Weißbuch 2016: Ein weiterer Schritt zur Wiederbelebung des deutschen Militarismus

Am Mittwoch verabschiedete das Bundeskabinett das lange angekündigte „Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr”. Der 144-seitige Text löst das Weißbuch aus dem Jahr 2006 als offizielle außenpolitische Doktrin Deutschlands ab und ist ein weiterer Meilenstein der Rückkehr des Landes zu einer aggressiven Außen- und Militärpolitik.

Das neue Weißbuch steckt sich weitgehende Ziele: den Einsatz der Bundeswehr im Inneren, die Ausweitung von Auslandseinsätzen auch unabhängig von den Verbündeten der Nachkriegszeit, eine von Deutschland dominierte europäische Außen- und Verteidigungspolitik und eine massive Aufrüstung der Bundeswehr.

Im Abschnitt „Einsatz und Leistungen der Bundeswehr im Innern“ heißt es, dass „die Streitkräfte zur Unterstützung der Polizeikräfte bei der wirksamen Bekämpfung des Unglücksfalls unter engen Voraussetzungen auch hoheitliche Aufgaben unter Inanspruchnahme von Eingriffs- und Zwangsbefugnissen wahrnehmen können“.

Andres ausgedrückt: Das Verbot von Bundeswehreinsätzen im Innern sowie die Trennung von Polizei und Armee, die aufgrund der Erfahrungen im Kaiserreich, der Weimarer Republik und der Nazi-Diktatur im Grundgesetz verankert wurden, werden de facto aufgehoben. Diese Grundsätze sind zwar seit der Verabschiedung der Notstandgesetze im Mai 1968 immer wieder aufgeweicht worden, ein polizeilich-militärischer Einsatz der Armee war in Deutschland aber bislang verboten.

Auch der im Grundgesetz festgeschriebene Parlamentsvorbehalt wird weiter ausgehöhlt. Im Abschnitt „rechtliche Rahmenbedingungen“ im achten Kapitel des Weißbuchs heißt es, „die Zahl der Einsätze und Missionen, die ein verzugsloses und konsequentes Handeln erfordern“, hätten zuletzt zugenommen. Die „Praxis des Parlamentsvorbehalts“ habe sich zwar „bewährt“, aber „angesichts der gestiegenen sicherheitspolitischen Verantwortung Deutschlands“ müsse man in der Lage sein, einem Einsatz „bewaffneter deutscher Streitkräfte kurzfristig Rechnung zu tragen“.

Bereits das Vorwort aus der Feder von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verdeutlicht, dass sich Deutschland nach den Niederlagen in zwei Weltkriegen und Jahren der außenpolitischen Zurückhaltung wieder auf weltweite Militäreinsätze ohne Einschränkungen und auf kriegerische Auseinandersetzungen in Europa selbst vorbereitet.

Merkel schreibt: „Die Welt im Jahr 2016 ist eine Welt in Unruhe. Auch in Deutschland und Europa spüren wir die Folgen von Unfreiheit, Krisen und Konflikten in der unmittelbaren Nachbarschaft unseres Kontinents. Wir erleben zudem, dass selbst in Europa Frieden und Stabilität keine Selbstverständlichkeit sind.“

Die Schlussfolgerung der Kanzlerin: „Deutschlands wirtschaftliches und politisches Gewicht verpflichtet uns, im Verbund mit unseren europäischen und transatlantischen Partnern Verantwortung für die Sicherheit Europas zu übernehmen […]. Noch stärker als bisher müssen wir für unsere gemeinsamen Werte eintreten und uns für Sicherheit, Frieden und eine Ordnung einsetzen, die auf Regeln gründet.“

Die Beschwörung deutscher Größe und der Ruf nach mehr deutscher „Verantwortung“ und „Führung“ in Europa und der Welt zieht sich wie ein roter Faden durch das Weißbuch.

Gleich im ersten Kapitel heißt es unter dem Abschnitt „Deutschlands Rolle in der Welt und sicherheitspolitisches Selbstverständnis“: „Deutschland ist ein in hohem Maße global vernetztes Land, das aufgrund seiner wirtschaftlichen, politischen und militärischen Bedeutung, aber auch angesichts seiner Verwundbarkeiten in der Verantwortung steht, die globale Ordnung aktiv mitzugestalten.“

Deutschland werde „zunehmend als zentraler Akteur in Europa wahrgenommen“ und sei „bereit, sich früh, entschieden und substanziell als Impulsgeber in die internationale Debatte einzubringen, Verantwortung zu leben und Führung zu übernehmen“. Dazu gehöre „auch die Bereitschaft, zur Bewältigung heutiger und zukünftiger sicherheitspolitischer sowie humanitärer Herausforderungen beizutragen“.

Das dritte Kapitel mit dem Titel „Deutschlands strategische Prioritäten“ lässt keinen Zweifel daran, dass mit den „sicherheitspolitischen und humanitären Herausforderungen“ in Wirklichkeit die geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen des deutschen Imperialismus gemeint sind.

„Unsere Wirtschaft ist ebenso auf gesicherte Rohstoffzufuhr und sichere internationale Transportwege angewiesen wie auf funktionierende Informations- und Kommunikationssysteme. Die Sicherheit maritimer Versorgungswege und die Garantie der Freiheit der hohen See sind für eine stark vom Seehandel abhängige Exportnation wie Deutschland von herausragender Bedeutung.“ Deutschland müsse sich daher unter anderem „für die ungehinderte Nutzung der Land-, Luft- und Seeverbindungen ebenso wie des Cyber-, Informations- und Weltraums einsetzen.“

Ein Kernpunkt des Papiers ist das Streben nach einer stärkeren außenpolitischen Eigenständigkeit Deutschlands. Während das Weißbuch die „Vertiefung der europäischen Integration und Festigung der transatlantischen Partnerschaft“ beschwört, betont es auch: „Zugleich basiert unsere Handlungsfähigkeit im internationalen – besonders europäischen und transatlantischen – Verbund auf einer klaren nationalen Positionsbestimmung.“

Insbesondere „Ad-hoc-Kooperationen“ würden zukünftig „als Instrumente der internationalen Krisen- und Konfliktbewältigung weiter an Bedeutung gewinnen“. Deutschland werde „dieser Entwicklung Rechnung tragen und sich in solchen Fällen, in denen es seine Interessen auf diesem Weg schützen kann, an Ad-hoc-Kooperationen beteiligen oder diese gemeinsam mit seinen Partnern initiieren“.

Wo Deutschland zusammen „mit seinen Partner“ innerhalb der Nato oder im Rahmen einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik agiert, erhebt es den Anspruch auf mehr Führung. „Die Bedeutung des europäischen Pfeilers in der NATO wächst“, heißt es im Papier. Die europäischen Mitgliedstaaten seien „gefordert, mehr Verantwortung zu übernehmen – auch im Sinne einer ausgewogeneren Lastenteilung. Gerade Deutschland übernimmt hierbei besondere Verantwortung.“

Ausdrücklich begrüßt das Weißbuch „die neue, globale außen- und sicherheitspolitische Strategie der EU“, die von der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini auf dem ersten EU-Gipfel ohne britische Beteiligung am 4. Juli in Brüssel vorgestellt wurde. Diese werde „wesentlich dazu beitragen, die Handlungsfähigkeit der Union in ihren Außenbeziehungen zu stärken“. Deutschland habe „die Erstellung dieser neuen Strategie von Beginn an aktiv begleitet und unterstützt“.

Als erklärtes „Fernziel“ strebe „Deutschland eine gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion an“. Bereits „mittelfristig“ sei „ein ständiges zivil-militärisches operatives Hauptquartier und damit eine zivil-militärische Planungs- und Führungsfähigkeit“ von Nöten. Nur so könne Europa langfristig sein „politisches Gewicht wahren“ und die „sicherheitspolitischen Interessen der EU [...] angesichts der geopolitischen Verschiebungen und der weltweiten demographischen Entwicklungen“ durchsetzen.

Als zentrales Instrument der deutschen Außenpolitik soll die Bundeswehr personell und finanziell massiv aufgerüstet werden. Nach der bereits erfolgten Erhöhung der Militärausgaben für 2016 und 2017 bedürfe es „in den kommenden Jahren […] einer verlässlichen Verstetigung dieser Finanzlinie, um dem zunehmenden Bedarf für den Fähigkeitserhalt, der aufwachsenden aufgaben- und strukturgerechten Ausstattung sowie dem notwendigen Aufbau neuer Fähigkeiten bei Sicherstellung des Betriebes und der Personalausstattung Rechnung zu tragen“.

Parallel zur Militarisierung der Außenpolitik soll das gesamte zivile und gesellschaftliche Leben wieder auf Krieg vorbereitet werden. Im Abschnitt „Sicherheitsvorsorge und Resilienz als gesamtgesellschaftliche Aufgabe vorantreiben“ heißt es unter anderem: „Sicherheitsvorsorge ist nicht nur eine staatliche, sondern wird immer mehr zu einer gemeinsamen Aufgabe von Staat, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Ein gemeinsames Risikoverständnis ist die Grundlage für den Aufbau gesamtgesellschaftlicher Resilienz.“

Die Bundesregierung werde „die nationale Sicherheitsvorsorge umfassender ausrichten, indem sie Schutzziele fortlaufend identifiziert und anpasst; die Planungen zur zivilen Verteidigung (Aufrechterhaltung der Staats- und Regierungsfunktionen, Zivilschutz, Versorgung, Unterstützung der Streitkräfte) mit dem Ziel vorantreibt, Verfahren der Krisenbewältigung zu harmonisieren; einen gesamtgesellschaftlichen Dialog zu den Erfordernissen künftiger Sicherheitsvorsorge an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik institutionalisiert“.

Das Weißbuch 2016 ist der bisherige Höhepunkt einer regelrechten Verschwörung zur Wiederbelebung des deutschen Militarismus, die von Bundespräsident Gauck, Außenminister Steinmeier (SPD) und Verteidigungsministerin von der Leyen (CDU) auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 initiiert worden war. Wie schon beim Strategiepapier „Neue Macht – Neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch“, der ursprünglichen Vorlage für die neue deutsche Außen- und Großmachtpolitik, waren führende deutsche Journalisten, Akademiker, Militärs, Wirtschaftsvertreter und Politiker aller Bundestagsparteien an der Ausarbeitung beteiligt.

„Besonders hervorzuheben sind die zahlreichen Veranstaltungen von Parteien, Kirchen, Gewerkschaften und Verbänden, die unter dem Vorzeichen des Weißbuchs stattgefunden haben und deren Ergebnisse weitere Bausteine des Entstehungsprozesses waren,“ heißt es in einer offiziellen Veröffentlichung des Verteidigungsministeriums mit dem Titel „Wege zum Weißbuch“.

Loading