Die Covid-19-Pandemie und der Klassenkrieg in Europa

Wir veröffentlichen hier die Rede, die Alex Lantier auf der Online-Maikundgebung 202gehalten hat. Zu deKundgebung hatten die World Socialist Web Site und das Internationale Komitee der Vierten Internationale am 2. Mai eingeladen. Alex Lantier ist Gründungsmitglied der Parti de l’égalité socialiste in Frankreich.

Liebe Genossen und Freunde, ich freue mich, diesem internationalen Treffen brüderliche Grüße von der Parti de l‘égalité socialiste (Sozialistischen Gleichheitspartei) Frankreichs überbringen zu dürfen.

Kaum drei Monate sind vergangen, seit die ersten Fälle von Covid-19 in Europa aufgetreten sind. Aber schon jetzt hat Europa massiven und bleibenden Schaden genommen. Rund 1,5 Millionen Fälle sind hier bestätigt. Hunderttausende weitere Menschen sind infiziert. Sie werden in den offiziellen Statistiken nicht erfasst, weil sie zu Hause oder in Pflegeheimen erkranken und sterben. Über 130.000 Menschen sind in Europa gestorben, und Millionen trauern um sie.

Die Maßnahmen, die zur Eindämmung von Covid-19 notwendig waren, haben die europäische Wirtschaft zum Erliegen gebracht. Über 11 Millionen Arbeiter in Frankreich, 10 Millionen in Deutschland und 9 Millionen in Spanien haben ihren Job verloren oder sind in Kurzarbeit. Das ist ein Vielfaches mehr als nach dem Börsencrash von 2008. Millionen Kleinunternehmen sind in ihrer Existenz bedroht. Europa steht vor der tiefsten Wirtschaftskrise seit der Depression der 1930er Jahre, die in den Zweiten Weltkrieg mündete.

Die Rede von Alex Lantier beginnt bei Minute 1:02:57 im Video.

Diese historische Krise hat bloßgelegt, welch üble Politik die europäische Kapitalistenklasse und die Finanzaristokratie betrieben haben. Seit 2008 haben die Regierungen und Zentralbanken Europas mehr als vier Billionen Euro an öffentlichen Geldern in die Banken gepumpt. Den Arbeitern und den sozialen Diensten dagegen wurden verheerende Sparmaßnahmen auferlegt.

Die öffentlichen Gelder flossen nicht in den Kauf von Schutzmasken oder Beatmungsgeräten. Sie wurden auch nicht zur Finanzierung wissenschaftlicher Forschung verwendet. Das Geld wurde ausgegeben, um Großinvestoren faule Schuldtitel abzukaufen und um Kriege zu finanzieren.

Was ist nun das Ergebnis? Das heutige Massensterben, das hätte vermieden werden können, ist nicht nur eine Folge der Natur, sondern vor allem der Klassengesellschaft. In ganz Europa, wo sich viele der reichsten Länder der Welt befinden, sind keine Schutzmasken und andere wichtige medizinische Güter zu bekommen. Dafür muss das medizinische Personal teuer bezahlen. 20 Prozent der Kranken in Spanien und 10 Prozent in Italien, also über 60.000 Menschen allein in diesen beiden Ländern, sind Beschäftigte im Gesundheitswesen.

Die Europäische Union hat die am schlimmsten betroffenen Länder sich selbst überlassen: Berlin und Paris weigerten sich, Masken und andere medizinische Ausrüstung nach Italien oder in andere Länder zu exportieren.

Was einen Impfstoff gegen das Coronavirus betrifft, so muss die Arbeit praktisch bei Null anfangen, obwohl die Wissenschaftler seit der SARS-Epidemie 2002 darauf drängen. „Die meisten Projekte, die wir über das Virus hatten, waren auf Standby“, so ein französischer Wissenschaftler. Der Grund war mangelnde Finanzierung. Diese Fehlentscheidung kostet heute nicht Tausende von Euro, sondern Tausende von Menschenleben.

Die Europäische Union und der europäische Kapitalismus sind wirtschaftlich, politisch und moralisch am Ende. Die Arbeiterklasse muss nun einen Kampf an zwei Fronten führen: den Kampf gegen Covid-19 und den Klassenkampf.

Erstens bilden die unterdrücktesten Arbeiterschichten die vorderste Front gegen das Virus. Konzernchefs und Akademiker haben sich auf ihre Landsitze oder in ihre geräumigen Wohnungen in wohlhabenden Vierteln zurückgezogen. Aber Lkw-Fahrer, Lieferanten und Pfleger arbeiten weiter. Diese unentbehrlichen, aber schlecht bezahlten Arbeiterinnen und Arbeiter sind einer hohen Infektionsgefahr ausgesetzt. Sie leben oft unter beengten Verhältnissen in Vierteln, die aufgrund der hohen Infektionsrate als „rote Zonen“ eingestuft werden.

Zweitens bereitet die Pandemie einen neuen Ausbruch des Klassenkampfs vor. Bereits Anfang März hatten spontane Massenstreiks von Stahlarbeitern, Autoarbeitern und anderen Beschäftigten in Italien die Regierungen gezwungen, die Betriebe zu schließen, so, wie es die Gesundheitsbehörden verlangten.

Aber die Bourgeoisie hält an ihrer kriminellen Politik fest. In Berlin erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung sich mit dem Coronavirus infizieren würden. Die britische Regierung bezeichnet dieselbe finstere Theorie als „Herdenimmunität“.

Die Europäische Union führt eine Kampagne für die Rückkehr an die Arbeitsplätze, die von allen europäischen Regierungen unterstützt wird. Dabei wütet die Pandemie weiter. Täglich gibt es über 20.000 neue Fälle in Europa. Die Zahl der Neuinfektionen und der Todesfälle wird also unweigerlich steigen.

Gleichzeitig haben die Europäische Zentralbank und die EU Billionen Euro zur Rettung der Banken bereitgestellt. Um diese Flut an fiktivem Kapital zu finanzieren, muss Profit aus der Arbeiterklasse gepresst werden. Dazu werden gewaltige soziale Angriffe geplant, und die Arbeiter sollen gezwungen werden, in die Betriebe zurückzukehren. Der französische Unternehmerverband Medef fordert umfassende Kürzungen bei Überstunden und Urlaubstagen. Und die zehntausenden Entlassungen, die bei europäischen Fluggesellschaften und im Tourismus drohen, sind ein erstes Anzeichen für das bevorstehende Arbeitsplatzmassaker.

Die Gewerkschaftsbürokratien und kleinbürgerlich-populistische Parteien, wie Podemos in Spanien, sind Komplizen dieser kriminellen Politik. In Spanien hat die Regierung unter Beteiligung von Podemos sogar die Polizei eingesetzt, um Stahlarbeiter anzugreifen, die mitten in der Pandemie für das Recht streikten, zu Hause bleiben zu dürfen.

Aber die Arbeiterklasse ist keine Herde, und sie wird sich nicht ausrotten lassen.

Seit 2018 macht die Arbeiterklasse in Europa ihrer Empörung Luft. Die Bewegung der „Gelbwesten“ in Frankreich, die Streiks portugiesischer Krankenschwestern, polnischer Lehrer und deutscher Metallarbeiter, die Massenproteste gegen die politische Repression in Katalonien und die Streiks britischer und französischer Eisenbahner haben eine neue Ära des Klassenkampfs eingeleitet. Der Bankrott des europäischen Kapitalismus, wie er aus der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie und die Bildung der Europäischen Union hervorgegangen ist, löst immer mehr Widerstand in der Arbeiterklasse aus.

Die Pandemie mildert den Klassenkonflikt nicht, sondern verschärft ihn. Die Arbeiterklasse muss den Widerstand der Kapitalisten brechen, um einen Kampf gegen die Pandemie zu ermöglichen, in dem alle gesellschaftlichen Ressourcen zur Rettung von Menschenleben eingesetzt werden.

Die einzige Strategie, die den Arbeitern Erfolg verspricht, ist die Rückbesinnung auf den Kampf, die Staatsmacht in die eigenen Hände zu nehmen – ein Kampf, der vor hundert Jahren mit der Oktoberrevolution 1917 in Russland begann.

Heute, am Tag der internationalen Arbeiterklasse, sendet das Internationale Komitee der Vierten Internationale Grüße an die Arbeiter auf der ganzen Welt. Wir verpflichten uns, unter ihnen eine sozialistische Bewegung aufzubauen, die diese revolutionäre Aufgabe erfüllen kann. Angesichts des unbestreitbaren Bankrotts der Europäischen Union treten wir für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa ein.

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