Nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle hat Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) am Montag alle Vorwürfe der jüdischen Gemeinde gegenüber der Polizei und den staatlichen Behörden zurückgewiesen.
Auf einer Sitzung des Innenausschusses stellte Stahlknecht der Polizei einen Persilschein aus, obwohl er einräumen musste, dass die Einsatzkräfte den rechtsextremen Terroristen Stephan Balliet über lange Zeit gewähren ließen. Erst konnte Balliet minutenlang unbehelligt versuchen, mit Waffengewalt in die vollbesetzte Synagoge einzudringen. Dann erschoss er, vor Eintreffen der Polizei, zwei Passanten. Bei einem anschließenden Schusswechsel mit der Polizei wurde er verletzt, konnte aber trotzdem in einem Auto mit plattem Reifen entkommen. Die hochgerüsteten Spezialkräfte der Polizei erklärten, sie hätten den flüchtigen Täter für eine Stunde „aus den Augen verloren“.
Direkt nach dem Anschlag hatten sowohl der Zentralrat der Juden in Deutschland als auch die Jüdische Gemeinde in Halle schwere Vorwürfe gegen die Polizei erhoben. Der Vorsitzende des Zentralrats, Josef Schuster, beschwerte sich am Tatabend: „Dass die Synagoge in Halle an einem Feiertag wie Jom Kippur nicht durch die Polizei geschützt war, ist skandalös.“
Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Halle, Max Privorozki, sagte noch unter dem Eindruck des versuchten Massakers in einem Interview: „Anstatt uns zu helfen, macht die Polizei immer etwas Anderes.“ Die Polizei sei auch zu spät vor Ort gewesen. Sie habe zehn Minuten gebraucht, nachdem Privorozki sie telefonisch über den bewaffneten Anschlag auf die Synagoge informiert habe. Auf den Wunsch nach Polizeischutz vor Synagogen in Sachsen-Anhalt habe man ihm geantwortet: „Alles ist wunderbar, alles ist super, alles ok.“
Innenminister Stahlknecht bezeichnete diese Aussage am Freitag als „falsche Tatsachenbehauptung“. Die Sicherheitsbehörden hätten sich nichts vorzuwerfen. Auf der Sondersitzung des Innenausschusses am Montag gab er ein polizeiliches Minutenprotokoll des Polzeieinsatzes bekannt. Der lange und detaillierte Bericht hatte nur eine Funktion: Das Vorgehen der Polizei zu rechtfertigen und Kritiker mundtot zu machen.
Die wirklichen Fragen wurden im Innenausschuss weder gestellt noch beantwortet.
Warum war am höchsten jüdischen Feiertag die Synagoge Halle nicht geschützt, obwohl dies bei jüdischen Einrichtungen in anderen Städten der Fall war und die jüdische Gemeinde in Halle mehr Schutz beantragt hatte?
In der Jüdischen Allgemeinen wird eine Augenzeugin des Attentats mit den Worten zitiert: „Die Gemeinde hat in der Vergangenheit immer wieder bei der Polizei darauf hingewiesen, dass die Beter Schutz brauchen. Die Antwort war jedes Mal nur: Es liegt keine akute Bedrohung vor. Hinzu kommt: Unser Sicherheitsmann ist kein ausgebildeter Sicherheitsmann, sondern ein Gemeindemitglied, das sich erklärt hat, die Synagoge so gut zu schützen, wie er es eben als Laie kann.“
„Wir hatten unfassbare Angst,“ schildert die Augenzeugin. „Die Tür besteht aus Holz und ist nicht sonderlich gesichert gewesen, wie man es etwa aus München oder Berlin kennt. Zudem waren wir unbewaffnet. Es ist ein Wunder, dass wir überlebt haben. Es war wirklich ganz, ganz knapp. Die Fenster sind aus normalem Glas, der Täter hätte nur hineinschießen müssen, schon wäre er drinnen gewesen und hätte ein Blutbad angerichtet. Zudem hat der Täter Molotowcocktails und, glaube ich, Handgranaten an den Türen befestigt. Wir können einfach nur von Glück reden, dass die nicht gezündet haben und die Sukka im Hof nicht Feuer gefangen hat.“
Innenminister Stahlknecht behauptete, die Einsatzkräfte hätten zügig und professionell gehandelt. Es sei schnell eine „Großlage“ der Polizei ausgerufen worden. Bis zu 740 Polizisten seien am Einsatz und an der Verfolgung des Täters beteiligt gewesen. Er bestätigte, dass die Polizei mit einer Maschinenpistole MP 5 auf den 27-jährigen Neonazi geschossen und ihn am Hals verletzt habe. Ob der Wagen des Täters bei diesem Schusswechsel oder bereits zuvor beschädigt wurde, sei unklar.
Fakt ist, dass der verwundete Täter in einem Fahrzeug mit plattem Reifen entkommen konnte, obwohl bewaffnete Polizeieinheiten bereits die Straße blockiert hatten. Erst nachdem er im 15 Kilometer entfernten Wiedersdorf zwei Menschen schwer verletzt und ein Taxi erbeutet hatte und erneut die Polizei alarmiert wurde, nahmen Polizisten die Verfolgung wieder auf.
Doch sie verloren ihn erneut, so dass er erst wieder 15 Minuten später von einem Streifenwagen gemeldet wurde, nachdem er einen Verkehrsteilnehmer gerammt hatte. Wenig später stieß er dann in einer einspurigen Baustelle frontal mit einem Lastwagen zusammen. Erst dann wurde Stephan Balliet von zwei lokalen Beamten der Kleinstadt Zeitz festgenommen.
Niemand im Innenausschuss stellte die Fragen: Wer war der Einsatzleiter der Polizei, der für die Sicherheit der Synagoge und den verschleppten Einsatz der Sicherheitskräfte verantwortlich war? Wer waren die Polizisten, die den Neonazi vor dem Döner-Imbiss in Halle stellten und wieder fahren ließen? Wer unter diesen Polizeibeamten ist AfD-Mitglied oder verkehrt in anderen rechtsradikalen Kreisen?
Dass die AfD unter Polizisten viele Mitglieder und Funktionäre hat ist inzwischen bekannt.
Ein Blick auf die Wahlliste, mit der die AfD gegenwärtig im benachbarten Bundesland Thüringen zur Landtagswahl antritt, ist eindeutig. Unter den Kandidaten befinden sich fünf Polizeibeamte, berichtet die Junge Welt und listet sie namentlich auf: „Torsten Czuppon (Sömmerda), Ringo Mühlmann (Erfurt), Sebastian Thieler (Elxleben), Ingo Zickler (Erfurt) und René Strube (Niedergebra).“ Angeführt wird die Kandidatenliste des AfD-Landesverbandes von Björn Höcke, seines Zeichens verbeamteter Lehrer. Der Aufforderung, sich von dem neonazistischen „Flügel“ Höckes zu distanzieren, sind die fünf AfD-Polizisten nicht nachgekommen.
Dass Innenminister Stahlknecht die Polizei in Halle verteidigt und gegenüber den Medien erklärte, der Polizei sei „ohne Wenn und Aber höchster Dank“ auszusprechen, sagt nichts über die wahre Rolle der Polizei, aber viel über die rechte Politik der Landesregierung, in der CDU, SPD und Grüne eng zusammenarbeiten.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung lobte Innenminister Stahlknecht und seine Verteidigung der Polizei. Sie schrieb: „Diese Einschätzung wird in Magdeburg parteiübergreifend geteilt.“ Der Grünen-Innenpolitiker Sebastian Striegel hätte geäußert, man müsse lediglich über Verbesserungen in Details sprechen, etwa bei der Bewältigung eines hohen Notrufaufkommens. Der SPD-Innenpolitiker Rüdiger Erben sagte nach der Sitzung des Innenausschusses, zusammenfassend lasse sich sagen, dass die Polizei vieles richtig und wenig falsch gemacht habe.
Die FAZ betont „selbst die oppositionelle Linken-Innenpolitikerin Henriette Quade“ sei zu dem Schluss gekommen, dass die Polizei „relativ zügig“ gehandelt habe und man ihr „keine grundsätzlichen Fehler“ vorhalten könne.