998 in engerem Kontakt zu den drei Untergetauchten. Carsten Szczepanski, V-Mann des brandenburgischen Verfassungsschutzes mit Decknamen „Piato“, in der NPD aktiv und wegen versuchten Mordes an einem Asylbewerber verurteilt, berichtete, dass Jan Werner persönlichen Kontakt zu Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe gehabt habe. Werner habe den Auftrag gehabt, „die Gesuchten mit Waffen zu versorgen“.

Werner wiederum stand in telefonischem Kontakt mit einem Handy, das laut dem Thüringer Untersuchungsbericht auf das sächsische Innenministerium registriert war. Am 25. August 1998, rund sieben Monate nach dem Abtauchen von Bönhardt, Mundlos und Zschäpe, schickte Werner seinem Kontaktmann im Innenministerium eine SMS: „Hallo, was ist mit den Bums.“ Haben Geheimdienste Waffen für Werner beschafft?

Im Untergrund halfen den drei Terroristen dann die jetzt neben Zschäpe vor dem OLG mitangeklagten Neonazis André Eminger, Holger Gerlach sowie der frühere NPD-Funktionär Ralf Wohlleben und Carsten S.. Aktenkundig ist, dass zahllosen Hinweisen auf den Aufenthaltsort der drei Terroristen niemals nachgegangen worden ist.

Inwieweit weitere Geheimdienst-Mitarbeiter und V-Männer mit den NSU-Terroristen in der Zeit zwischen 1998 und 2011 verkehrten, ist unklar. Wichtige V-Männer erhalten keine Aussagegenehmigung, viele Akten werden vorenthalten, sind geschwärzt oder geschreddert worden.

Als am 4. November 2011 Mundlos und Böhnhardt angeblich Selbstmord begingen, verschwand Zschäpe vier Tage lang. Am 8. November stellte sie sich in Jena der Polizei. Nur zwei Stunden später begann der Leiter des Referats „Beschaffung“ in der Abteilung für Rechtsextremismus im Bundesamt für Verfassungsschutz, Lothar Lingen, Akten zu sichten. Mit „Beschaffung“ ist die Beschaffung von Informationen, d. h., die Anwerbung von Rechtsradikalen als V-Männer gemeint. Schon am nächsten Tag gab Lingen die Vernichtung der ersten Akten in Auftrag. Allein im Bundesamt wurden bis zum 4. Juli 2012 insgesamt 310 Akten mit Tausenden von Dokumenten vernichtet.

Es ist völlig unmöglich, eine Grenze zwischen den Umtrieben der Rechtsradikalen und der Neonazis auf der einen Seite und der Rolle des Staates auf der anderen Seite zu ziehen.

Das mindert nicht die Verbrechen von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die höchst wahrscheinlich die Morde begangen haben. Auch Beate Zschäpe ist dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Doch es enthält einen wahren Kern, wenn der Vater von Uwe Mundlos vor Gericht beklagte, ohne den Verfassungsschutz und dessen Spitzel wäre sein Sohn nicht „in die rechte Szene abgerutscht“.

Die Rolle und Verantwortung des Staates und seiner Geheimdienste bei den NSU-Verbrechen sollen im Verfahren aber offensichtlich nicht thematisiert werden. „Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren“, sagte Klaus-Dieter Fritsche, von 1996 an Vizechef des Bundesverfassungsschutzes und später Staatssekretär im Bundesinnenministerium, vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages 2012. Inzwischen ist Fritsche zum Geheimdienstbeauftragten im Kanzleramt befördert worden.

Von welchem Staatsgeheimnis redet er? Wer gehörte und gehört alles zum Verfassungsschutz? Womöglich auch Beate Zschäpe? Im November 2011 schrieb die Leipziger Volkszeitung, Beate Zschäpe habe für den Geheimdienst in Thüringen gearbeitet. Der Hinweis stamme vom Landeskriminalamt Thüringen. Sie soll den Behörden Informationen über die rechte Szene verschafft, also als V-Frau gearbeitet haben. Dafür soll sie der Verfassungsschutz in Thüringen geschützt haben. In dieser Zeit habe Beate Zschäpe fünf Alias-Namen verwendet.

Der Verfassungsschutz Thüringens, der Tino Brandt großzügig finanzierte, widersprach dieser Darstellung. Es habe zwar Kontakt zu Beate Zschäpe gegeben und es sei erwogen worden, sie als V-Person anzuwerben, dies sei aber aufgrund ihrer Instabilität und ihres Drogenkonsums nicht möglich gewesen. Anfang April dieses Jahres erklärt ein Zeuge vor dem Münchener Gericht, der Zschäpe seit 1992 kannte und mit ihr kurze Zeit ein „Techtelmechtel“ hatte, Alkohol und Drogen seien „ein rotes Tuch“ für Zschäpe gewesen.

Fakt ist, dass Zschäpe schon im Sommer 1996 in mehreren Vernehmungen den Behörden Informationen aus der rechten Szene gegeben hat. „Ich möchte mit der Polizei zusammenarbeiten“, hatte sie am 5. August 1996 in der Kriminalinspektion Jena erklärt, dort wo sie sich dann 15 Jahre später stellte.

Fakt ist auch, dass Beate Zschäpe, nur etwa eineinhalb Stunden nachdem sie am 4. November 2011 ihre gemeinsame Wohnung in die Luft gesprengt hatte, von einem Diensthandy des sächsischen Innenministeriums angerufen wurde. Dort lag offensichtlich ihre Nummer vor. Sollte Zschäpe V-Frau sein, kann sie ihr Schweigen nicht brechen – ohne sich in Lebensgefahr zu begeben. Sie wäre nicht die erste Person, die seit Beginn des NSU-Prozesses unter mysteriösen Umständen ums Leben kommt.

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