Der Mord an dem russischen Oppositionspolitiker Boris Nemzow ist ein bedeutsames politisches Ereignis. Seine Ursache liegt im amerikanisch-russischen Konflikt und in dem heftigen Kampf, der auf höchster Ebene im russischen Staatsapparat tobt. Die Regierung Obama und die CIA sind wesentlich an der Eskalation dieses Konflikts beteiligt und arbeiten darauf hin, ihn im Sinne der globalen politischen und finanziellen Interessen des US-Imperialismus zu entscheiden.
Die Beziehungen zwischen den USA und Russland drohen endgültig zusammenzubrechen, was katastrophale Folgen haben könnte. Die Regierung Obama ist zu dem Schluss gelangt, dass Putin abgesetzt werden muss, weil der Kreml den Sturz des demokratisch gewählten ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch im letzten Jahr nicht als vollendete Tatsache hinnimmt und sich der vollständigen ökonomischen und militärischen Integration der Ukraine in den amerikanischen Einflussbereich widersetzt.
Insbesondere seit Russland 2013 den US-Kriegsplänen gegen Syrien in die Quere kam und dem NSA-Whistleblower Edward Snowden politisches Asyl gewährte, gilt Putins Verbleiben im Präsidentenamt als unvereinbar mit den geopolitischen Interessen der USA. So entschied man, durch internationalen politischen Druck, Wirtschaftssanktionen und verdeckte Operationen aller Art seine Absetzung herbeizuführen.
Ganz offensichtlich setzt die Regierung Obama darauf, dass sich in der russischen Elite eine Fraktion herausbildet, die, mit Unterstützung des Militärs und der Geheimpolizei, eine „Palastrevolution“ durchführen und Putin absetzen kann. Das persönliche Schicksal des russischen Präsidenten –ob es ihm ergehen wird wie Milosevic in Serbien, Ceausescu in Rumänien, Saddam Hussein im Irak oder Gaddafi in Libyen – wird dann von den Umständen seines Sturzes abhängig gemacht.
Jedenfalls würde Putin durch ein Staatsoberhaupt ersetzt, das einen Teil der Oligarchie vertritt und – als russische Version des ukrainischen Präsidenten und Milliardärs Petro Poroschenko – ganz auf amerikanischer Linie liegt. Es versteht sich von selbst, dass die US-Medien einen solchen Verlauf als „demokratische Revolution“ feiern würden.
Das Letzte, was die USA bewirken wollen, ist eine Massenbewegung der Bevölkerung. Ihr Handeln ist ganz darauf ausgerichtet, einen Teil der Oligarchie und der aufstrebenden kapitalistischen Klasse davon zu überzeugen, dass ihre Geschäftsinteressen und ihr persönlicher Wohlstand von der Unterstützung durch die USA abhängen. Eben deshalb hat die Regierung Obama Wirtschaftssanktionen gegen Einzelpersonen verhängt, um Druck auf die Oligarchen und größere Gruppen der führenden Unternehmer auszuüben.
Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist ein Gastkommentar von Garry Kasparow im Wall Street Journal vom Montag. Kasparow ist russischer Emigrant und spricht als Neokonservativer für die rechtesten und aggressivsten Putin-Gegner im außenpolitischen Establishment der USA. Aus dem Artikel geht hervor, dass die USA in engem Kontakt mit den russischen Eliten stehen und mit ihnen über den Sturz Putins und ähnliche Themen diskutieren. Kasparow ruft die Staatsführer des Westens auf, die Kreml-Führung wegen der Ermordung Nemzows als „kriminelles Schurkenregime“ zu behandeln. Der Westen, fordert er, solle die Verhandlungen mit Russland über die Situation in der Ostukraine abbrechen und das rechte Regime in Kiew sofort mit Waffen beliefern.
Abschließend appelliert er an die USA und die EU, den Druck auf die Oligarchen zu erhöhen, damit sie sich von Putin abwenden: „Macht den russischen Oligarchen klar, jedem einzelnen, dass ihr Geld nirgendwo in der westlichen Welt sicher ist, solange sie zur Putin-Regierung halten.“
Man muss die Ermordung Nemzows im Kontext dieses internationalen Machtkampfs einschätzen. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass seine privaten Geschäfte der Grund waren. Wahrscheinlicher aber ist ein politischer Mord. Auch der Zeitpunkt der Tat – am Tag vor der Anti-Putin-Demonstration in Moskau – weist eindeutig in diese Richtung.
Die Demonstration hat ebenfalls eine ganz bestimmte Bedeutung. Die Organisation solcher Demonstrationen, die einen Vorwand für einen Regimewechsel und die notwendige politische Begleitmusik dazu liefern, ist zu einer Art Spezialdisziplin der CIA geworden. Figuren wie Alexei Nawalny und andere Oppositionelle werden in den US-Medien als Führer einer „Demokratiebewegung“ gepriesen.
Für den Mord vom vergangenen Freitag gibt es zwei mögliche Erklärungen (mit jeweils unzähligen Variationen).
Die eine lautet, dass Nemzow – mit oder ohne Wissen des Präsidenten – von Kräften innerhalb der Putin-Fraktion getötet wurde, um diejenigen Angehörigen der Oberschicht zu warnen, die mit dem Gedanken spielen, Putin die Gefolgschaft aufzukündigen. Allerdings ist wenig plausibel, weshalb ein solches brutales Vorgehen das Regime stärken sollte.
Als zweite Möglichkeit kommen Vertreter der Anti-Putin-Fraktion für den Mord in Frage, die der angeblichen Demokratiebewegung einen Märtyrer bescheren wollen. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Kasparow in seinem Artikel im Wall Street Journal berichtet, dass er mit Nemzow taktische Differenzen hatte, wie gegen Putin vorzugehen sei, und dass Nemzow für mehr Zurückhaltung plädierte.
„Boris und ich waren 2012, nach Putins Wiederwahl zum Präsidenten, oft gegensätzlicher Meinung. In meinen Augen setzte sie allen Hoffnung ein Ende, mit friedlichen politischen Mitteln einen Regimewechsel herbeizuführen. Doch Boris blieb immer optimistisch. Ich sei zu ungestüm, sagte er, und ‚Veränderung in Russland dauert nun mal eine Ewigkeit‘. Er wird sie nun nicht mehr erleben.“
Diese Aussagen deuten auf erhebliche taktische Differenzen im Anti-Putin-Lager hin, das die Unterstützung der USA genießt. Vielleicht galt Nemzow als Hindernis für einen gewaltsamen Regimewechsel. In diesem Fall kann nicht ausgeschlossen werden, dass man seinen „Märtyrertod“ als probates Mittel im Kampf gegen Putin ansah.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Nemzow ist eine wichtige Figur, weil seine Karriere unter dem ersten postsowjetischen Präsidenten, Boris Jelzin, ihren Anfang nahm. Anfang der 1990er Jahre wurde er als Vertreter einer äußerst korrupten prokapitalistischen Kompradorenschicht bekannt, die das Vermögen des sowjetischen Staats zu Spottpreisen verschleuderte. Nemzow knüpfte enge Beziehungen zu amerikanischen Geschäftsleuten, und die US-Presse schwärmte für ihn.
Jelzin, völlig korrupt und dem Alkohol verfallen, kam überhaupt nicht auf die Idee, irgendwelche nationalen Interessen Russlands zu vertreten. Ob auf dem Balkan, in Osteuropa, im Nahen Osten oder Zentralasien, die USA konnten nach Belieben schalten und walten, ohne Widerstand von Russland befürchten zu müssen.
Auch Putin stieg während der Jelzin-Zeit auf, wenn auch später. Anders als Nemzow vertrat er offenbar Teile der ehemaligen staatlichen Geheimdienste, die über die ungenierte Preisgabe russischer Interessen durch Jelzin alarmiert waren. Unter Putins Führung kam es zu einer Neubelebung der traditionellen russischen Sehnsucht nach einem „starken Staat“.
Dies brachte Putin schließlich in Gegensatz zum amerikanischen und, nicht zu vergessen, europäischen Imperialismus. Putin wirbt um Unterstützung für seine nationalistisch-kapitalistische Agenda. Doch diese ist zutiefst reaktionär und politisch bankrott. Er verstrickt Russland damit ständig in geopolitische Konflikte, die seine ökonomischen und militärischen Ressourcen überfordern.
Hinzu kommt, dass die ausgeprägte Unzufriedenheit der Arbeiterklasse mit den Folgen der kapitalistischen Restauration – grassierende Armut und soziale Ungleichheit –zunehmen wird, je mehr sich die wirtschaftlichen Auswirkungen verstärkter militärischer Operationen bemerkbar machen. Und auch Putins momentane Verbündete in der Oligarchie, die unter dem Druck der Sanktionen ins Wanken geraten, bewerten ständig neu, welche Optionen ihnen bleiben.
Die russische Tragödie, Folge der Auflösung der Sowjetunion 1991, kann nur dann einen fortschrittlichen Ausgang finden, wenn sich die Arbeiterklasse zurückmeldet, ausgerüstet mit einem revolutionären sozialistischen und internationalistischen Programm. Das einzige Gegenmittel gegen die vergiftete Atmosphäre von Verschwörung und Gegenverschwörung, die die russische Politik derzeit beherrscht, ist eine Massenbewegung der Arbeiterklasse, die vom politischen Erbe der Oktoberrevolution inspiriert ist.
Gleichzeitig muss der unfassbaren Skrupellosigkeit des US-Imperialismus, dessen Vorgehen jederzeit in eine ausgewachsene nukleare Konfrontation mit Russland münden kann, ein Riegel vorgeschoben werden: durch den Aufbau einer neuen Massenbewegung gegen Krieg, die von der Arbeiterklasse angeführt wird und sich auf die Prinzipien des sozialistischen Internationalismus gründet.