Urteilsbegründung im NSU-Prozesses: Gericht schützt Neonazi André Eminger

Am 21. April veröffentlichte das Oberlandesgericht München die schriftliche Urteilsbegründung im NSU-Prozess – fast zwei Jahre nach der Urteilsverkündung und sieben Jahre nach Beginn des Prozesses. Seit der Festnahme der Hauptangeklagten Beate Zschäpe, die als Mittäterin bei zehn Morden und mehreren Sprengstoffanschlägen sowie wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und schwerer Brandstiftung zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, sind sogar achteinhalb Jahre vergangen.

Hätte das Gericht die schriftliche Begründung zwei Tage später vorgelegt, müsste der gesamte Prozess wegen Ablaufs der gesetzlichen Frist wiederholt werden. Erst jetzt können Staatsanwaltschaft und Verteidigung mit der Begründung der Revision beginnen, die beide gegen das Urteil eingelegt haben. Bis zum Abschluss des Revisionsverfahrens dürften weitere Jahre vergehen.

Der Prozess in München war vor allem durch die systematische Vertuschung der Rolle des Staates bei den NSU-Morden geprägt. Obwohl sich im Umfeld der drei Haupttäter mehrere Dutzend Spitzel und Beamte der Verfassungsschutzämter und der Polizeibehörden tummelten, blendeten die Bundesanwaltschaft und der Vorsitzende Richter Manfred Götzl in dem fünf Jahre dauernden Prozess die Rolle staatlicher V-Leute gezielt aus.

Das spiegelte sich auch im Urteil wieder. Beate Zschäpe, die einzige Überlebende der drei Haupttäter, erhielt eine lebenslange Freiheitsstrafe. Die vier Mitangeklagten, die eng mit der von V-Leuten durchsetzten Unterstützerszene verbunden sind, kamen mit einem blauen Auge davon.

Verwunderung löste insbesondere das milde Urteil für André Eminger aus, der gemeinsam mit seiner Frau 13 Jahre lang der engste Vertraute der drei NSU-Haupttäter war und ihnen durch zahlreiche Dienstleistungen das Leben im Untergrund ermöglichte. Statt zu zwölf Jahren wegen Beihilfe zum versuchten Mord, wie es die Bundesanwaltschaft gefordert hatte, wurde er wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu zweieinhalb Jahren verurteilt.

Eminger, der auf seinem Bauch die Worte „Die Jew Die“ (Stirb, Jude, stirb) tätowiert hat und sich auch während des Prozesses offen zu seinen neonazistischen Standpunkten bekannte, konnte den Gerichtssaal noch am Tag der Urteilsverkündung unter dem Jubel seiner anwesenden Neonazi-Freunde als freier Mann verlassen. In der Urteilsbegründung kann man nun nachlesen, mit welch haarsträubenden Argumenten das Gericht seine Milde gegenüber einem überzeugten Neonazi rechtfertigt.

Die Urteilsbegründung umfasst 3025 Seiten in sechs Aktenordnern, hinzu kommen weitere 44 Aktenordner mit Anträgen, Verfügungen und Protokollen. Das Gericht beschreibt darin akribisch die Morde, Raubüberfälle und Bombenanschläge des NSU. Es würdigt „Tausende Beweise und mehr als 600 Zeugenaussagen“, wie die Gerichtsautorin der Süddeutschen Zeitung, Annette Ramelsberger, schreibt.

Auch die Rolle von André Eminger wird darin laut Süddeutscher Zeitung ausführlich beschrieben. Er mietete den drei Neonazi-Freunden unter seinem Namen eine Wohnung an, machte für sie Einkäufe, besorgte ihnen Bahncards und gab ihnen seine Krankenkassenkarte, wenn sie einen Arzt benötigten. Vor allem aber mietete er dreimal für sie ein Wohnmobil, mit dem sie dann zu zwei Überfällen und dem Sprengstoffanschlag in der Kölner Probsteigasse fuhren. Eminger hatte Kontakte zur Kölner Neonaziszene.

Im Januar 2007 gab Eminger Zschäpe als seine Frau aus, als diese wegen eines Wasserschadens bei der Polizei aussagen musste. Nur dank seiner Hilfe konnten Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt weiter im Untergrund ihr Unwesen treiben. Die Polizistin Michèle Kiesewetter, die am 25. April 2007 in Heilbronn mutmaßlich vom NSU mit einem gezielten Kopfschuss getötet wurde, lebte da noch.

Nach dem Tod von Mundlos und Böhnhardt am 4. November 2011 rief Zschäpe ihren Freund Eminger an, nachdem sie die gemeinsame Wohnung in Brand gesteckt hatte. Dieser half ihr bei der Flucht, indem er sie zum Zwickauer Bahnhof fuhr und ihr Kleidungsstücke seiner Frau gab.

Trotzdem gelangt das Gericht zum Schluss, dass Eminger nichts von den Morden, Sprengstoffanschlägen und Raubüberfällen seiner Freunde wusste. Anfangs soll er die drei nicht wirklich gut gekannt haben. Er habe nur gewusst, dass bei ihnen Sprengstoff gefunden worden sei, dass Uwe Böhnhardt eine Haftstrafe drohe und dass sie deswegen untergetaucht seien.

„Diese Umstände sind jedoch kein Hinweis darauf,“ so das Gericht, „dass sie ihren Lebensunterhalt nach dem Untertauchen durch bewaffnete Raubüberfälle auf Geldinstitute bestritten.“ Ein konspiratives Leben im Untergrund sei nicht eng mit der Begehung von Raubüberfällen verknüpft.

Deswegen habe Eminger nicht damit rechnen können, dass seine drei Freunde die Wohnmobile, die er für sie mietete, zu Raubüberfällen und einem Anschlag verwenden würden. Das Mieten der Wohnmobile sei ein „alltägliches Geschäft“ für die Freunde gewesen.

Auch ihre gemeinsamen rassistischen Überzeugungen seien kein Grund für Eminger gewesen, nach den Aktivitäten seiner Freunde zu fragen. „Eine derartige lockere persönliche Beziehung in Zusammenschau mit ihrer ideologischen Verbundenheit eröffneten für den Angeklagten E. jedoch keine tief gehenden Einblicke in die Lebensumstände der drei untergetauchten Personen“, schreibt das Gericht.

Dem Neonazi mit dem auffälligen Brust-Tattoo, auf dessen Computer ein Handbuch für den Rassenkrieg gefunden wurde, sei „nur die verbal geäußerte Ausländerfeindlichkeit der drei Personen geläufig“ gewesen, so das Gericht. „Der Schluss, von diesen Äußerungen auf deren Bereitschaft, ihre Ausländerfeindlichkeit in die Tat umzusetzen und Menschen aus ausländerfeindlich-rassistischen Motiven zu töten, liegt fern und wurde vom Angeklagten E. daher auch nicht gezogen.“

Die Richter gelangen zum Schluss, „dass der Angeklagte E. bei lebensnaher Betrachtung davon ausgegangen ist, die drei würden ihren Lebensunterhalt aus grundsätzlich erlaubten und nicht schwerstkriminellen Quellen bestreiten“.

Man fragt sich, welche Lebensnähe das Gericht damit meint. Ist es „lebensnah“, dass drei fanatische Neonazis, die 13 Jahre lang im Untergrund leben und trotzdem über erhebliche Geldmittel verfügen, ihren Lebensunterhalt aus „grundsätzlich erlaubten Quellen“ bestreiten?

Der Grund für diese merkwürdige Ansicht ist woanders zu suchen. Gäbe das Gericht zu, dass Eminger über die mörderischen und kriminellen Aktivitäten von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe Bescheid wusste, würde sich sofort die Frage stellen: Wer wusste noch Bescheid?

In Wirklichkeit wusste nicht nur Eminger, sondern ein großer Teil der Neonazi-Szene von den Aktivitäten des NSU. Das Neonazi-Fanzine Der Weiße Wolf hatte sich schon 2002 beim NSU für eine Spende aus einem ihrer Raubüberfälle bedankt: „Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen ;-) Der Kampf geht weiter …“ Und die Neonaziband „Gigi & Die Braunen Stadtmusikanten“ hatte die Mordserie des NSU schon 2010 – bevor sie öffentlich bekannt wurde – auf ihrem Album „Adolf Hitler lebt!“ gefeiert. Und da die von V-Leuten durchsetzte Neonazi-Szene Bescheid wusste, wussten auch die Sicherheitsbehörden Bescheid.

Das absurd milde Urteil für Eminger ist nicht nur eine Botschaft an die rechtsextreme Szene, dass ihre gewalttätigen und menschenverachtenden Umtriebe ohne gravierende Konsequenzen bleiben, seine Verurteilung als NSU-Täter würde auch das gesamte Konstrukt des Gerichts von den drei Einzeltätern hinfällig machen.

Der Münchner NSU-Prozess diente von Anfang an nicht der Aufklärung, sondern der Vertuschung. Er sollte vor allem die Verstrickung des Verfassungsschutzes und anderer staatlicher Sicherheitsbehörden ausblenden. Daher hielt das Gericht an der These fest, der NSU habe lediglich aus den drei Tätern Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe bestanden. Eine Mittäterschaft Emingers oder anderer Angeklagter hätte diese Vertuschung gefährdet.

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