Thüringen: Von AfD gewählter Ministerpräsident kündigt Rücktritt an

24 Stunden nachdem er mit den Stimmen von AfD, CDU und FDP zum thüringischen Ministerpräsidenten gewählt wurde, hat der FDP-Politiker Thomas Kemmerich seinen Rücktritt angekündigt. Seine Fraktion habe beschlossen, „die Auflösung des Thüringer Landtags zu beantragen“, teilte Kemmerich am Donnerstagmittag auf einer Pressekonferenz mit. Falls es dafür nicht die nötige Zweidrittelmehrheit gebe, werde er einen Vertrauensantrag stellen.

Wird der Landtag aufgelöst, müssen innerhalb von 70 Tagen Neuwahlen stattfinden. In dieser Zeit könnte Kemmerich theoretisch Ministerpräsident bleiben. Stellt er einen Misstrauensantrag und verliert ihn, kann der Landtag innerhalb von drei Wochen einen neuen Ministerpräsidenten wählen. Der bisherige Amtsinhaber Bodo Ramelow (Die Linke) will in diesem Fall wieder antreten. Findet kein Kandidat eine Mehrheit zustande, finden ebenfalls innerhalb von 70 Tagen Neuwahlen statt.

Noch am Morgen hatte Kemmerich im ARD-Morgenmagazin Neuwahlen und einen Rücktritt ausgeschlossen. Doch dann wurde der Druck zu groß. Angesichts der enormen Empörung in der Bevölkerung wandte sich ein führender Politiker nach dem anderen von Kemmerich ab.

Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer drohte den thüringischen Parteifreunden mit Konsequenzen, falls sie mit Kemmerich zusammenarbeiten. Dies wäre ein Verstoß gegen die Parteilinie, die jede Kooperation mit der AfD ausschließe, „mit den entsprechenden Folgen“, sagte sie.

Bundeskanzlerin Angela Merkel meldete sich aus Südafrika zu Wort und forderte, die Wahl müsse rückgängig gemacht werden. Die CDU dürfe auf keinen Fall Teil einer Regierung unter Kemmerich werden. Seine Wahl habe mit der Grundüberzeugung gebrochen, „dass keine Mehrheiten mit Hilfe der AfD gewonnen werden sollen“.

FDP-Chef Christian Lindner, der von Anfang an in die Pläne der thüringischen FDP eingeweiht war und Kemmerichs Wahl anfangs begrüßt hatte, reiste am Donnerstag nach Erfurt, um ihn zum Amtsverzicht zu überreden.

Die SPD rief für Samstag den Koalitionsausschuss ein, der Konflikte innerhalb der Bundesregierung schlichtet. „Das war in Thüringen ein kaltes, abgekartetes Spiel“, sagte SPD Generalsekretär Lars Klingbeil Spiegel Online. Sowohl die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer wie der FDP-Vorsitzende Lindner hätten von den verschiedenen Szenarien gewusst. Bisher habe der Konsens gegolten, „keine Zusammenarbeit mit Nazis“. Der sei nun in Frage gestellt.

Es wäre allerdings eine Illusion zu glauben, damit sei die Zusammenarbeit mit der AfD erledigt. Die Kooperation mit der Partei des Faschisten Bernd Höcke in Thüringen war ein Testlauf, in den – wie Klingbeil korrekt bemerkt – die Parteispitzen eingeweiht waren. Sie wollten herausfinden, wie weit sie gehen können, und hielten sich vorsichtshalber im Hintergrund. Es ging darum, erste Breschen in das Kollaborationsverbot mit der AfD zu schlagen, die dann bei der nächsten Gelegenheit vertieft werden können.

Auch zu Beginn der 1930er Jahre hatte es nicht an Schwüren der bürgerlichen Parteien gemangelt, niemals mit den Nazis zusammenzuarbeiten. Doch das hinderte sie nicht daran, die Nazis (erstmals 1930 in Thüringen) in die Regierung zu holen, Hitler 1933 zum Reichskanzler zu ernennen und anschließend geschlossen für das Ermächtigungsgesetz zu stimmen, das seine Diktatur auch rechtlich zementierte.

Inzwischen ist klar, dass es in der CDU und der FDP starke Kräfte gibt, die bereits jetzt eine enge Zusammenarbeit mit der AfD befürworten. Burkard Dregger, CDU-Fraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus, nannte die Wahl Kemmerichs eine demokratische Entscheidung, die nicht zu kritisieren sei. Der frühere thüringische CDU-Ministerpräsident Bernhard Vogel empfahl seiner Partei, in Kemmerichs Regierung mitzuarbeiten. Und der ehemalige Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, bezeichnete die Wahl als „Riesenerfolg“. „Hauptsache, die Sozialisten sind weg“, sagte er.

Die SPD und die Linkspartei, die sich am lautesten über das Geschehen in Thüringen empören, bilden dabei keine Ausnahme. In den Reihen der SPD fanden und finden sich prominente Stichwortgeber der AfD, wie Thilo Sarrazin und Heinz Buschkowsky. In der Bundesregierung exekutiert die SPD die Flüchtlingspolitik der AfD. Es gibt nichts in ihrem Programm, was einer Zusammenarbeit mit der Partei Gaulands und Höckes grundsätzlich im Wege stehen würde. Generalsekretär Klingbeil hat bereits angekündigt, dass die SPD den starken Staat, „ein Staat, der handlungsfähig ist“, ins Zentrum ihre zukünftigen Wahlkämpfe stellen wird.

Die Linkspartei und ihr thüringischer Spitzenkandidat Bodo Ramelow sind politisch so weit nach rechts gerückt, dass sich der notorische Antikommunist und frühere Bundespräsident Joachim Gauck persönlich für eine Zusammenarbeit zwischen CDU und Linkspartei in Thüringen eingesetzt hat.

Selbst einige bürgerliche Kommentare sind sich im klaren, dass in Thüringen ein unwiderruflicher Rechtsruck der bürgerlichen Politik stattgefunden hat.

„Was Thüringen an diesem 5. Februar 2020 erlebt hat, ist nicht einfach eine Zäsur in der Geschichte dieses kleinen, im Grunde ja gar nicht so wichtigen Bundeslandes“, schreibt Die Zeit. „Es ist ein Vorgang, der gewaltige Auswirkungen haben wird auf vieles in der Bundesrepublik in den kommenden Monaten und Jahren: Es ist ein Dammbruch.“

Auch die Augsburger Allgemeine spricht von einem „Dammbruch“. Die Wahl Kemmerichs sei nur möglich gewesen, „weil sich die dortige CDU indirekt an die Seite von Höcke stellte, der 75 Jahre nach der Auschwitz-Befreiung das Berliner Holocaust-Mahnmal als ‚Denkmal der Schande‘ ansieht.“

Die Londoner Financial Times kommentiert: „Deutschlands politischer Nachkriegskonsens über die Ächtung rechtsextremer Parteien ist am Mittwoch zerrissen worden… Mit der Wahl von Thomas Kemmerich ist die AfD erstmals zu einem solchen Königsmacher in der deutschen Politik geworden.“

Und die polnische Rzeczpospolita meint: „Das schwarze Szenario der deutschen Eliten ist Realität geworden.“ Die Wahl in Thüringen sei „ein politisches Erdbeben, das nicht nur Berlin beunruhigen sollte, sondern auch Warschau“.

Was die etablierten Parteien an die Seite der AfD treibt, ist die tiefe Polarisierung der Gesellschaft, die Verschärfung des Klassenkampfs und die Rückkehr zum Militarismus. Die bürgerliche Herrschaft und der Kapitalismus lassen sich nicht mehr mit Demokratie vereinbaren. Die Gefahr des Faschismus kann nur durch die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms gestoppt werden.

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