Perspektive

Syrien und die proimperialistischen Pseudolinken

Diese Woche verschärfte die amerikanische Militärführung ihre Kritik an dem amerikanisch-russischen Waffenstillstand. Ein einflussreicher außenpolitischer Analyst sprach sich in einer Stellungnahme gegen das Abkommen aus. Er bekräftigte die Forderungen der USA nach dem Sturz von Präsident Baschar al-Assad und befürwortete eine deutliche Eskalation der Nato-Intervention in Syrien, d.h. die Ausrüstung der islamistischen Opposition mit Flugabwehrraketen und anderen Waffen.

„Wie mittlerweile fast jeder sehen kann, ist das neue Waffenstillstandsabkommen in Syrien ebenso zum Scheitern verurteilt wie jedes andere Abkommen, welches das wichtigste politische Problem der Krise nicht lösen kann“, schreibt er. „Natürlich ist eine kurzzeitige Pause besser als gar nichts (obwohl der Waffenstillstand bisher hinsichtlich humanitärer Hilfe eine große Enttäuschung war). Doch in dem vom Krieg zerrütteten Land hat kein Waffenstillstandsabkommen eine Chance, das nicht den Rücktritt von Baschar al-Assad und den Übergang zu einer pluralistischen Regierung vorsieht.“

Er fügt hinzu: „Ohne ein Gleichgewicht der militärischen Kräfte in Syrien, welches das Assad-Regime und seine iranischen Unterstützer zu einem wirklichen Kompromiss zwingen würde, ist eine echte politische Einigung nicht möglich. ... Die Aufgabe, ein solches Kräftegleichgewicht zu schaffen, vor allem durch die Ausrüstung der syrischen Opposition mit Flugabwehrraketen, war seit 2012 einer der wichtigsten Streitpunkte in der Syrienpolitik der Obama-Regierung. Die Flugabwehrraketen könnten den Einsatz der syrischen Luftstreitkräfte, die die größte Zerstörung verursachen, beschränken.“

Man könnte glauben, dieser Essay wäre von einem CIA-Mitarbeiter oder vielleicht einem Kolumnisten des Wall Street Journal oder der New York Times verfasst worden. Tatsächlich wurde er von Gilbert Achcar geschrieben, dem bekannten Anhänger der französischen Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA). Achcar hatte diese Bewegung verlassen, um eine Professorenstelle an der School of African and Oriental Studies (SOAS) in London anzutreten, und sich der NPA-nahen britischen Gruppe Socialist Resistance angeschlossen. Sein jüngster Artikel, den er für das amerikanische Magazin The Nation geschrieben hatte, wurde auch auf der pablistischen Webseite International Viewpoint, die mit der NPA verbündet ist, veröffentlicht.

Während Achcar seinen Essay vorbereitete, veröffentlichte Ashley Smith von der amerikanischen International Socialist Organization (ISO) einen ähnlich aggressiven Kriegsaufruf auf der Webseite Socialist Worker. Smiths Meinung nach sollte der Waffenstillstand benutzt werden, um die von den USA unterstützten „revolutionären“ Milizen, die gemeinsam mit dem al-Qaida-Ableger al-Nusra-Front kämpfen, mit neuen Waffen zu versorgen. Er schrieb, der Waffenstillstand erlaube „den Revolutionären bestenfalls eine Atempause, um sich für einen künftigen Aufstand gegen das Regime neu zu sammeln.“

Smith griff die Obama-Regierung dafür an, dass sie nicht genug Interesse an einer großen Auseinandersetzung mit Russland zeige. Er kritisierte, dass Obama den angeblichen „Giftgasangriff“ im August 2013 nicht militärisch ausgenutzt hat, um Assad zu stürzen und die Opposition an die Macht zu bringen.

Obama habe „gezögert, diese Politik voranzutreiben, weil er befürchtete, in einen weiteren Bodenkrieg im Nahen Osten gezogen zu werden“. Smith erklärte weiter: „Wann immer das Assad-Regime vermeintliche ‚rote Linien’ überschritten hat, etwa den weiteren Einsatz von Chemiewaffen, zogen es die USA vor, sich mit Russland zu einigen, statt etwas zu tun, was Assad stürzen, aber auch zu einem noch größeren Aufstand führen könnte. Die USA haben sich außerdem geweigert, die FSA [Freie Syrische Armee] mit Waffen zu versorgen, um die letztere zur Verteidigung gegen die Luftangriffe des Regimes gebeten hatte.“

Smiths Vorwürfe gegen das Assad-Regime, es würde „unablässig zivile Ziele bombardieren“, sind vollkommen heuchlerisch und orientieren sich an den besonderen Bedürfnissen des amerikanischen Imperialismus. In seiner selektiven Empörung interessiert ihn nicht, dass Saudi-Arabien mit Unterstützung der USA den Jemen bombardiert und mit einer Blockade belegt hat. Der Krieg im Jemen hat bereits tausende Todesopfer gefordert, und Hunderttausenden Kindern droht der Hungertod. Smith hat trotzdem nichts über den Jemen geschrieben. Auch der Socialist Worker und der Rest der pseudolinken Presse ignorieren die dortigen Verbrechen.

Smith kümmert sich ebenso wenig um die religiös motivierten Massaker seitens der islamistischen Opposition in Syrien, die von den USA unterstützt wird, wie um die blutigen Kriege des US-Imperialismus selbst, die im Irak, in Afghanistan, Libyen und Syrien viel mehr Todesopfer gefordert haben, als die russische Intervention in Syrien.

Achcars und Smiths Artikel verwischen jede nennenswerte Unterscheidung zwischen den Positionen der führenden pseudolinken Tendenzen und der rücksichtslosesten Vertreter des amerikanischen und europäischen Imperialismus. Bezeichnenderweise beendet Achcar seinen Essay mit einer außergewöhnlichen Passage, in der er sich freundlich über Anthony Cordesman äußert, den Vorsitzenden des amerikanischen Thinktanks Center for Strategic and International Studies (CSIS).

Er schreibt: „Wenn der eine oder andere in der Region noch Illusionen in die demokratischen und humanitären Argumente hatte, auf die sich Washington in seinen früheren Kriegen berufen hat, haben sie diese inzwischen vollständig verloren. Wie Andrew Cordesman, einer der aufmerksamsten Beobachter der militärischen und politischen Lage im Nahen Osten, vor kurzem feststellte, ist der US-Präsident mittlerweile ausschließlich auf eine ‚Exit-Strategie‘ konzentriert – doch keinen Ausweg aus der Krise in Syrien, sondern sein eigenes Ausscheiden aus dem Amt.“

Achcars „aufmerksamer Beobachter“ ist einer der wichtigsten Strategen des amerikanischen Militarismus. Er hat unzählige Berichte verfasst, in denen für die Eskalation der US-Kriege im Nahen Osten und eine aggressive Politik gegen China und Russland geworben wird. Außerdem schrieb er einen Bericht des CSIS über einen möglichen Atomkrieg, in dem er die nukleare Zerstörung von Indien und Pakistan – und damit die Ermordung von hunderten Millionen Menschen – als wirtschaftlich unbedeutend abtut. In dem Papier heißt es: „Der Verlust von Indien und Pakistan mag zwar kurzfristig wirtschaftliche Probleme für Importeure von Waren und Dienstleistungen schaffen. Doch das Nettoergebnis wäre, dass andere Lieferanten Vorteile hätten, ohne dass es klare Probleme bei Ersatzlieferanten und Kosten geben würde.“

Aus Achcars Perspektive ist Cordesman ein Kollege, mit dem er auf freundschaftlicher Basis zusammenarbeiten kann. Sie haben die gleichen Ziele und die gleichen Feinde – dazu gehört jeder, der ihren Kriegskurs ablehnt.

Die Artikel von Achcar und Smith reflektieren jedoch nicht nur die Ansichten dieser beiden Individuen. Sie sind Ausdruck der Entwicklung sozialer Kräfte, die sich in den politischen Tendenzen widerspiegeln.

1999 schrieb David North, der Vorsitzende der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site:

„Die objektive Wirkungsweise und die sozialen Folgen des anhaltenden Aktienbooms haben den Imperialismus in die Lage versetzt, unter Teilen der oberen Mittelklasse eine neue, treue Gefolgschaft zu gewinnen. Das reaktionäre, konformistische und zynische geistige Klima, das in den USA und Europa vorherrscht – gefördert von den Medien und abgestimmt auf eine weitgehend servile und korrumpierte akademische Gemeinde – widerspiegelt die gesellschaftliche Einstellung einer äußerst privilegierten Bevölkerungsschicht, die nicht das geringste Interesse daran hat, dass die ökonomischen und politischen Grundlagen ihres neu erworbenen Reichtums kritisch hinterfragt werden.“ [A Quarter Century of War: The US Drive for Global Hegemony 1990-2016. Eine deutsche Übersetzung ist in Vorbereitung.]

Diese soziale Schicht und die politischen Strömungen, die ihre Interessen vertreten, sind scharf nach rechts gerückt. Achcars und Smiths Artikel zeigen, wie die pseudolinken Organisationen angesichts massiver Unzufriedenheit und wachsender Wut der Arbeiterklasse über die Kriegsentwicklung in die imperialistische Politik eingebunden werden, um dort eine wichtige Rolle zu spielen. Die Organisationen und Tendenzen, die Ende der 1960er und 1970ern die Antikriegsproteste angeführt hatten, sind mittlerweile schamlose Kriegsbefürworter. Arbeiter, Studenten und Jugendliche müssen diese Tatsache und die ihr zugrunde liegenden sozialen Prozesse verstehen, um eine neue Bewegung gegen die großen Gefahren aufzubauen, die der Menschheit drohen.

Der Kampf gegen imperialistischen Krieg erfordert die systematische politische Entlarvung der proimperialistischen Pseudolinken. Doch diese theoretische und politische Aufgabe ist untrennbar mit der politischen Organisation und Erziehung der Arbeiterklasse und der Jugend verbunden. In dieser gewaltigen sozialen Kraft liegt die Massenbasis für eine revolutionäre Widerstandsbewegung gegen Imperialismus und Krieg. Die Konferenz Socialism vs. Capitalism and War“ in Detroit, die von der Socialist Equality Party und den International Youth and Students for Social Equality einberufen wurde, markiert einen bedeutenden Schritt im Kampf für den Aufbau einer neuen Antikriegsbewegung. Wir rufen alle Leser und Unterstützer der World Socialist Web Site auf, am 5. November nach Detroit zu kommen und an dieser zentralen Veranstaltung teilzunehmen.

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