Am Dienstag und Mittwoch gedachten die Spitzen von Staat und Politik in Deutschland der neun Menschen, die am 19. Februar in Hanau von einem rechtsextremen Rassisten erschossen wurden.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) sagte in Hanau, die Tat habe eine Vorgeschichte: „Eine Vorgeschichte der Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit Migrationsgeschichte, von Muslimen, von angeblich Fremden. Eine Vorgeschichte geistiger Brandstiftung und Stimmungsmache.“ Ja, es gebe „Rassismus in unserem Land – und das nicht erst seit einigen Wochen“.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) erklärte im Plenum des Bundestags, Hanau fordere „aufrichtige Selbstkritik der Politik. Solche Wahnsinns-Taten geschehen nicht im luftleeren Raum. Sie wachsen in einem vergifteten gesellschaftlichen Klima, in dem das Ressentiment gegenüber dem Fremden und abwegigste Verschwörungstheorien geschürt werden.“ Der Staat müsse sich „eingestehen, die rechtsextremistische Gefahr zu lange unterschätzt zu haben“.
Der Staat hat die rechtsextremistische Gefahr nicht „unterschätzt“, er hat sie systematisch geschürt und gefördert. Die geistigen Brandstifter, von denen Steinmeier sprach, sind er selbst, Schäuble und die führenden Vertreter aller Bundestagparteien. Und das wird sich ungeachtet aller scheinheiliger Reden nach Hanau auch nicht ändern.
Zu den Rednern auf der Gedenkveranstaltung im Bundestag zählte auch Innenminister Horst Seehofer (CSU), der nach dem Neonazi-Aufmarsch in Chemnitz vor zwei Jahren noch die Migrationsfrage zur „Mutter aller politischen Probleme in diesem Land“ erklärt hatte. Nun verkündete er, die größte Gefahr drohe derzeit in Deutschland von rechts. Die Bedrohungslage durch den Rechtsextremismus in diesem Land sei sehr hoch und könne durch nichts relativiert werden.
Doch Seehofer kam gerade aus Brüssel zurück, wo sich am Abend vorher die Innenminister der 27 EU-Staaten getroffen hatten, um der griechischen Regierung in ihrem Krieg gegen Flüchtlinge den Rücken zu stärken.
Die griechische Polizei und Armee gehen mit Tränengas, Blendgranaten und scharfer Munition gegen Zehntausende verzweifelte Männer, Frauen und Kinder vor, die versuchen, sich vor dem Krieg in Syrien und der angeheizten Lage in der Türkei in Sicherheit zu bringen. Die griechische Regierung ermutigt neonazistische Schlägertrupps, Flüchtlinge und Journalisten anzugreifen. Die Szenen, die trotz der systematischen Behinderung der Presse durch die griechischen Behörden über Augenzeugenberichte und Videoclips die Öffentlichkeit erreichen, sind an Grausamkeit kaum zu überbieten.
Die europäischen Innenminister haben sich nicht nur jeder Kritik an der griechischen Regierung enthalten; sie haben sich uneingeschränkt hinter ihre brutale Politik gestellt und sie ausdrücklich dafür gelobt. Seehofer tat sich dabei besonders hervor. „Griechenland erledigt für ganz Europa eine ganz wichtige Aufgabe, nämlich den Schutz unserer Außengrenzen,“ sagte er in Brüssel. Und dies mache das Land „sehr gut“.
Am Abend vorher hatte die Große Koalition im Bundestag mit den Stimmen von CDU, CSU und SPD einen Antrag der Grünen abgelehnt, 5000 besonders schutzbedürftige Flüchtlinge aus Griechenland – unbegleitete Kinder, Schwangere, alleinreisende Frauen, Alleinerziehende und schwer Traumatisierte – in Deutschland aufzunehmen.
Seehofer hatte in zahlreichen Interviews die Parole ausgegeben: „Erst Ordnung, dann Humanität.“ „Geordnete Verhältnisse“ an der europäischen Außengrenze seien die Voraussetzung für die Lösung humanitärer Probleme, erläuterte sein Sprecher. Solange die europäische Außengrenze ihre Funktion nicht erfülle, könne man keine Leute verteilen – noch nicht einmal schutzbedürftige Minderjährige.
Deutlicher könnte der Unterschied zwischen Schein und Sein, zwischen politischer Propaganda und Praxis nicht sein. Während die Spitzen von Staat und Regierung scheinheilig über das vergiftete Klima klagen, in dem der rechtsextreme Terror gedeiht, betreiben sie eine Politik, die das Kima erst vergiftet. Sie setzen das Programm der AfD in die Tat um und stärken so Rassisten und Neonazis.
Vor vier Jahren hatten die AfD-Politikerinnen Frauke Petry und Beatrix von Storch noch einen Sturm der Empörung ausgelöst, als sie öffentlich dafür eintraten, den Zugang von Frauen und Kindern nach Europa durch den Einsatz von Schusswaffen zu verhindern. Nun ist dies offizielle Regierungspolitik.
Seehofer und die anderen europäischen Innenminister haben sich nicht nur ausdrücklich hinter das brutale Vorgehen der griechischen Regierung gestellt, sie haben ein Bündel von Maßnahmen beschlossen, um sie bei der Abschottung der Grenzen zu unterstützen.
So werden sieben Patrouillenschiffe, zwei Hubschrauber, ein Flugzeug und drei Fahrzeuge mit Nachtsichtgeräten aus der EU an die Grenze zur Türkei verlegt und die 530 Frontex-Grenzschützer vor Ort um weitere hundert aufgestockt. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex soll außerdem ein Programm zur beschleunigten Abschiebung von Schutzsuchenden in ihre Herkunftsländer koordinieren. Zu diesem Zweck will die EU 160 zusätzliche Entscheider nach Griechenland schicken und mehrere hundert Millionen Euro investieren.
Führende Vertreter der EU hatten bereits am Dienstag die Grenzregion besucht und sich begeistert über das brutale Vorgehen der griechischen Sicherheitskräfte geäußert. „Wir waren gerade in der Grenzregion und haben gesehen, wie angespannt und schwierig der Lage ist,“ sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen anschließend auf einer Pressekonferenz. Sie bedankte sich ausdrücklich bei den griechischen Grenz- und Küstenschützern, den Zivilisten, der Polizei, den Militärangehörigen und bei Frontex für ihre „unermüdlichen Anstrengungen“.
„Wir sind heute hierhergekommen, um Griechenland in aller Deutlichkeit unsere Solidarität und Unterstützung zu zeigen,“ fuhr die frühere deutsche Verteidigungsministerin fort. „Oberste Priorität hat für uns die Aufrechterhaltung der Ordnung an der griechischen Außengrenze, die auch eine europäische Grenze ist. Ich verpflichte mich uneingeschränkt, die operative Unterstützung zu mobilisieren, die die griechischen Behörden benötigen.“
Ähnlich äußerte sich die Margaritis Schinas, der griechische EU-Kommissar für die Förderung des europäischen Lebensstils, wie sein offizieller Titel lautet. „Unter diesen außerordentlichen Umständen hat die Sicherung der Ordnung an unserer Außengrenze erste Priorität,“ sagte er. „Diese schwierige Aufgabe kann Griechenland nicht allein überlassen werden; sie ist die Verantwortung Gesamteuropas. Wir müssen unzweideutig zeigen, dass die Europäische Union als Ganze ihre Stärke einsetzt, um Mitgliedsstaaten zu unterstützen, die unter äußerem Druck stehen.“
Das brutale Vorgehen der Europäischen Union gegen Flüchtlinge kann nur im Zusammenhang mit der systematischen Vorbereitung auf Krieg und Diktatur verstanden werden, mit der die herrschende Klasse auf wachsende internationale Spannungen und soziale Konflikte reagiert.
Die sofortige Aufnahme einiger Zehn- der Hunderttausend Flüchtlinge wäre für die Europäische Union mit ihren 445 Millionen Einwohnern kein größeres Problem. Viele Aufnahmeeinrichtungen, die während der Flüchtlingskrise 2015 gebaut wurden, stehen leer. 140 deutsche Städte haben sich bereit erklärt, Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen. Allein in Berlin sind laut Sozialsenatorin Elke Breitenbach etwa 2000 Plätze in Einrichtungen des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten sofort verfügbar.
An der griechisch-türkischen Grenze wird an Flüchtlingen ein Exempel statuiert, das als Präzedenzfall für die Unterdrückung von sozialen Protesten und Klassenkämpfen dient. In Frankreich setzt die Polizei schon jetzt martialische Waffen gegen protestierende Gelbwesten und streikende Arbeiter ein, die zu zahlreichen schweren Verletzungen geführt haben.
Die Verteidigung der Flüchtlinge ist daher nicht nur eine Frage der elementaren Humanität und Solidarität, sie ist auch ein unverzichtbarer Bestandteil der Verteidigung demokratischer Grundrechte und des Kampfs gegen Rechtsextremismus.