Krankenhausstreik in Berlin

„Man muss sich freimachen von der Gängelung durch die Gewerkschaft“

Am zweiten Streiktag im Berliner Krankenhaus Charité zogen mehrere Hundert Krankenschwestern und Pfleger zum Gesundheitsministerium in Berlin-Mitte, um ihren Forderungen nach mehr Personal und einem Ende der Sparmaßnahmen Nachdruck zu verleihen. Am Montag hatte der unbefristete Ausstand an dem größten Universitätsklinikum Europas begonnen, nachdem 96 Prozent der Befragten in der Urabstimmung für Streik gestimmt hatten. 

Auffallend viele junge Pflegerinnen und Pfleger beteiligten sich mit teilweise selbst gemalten Plakaten und Transparenten. „Minimales Personal, maximales Risiko!“, „Come in and burn out“, „Wir wollen endlich mal wieder pflegen statt nur den Dienst zu überleben!!!“ und ähnliche Aufschriften demonstrierten die massive Arbeitshetze, die nach Jahren drastischer Kürzungspolitik in den Krankenhäusern entstanden ist.

Doch war die Demonstration und Kundgebung von einem Widerspruch geprägt: Während es unter den Beschäftigten großen Unmut über die rücksichtslose Sparpolitik des Managements und des Berliner Senats gibt und die Kampfbereitschaft groß ist, hat die Gewerkschaft Verdi den Arbeitskampf von vorneherein auf Sparflamme gesetzt und auf eine Berufsgruppe in diesem einen Krankenhaus beschränkt. Nach Verdi-Angaben beteiligen sich 600 Pflegerinnen und Pfleger von insgesamt 13.200 Beschäftigten des Krankenhauses.

Vielen Beschäftigten ist bewusst, dass Verdi für die miserablen Arbeitsbedingungen im Krankenhaus in hohem Maße mitverantwortlich ist. In den vergangenen Jahren hat die Gewerkschaft immer wieder Proteste und Streiks organisiert, nur um anschließend den Personalabbau in Zusammenarbeit mit dem Management und dem Senat durchzusetzen. Ihre Vertreter im Personalrat wurden bisher von der pseudolinken Gruppe SAV angeführt, die Mitglied der Linkspartei ist, und die diese enge Zusammenarbeit mit radikalen Phrasen und immer neuen, fruchtlosen Aktionen abgedeckt hat. Allerdings musste Verdi bei der letzten Personalratswahl deutliche Verluste hinnehmen, und ihr Personalratsvorsitzender Carsten Becker, Mitglied der SAV, wurde abgewählt. 

Umso lauter und radikaler tönten nun ihre Reden auf der Kundgebung. Carsten Becker, der in seiner Zeit als Personalratsvorsitzender an vielen Vereinbarungen über Sparmaßnahmen und Kürzungen beteiligt war, gab jetzt die Parole aus: „Wir streiken, bis wir bessere Bedingungen haben“.

Besonders radikal gebärdete sich Lucy Redler, ebenfalls SAV-Mitglied und Leiterin des sogenannten „Bündnisses für mehr Personal in Krankenhäusern“. Sie behauptete, dieser Streik habe die Gesundheitspolitik der Bundesrepublik erschüttert und sei ein politischer Streik. In Wahrheit ist genau das Gegenteil der Fall. Verdi versucht mit allen Mitteln eine politische Bewegung gegen die Bundesregierung zu verhindern. Die zahlreichen Streiks in den vergangenen Wochen und Monaten von Postbeschäftigten oder Erziehern hat sie daher immer so geführt, dass sie möglichst nicht zu einer größeren Bewegung zusammenkommen.

In einer Erklärung der World Socialist Web Site (WSWS), die Mitglieder der Partei für Soziale Gleichheit am Dienstag bei der Demonstration verteilten, heißt es dazu: „Mit dem gegenwärtigen Streik versucht Verdi, seinen verlorenen Einfluss zurückzugewinnen. Die Verdi/SAV-Funktionäre missbrauchen die Wut der Beschäftigten gegen die miserablen Arbeitsbedingungen, um ihre Macht im Unternehmen zu stärken und dem Management zu beweisen, dass die kommenden sozialen Angriffe am besten in der bewährten Zusammenarbeit mit Verdi durchgeführt werden können. Die wichtigste Aufgabe in diesem Streik besteht daher darin, eine ernsthafte Bilanz der vergangenen Auseinandersetzungen zu ziehen.“

Über das Flugblatt entwickelten sich viele Diskussionen.

Jonathan L., Student der Medizin an der Charité, sagte Reportern der WSWS: „Ich unterstütze den Streik voll und ganz. Es sind viel zu wenige Pflegekräfte in den Krankenhäusern eingesetzt. Ich bin zwar noch Student, aber wir sehen im Universitätskrankenhaus den Stress, dem die Pflegefachkräfte jeden Tag ausgesetzt sind.“

Kürzungen des Personals und verschärfte Arbeitsdichte gebe es auch in anderen Bereichen wie bei den Erzieherinnen in den Kitas, bei der Post. „Ich sehe da ganz klar einen Zusammenhang, das ist der Kapitalismus. Profiterwirtschaftung ist die Zielsetzung, nicht die Sorge um die Grundbedürfnisse der Bevölkerung.“

Jonathan L. ist besonders beunruhigt über die steigende Kriegsgefahr und Aufrüstung und ist deshalb Mitglied in der internationalen Organisation „Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges“ (IPPNW) geworden. „Die Krise in der Ukraine zeigt deutlich, in welcher Gefahr wir uns befinden“, sagt er und erzählt, dass seine Organisation eine Veranstaltung an der Charité zum Atombombenabwurf auf Hiroshima plant. „Es geht nicht nur um mehr Pflegekräfte, sondern um einen Kampf gegen das System.“ 

Kerstin (28 J.), Pflegefachkraft im Operationszentrum der Charité, unterstützt ebenfalls den Streik, kann aber selbst nicht daran teilnehmen, weil sie für Notoperationen zur Verfügung stehen muss. „Es ist immer auch ein persönlicher Konflikt, in dem ich mich selbst wie auch andere Pflegerinnen sehe, nämlich, dass man auf der einen Seite als Streikende kämpfen will, aber wir fühlen uns auch den Patienten verpflichtet.

So, wie es jetzt ist, kann es nicht weitergehen: Es gibt zu wenig Personal und mehr und mehr Überstunden. Die Belastung ist in den letzten Jahren immer weiter gestiegen. Ich habe mir sogar schon überlegt, in eine Privatklinik zu wechseln, die kleiner ist und einen geregelten Dienstplan hat, so dass meine Freizeit besser planbar wird, auch wenn ich dadurch vielleicht etwas weniger verdienen würde.“

Kerstin kritisierte, dass Verdi den Streik nur am Berliner Krankenhaus Charité führt, statt ihn auszuweiten auf andere Beschäftigte, die vor den gleichen Problemen stehen. „Ich glaube nicht, dass dieser Streik die gesetzten Ziele erreichen kann, weil er zu isoliert ist.“ Sie selbst ist als Mutter eines kleinen Kindes mit der Situation der Erzieher in der Kindertagesstätte konfrontiert. „Ich habe kürzlich mit anderen Eltern einen Brief an das Jugendamt geschickt, in dem wir mehr Personal für die Kita fordern“, berichtet sie. „Es gibt zwar drei Erzieherinnen für die insgesamt 25 Kinder, aber wenn eine Erzieherin auf Fortbildung ist und eine andere krank wird, dann werden die Kinder von einer einzigen Person betreut, was schon zu zweit eine nicht zu schaffende Aufgabe ist. Wir wurden auf ein Gespräch im September vertröstet.“

Rolf (69 J.), ehemaliger Pfleger am Charité-Krankenhaus Benjamin Franklin in Steglitz, kam zu Streikbeginn am Montag extra zur Charité, um den Streik zu unterstützen. „In den 80er Jahren lief es noch ganz gut,“ sagte er. „Dann stieg die Arbeitsbelastung immer weiter an. Wir mussten immer mehr Aufgaben mit übernehmen, die vorher von Ärzten erledigt wurden. Dazu kamen die vielen Überstunden. Die Belastung wurde schließlich so stark, dass ich selbst krank wurde und meinen Beruf nicht mehr ausüben konnte.“

Wie viele andere Beschäftigte fühlte er sich von der Gewerkschaft im Stich gelassen, „weil sie diesem wachsenden Stress am Arbeitsplatz nichts entgegengesetzt hat, sondern mit der jeweiligen Regierung, die damals der Arbeitgeber war, Arrangements und Kompromisse getroffen hat, die unsere Situation nur verschlechtert haben. Schließlich bin ich deshalb auch aus der Gewerkschaft ausgetreten. Man muss sich wirklich frei machen von der Gängelung durch die Gewerkschaft.“

Zwei Beschäftigte der Charité Facility Management (CFM), der ausgegliederten Reinigungs-, Catering- und Logistikdienste, wollten von der Gewerkschaft nichts wissen. Sie seien von Verdi nicht zum Streik aufgerufen worden, berichteten sie. Beiden war noch gut in Erinnerung, wie ihr Streik 2011 von der Gewerkschaft gegen die schlechten Arbeitsbedingungen und Löhne isoliert und ausverkauft wurde. Da man mit der Kürzungspolitik der Regierung konfrontiert sei, müsse man „ sich in ganz Deutschland zusammenschließen, um etwas zu erreichen“, so einer der beiden Arbeiter.

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