Schweden räumt deutlich höhere Covid-19-Todeszahlen ein

Das schwedische Gesundheitsamt gab am 28. April Zahlen heraus, die zeigen, dass die Anzahl der Todesopfer durch das Coronavirus unterschätzt worden war. Am 1. Mai stiegen die Gesamtinfektionszahlen in dem Zehn-Millionen-Land auf über 21.500. Außerdem sind 2.700 Tote zu beklagen.

Die Diskrepanz ist auf die Politik der Gesundheitsbehörde zurückzuführen, die Todesfälle nur nach einem positiven, von einem Labor bestätigten Covid-19-Test registriert. Das nationale Gesundheitsamt stellte jedoch fest, dass am 21. April nur 82 Prozent der Todesfälle, die es mit dem Coronavirus in Verbindung brachte, einen positiven Labortest ergaben. Geht man davon aus, dass dieser Unterschied in der ganzen letzten Woche fortbestanden hat, hätte es etwa 400 weitere Todesfälle durch das Virus gegeben, als von der Gesundheitsbehörde offiziell festgestellt.

Die Unterzeichnung der Todesfälle ist nicht durch einen Rechenfehler zu erklären. Sie ist das direkte Ergebnis der Strategie der schwedischen Regierung zum Erreichen einer „Herdenimmunität“. Im Gegensatz zu seinen skandinavischen Nachbarn und weiteren europäischen Ländern vermied Schweden eine allgemeine Abriegelung und verzögerte sogar für einige Zeit die Herausgabe begrenzter sozialer Distanzierungsrichtlinien. Versammlungen von bis zu 50 Personen sind nach wie vor erlaubt, und Geschäfte, Restaurants, Schulen und nicht lebenswichtige Betriebe aller Art bleiben geöffnet.

Menschen sitzen plaudernd in einem Stockholmer Restaurant, 4. April 2020 (AP Photo/Andres Kudacki)

Infolgedessen wurde die Bevölkerung einem rücksichtslosen Experiment ausgesetzt, das einige Wissenschaftler mit „russischem Roulette“ gleichsetzen. Selbst wenn man die niedrigere offizielle Zahl der Todesopfer zum Vergleich heranzieht, übertrifft die Todesrate in Schweden die der Nachbarländer dramatisch. In Norwegen zum Beispiel, dessen Bevölkerung etwa halb so groß ist wie die Schwedens, wurden bisher 7.760 Infektionen und 210 Todesfälle registriert. Schweden hat somit pro Kopf der Bevölkerung eine mehr als sechsmal höhere Sterbeziffer als sein Nachbarland.

Die Weigerung, strenge soziale Distanzierungsmaßnahmen durchzusetzen, bringt das Gesundheitssystem an seine Grenzen. Johanna Sandwall, Krisenmanagerin beim Nationalen Gesundheitsamt, erklärte am 28. April bei der täglichen Pressekonferenz, dass die Intensivstationen im ganzen Land noch 30 Prozent freie Kapazitäten aufwiesen. Sie räumte jedoch ein, dass es in einigen Bereichen keinerlei Kapazitätsreserven mehr gebe. Auf die Frage, wo diese Kapazitäten seien, gab sie keine Antwort.

Stockholm ist mit fast 8.000 Fällen und mehr als der Hälfte aller Todesfälle in Schweden die am stärksten betroffene Region. Das Virus grassiert besonders in den Altenpflegeheimen der Hauptstadtregion.

In einer aufschlussreichen Bemerkung begründete der staatliche Epidemiologe Anders Tegnell, Leiter der täglichen Covid-19-Briefings, die Strategie Schwedens damit, dass es notwendig sei, eine kontrollierte Verbreitung des Virus zu erreichen, anstatt zu verhindern, dass es die Öffentlichkeit infiziert. Obwohl er behauptet, dass die Behörden nicht bewusst eine Politik der „Herdenimmunität“ verfolgten, ist das die Logik dieses Ansatzes.

In der vergangenen Woche sah sich die Gesundheitsbehörde gezwungen, einen eklatanten Fehler in ihren Zahlen zu korrigieren. Tegnell behauptete am 20. April, Stockholm sei nur noch Wochen von einer „Herdenimmunität“ entfernt, und behauptete, ein Drittel der Bevölkerung der Region sei bereits infiziert. Einige Tage später revidierte die Gesundheitsbehörde diese Zahl auf 26 Prozent herunter, was angesichts des Mangels an Coronavirus-Tests immer noch höchst spekulativ bleibt.

Experten haben am Umgang der Regierung mit der Krise erhebliche und wachsende Kritik. Am 12. April veröffentlichten 22 Wissenschaftler aus zahlreichen Forschungsinstituten und Universitäten einen Artikel in der Zeitung Dagens Nyheter, in dem sie die Schließung aller Cafés und Schulen forderten. Anhand von Daten aus den drei Tagen vor dem Osterwochenende zeigten sie die Auswirkungen des Versäumnisses der Regierung, entschiedene Maßnahmen zu ergreifen. Am 9. April schrieben sie: „Täglich sterben in Schweden 10,2 Menschen pro einer Million Einwohner an Covid-19, in Italien waren es 9,7, in Dänemark sind es 2,9, in Norwegen 2,0 und in Finnland 0,9.“

Darüber hinaus forderte der Artikel die Bereitstellung geeigneter Schutzausrüstung für Beschäftigte im Gesundheitswesen, die mit älteren Menschen zu tun haben, sowie Massentests für medizinisches Personal.

Das Versäumnis der Behörden, solche Maßnahmen umzusetzen, hat schreckliche Folgen. Das zeigte sich letzte Woche, als eine 39-jährige Krankenschwester starb, nachdem sie sich bei einem Patienten des Karolinska-Universitätskrankenhauses in Huddinge mit Covid-19 infiziert hatte.

Sonja Aspinen, eine Altenpflegerin in Nynäshman, südlich von Stockholm, sagte, der Mangel an Ausrüstung habe dazu beigetragen, das Virus in den Pflegeheimen zu verbreiten. „Es fehlt der Wille, uns systematisch zu testen, zumindest an den Orten, an denen ich bisher gearbeitet habe. Selbst dort gab es Menschen mit Symptomen, aber sie wurden nicht getestet“, sagte sie Euronews.

Der sozialdemokratische Premierminister Stefan Löfven räumte ein, dass „die Vorbereitung auf die Pandemie mangelhaft gewesen sei“, machte jedoch frühere Regierungen dafür verantwortlich, dass ein Mangel an Ressourcen im Gesundheits- und Sozialwesen besteht.

Die rechte Regierungskoalition, die zwischen 2006 und 2014 unter der Führung von Frederik Reinfeldt regierte, hat zweifellos viele rückschrittliche Reformen durchgeführt, darunter eine enorme Ausweitung der Beteiligung des Privatsektors an öffentlichen Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheitsversorgung. Es ist jedoch zynisch, wenn Löfven und die Sozialdemokraten jetzt ihre Hände in Unschuld waschen und die Verantwortung für das Anwachsen der Ungleichheit und die Dezimierung der öffentlichen Dienste von sich weisen. Die sozialdemokratisch geführte Regierung von Göran Persson war maßgeblich daran beteiligt, zwischen 1995 und 2006 die Grundlage für die Privatisierungsbemühungen der Rechtsallianz herzustellen.

Nach der Wirtschaftskrise von 2008 schloss Löfven als Chef der mächtigen Gewerkschaft IF Metall mit den schwedischen Arbeitgebern eine Vereinbarung, um kürzere Arbeitszeiten und Lohnkürzungen durchzusetzen. Anders Weihe, Chefunterhändler des schwedischen Arbeitgeberverbandes für die Industrie, äußerte sich damals zustimmend über Löfven: "Er sucht keinen Streit und keine Konflikte, sondern Lösungen".

2014 verlor Löfvens sozialdemokratisch geführte Koalition mit den Grünen ihre Mehrheit. Um an der Spitze einer Minderheitsregierung an der Macht zu bleiben, schloss Löfven einen Pakt mit vier Bündnismitgliedern – den Moderaten, der Zentrumspartei, den Liberalen und den Christdemokraten. Der Pakt sah vor, dass die Sozialdemokraten den Bündnishaushalt 2015 durchsetzten. Er gab den rechten Parteien ein Vetorecht bei späteren sozialdemokratischen Ausgabenplänen. Dieser reaktionäre Schritt, der einen entscheidenden Rechtsruck in der schwedischen Politik bedeutete, wurde als notwendig dargestellt, um den Aufstieg der rechtsextremen Schwedendemokraten zu blockieren.

Nach den Parlamentswahlen 2018 ging Löfven noch einen Schritt weiter. Er einigte sich mit der Zentrumspartei und den Liberalen, damit sie ihn als Ministerpräsidenten wählten.

Angesichts dieser Bilanz ist es kein Wunder, dass das Hauptaugenmerk von Löfvens Regierung in der Coronavirus-Krise darauf liegt, den Reichtum der schwedischen Banken und des Großkapitals zu schützen. Die Regierung hat ein Paket von Steuerstundungen in Höhe von 300 Milliarden Kronen (27 Milliarden Euro) für das Großkapital geschnürt, während die schwedische Zentralbank ein Kreditprogramm in Höhe von 500 Milliarden Kronen für Unternehmen einführte. Die Zentralbank hat die Zinssätze für Investoren auf Null gesenkt.

Die überwiegende Mehrheit der Kredite dient nicht der Unterstützung kleiner Unternehmen, sondern ermöglicht es Großunternehmen, sich auf Kosten der Arbeiterklasse umzustrukturieren. Ein typisches Beispiel ist die Scandinavian Airlines, die sich teilweise im Besitz der schwedischen und dänischen Regierung befindet. Nur zwei Wochen, nachdem Stockholm einen Rettungsfonds in Höhe von 455 Millionen Euro für Fluggesellschaften vorgestellt hatte (davon mehr als 200 Millionen Euro für Scandinavian Airlines), gab das Unternehmen Pläne zur Entlassung von 1.900 Vollzeitbeschäftigten in Schweden bekannt. Der Stellenabbau ist Teil eines umfassenderen Kostensenkungsprogramms, das den Abbau von 4.900 Arbeitsplätzen in ganz Skandinavien vorsieht.

Am 14. April prognostizierte das Arbeitsamt, dass die Arbeitslosigkeit bis zum Sommer 10 Prozent erreichen könnte. Dies würde die Arbeitslosenquote von 8,6 Prozent übertreffen, die 2010 infolge der globalen Finanzkrise erreicht wurde.

Die Entlassungswelle wurde durch die Gewerkschaft Unionen erleichtert, die im März eine Vereinbarung mit dem Verband schwedischer Unternehmen (Confederation of Swedish Enterprise) schloss. Die Vereinbarung erlaubt es den Arbeitgebern, die Arbeitszeit von rund 500.000 Arbeitern zu kürzen oder befristete Entlassungen zu verhängen. Die Vereinbarung beruht darauf, dass die Regierung bis zu 90 Prozent des bisherigen Lohns eines Arbeiters zahlen soll. Der Anstieg der Entlassungen zeigt jedoch, dass die Unternehmen dieses System vor allem zur Umstrukturierung ihrer Betriebe nutzen.

Einer der größten Arbeitgeber, der dieses Programm in Anspruch nimmt, ist der Lkw-Hersteller Volvo, der Ende März alle seine 20.000 Beschäftigten in das befristete Entlassungsprogramm aufgenommen hat.

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