Perspektive

Verfassungsschutzbericht 2019: Verharmlosung von Nazi-Terror und Angriff auf sozialistische Politik

Der „Verfassungsschutzbericht 2019“, den Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang am 9. Juli der Öffentlichkeit vorstellten, zeigt in aller Deutlichkeit, dass vom Verfassungsschutz und den staatlichen Sicherheitskräften die größte Gefahr für Demokratie und Freiheit ausgeht.

Verfassungsschutzchef Haldenwang und Innenminister Seehofer stellen den Verfassungsschutzbericht vor (Bild: Hannibal Hanschke / Pool via AP)

Das Jahr 2019, auf das sich der Bericht bezieht, war von einer Welle rechtsextremen Terrors gekennzeichnet. Doch darüber findet sich im Verfassungsschutzbericht kaum ein Wort. Dafür denunziert er Organisationen, die gegen den Rechtsextremismus kämpfen, Kritik am Kapitalismus üben oder für eine sozialistische Perspektive eintreten, als „linksextremistisch“.

Der neue VS-Bericht macht deutlich, wie wichtig die Klage der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) gegen das Innenministerium ist. Die SGP hat Anfang vergangenen Jahres dagegen geklagt, dass sie im Verfassungsschutzbericht 2017 genannt und als „linksextremistisch“ eingestuft wird. Wir warnten damals:

Mit ihrem Angriff auf die SGP will diese kriminelle Behörde einen Präzedenzfall für eine neue Gesinnungsjustiz schaffen, mit der jeder verfolgt werden kann, der die reaktionäre soziale und politische Entwicklung kritisiert. Streikende Arbeiter werden dann ebenso verfolgt wie Buchhändler, die marxistische Literatur verkaufen, oder kritische Künstler, Journalisten und Intellektuelle. … Wenn die rechte Verschwörung im Staatsapparat nicht gestoppt und die SGP nicht verteidigt wird, ist der Damm für noch viel weitgehendere Maßnahmen gebrochen.

Diese Einschätzung ist nun in vollem Umfang bestätigt worden. Es vergeht kaum ein Tag, an dem keine neuen Einzelheiten über rechtsterroristische Netzwerke in der Armee und anderen Teilen des Staatsapparats bekannt werden. Linke Anwälte und Politiker erhalten Morddrohungen, unterschrieben mit „NSU 2.0“, eine Bezugnahme auf die Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“. Dabei werden interne Informationen aus Dienstcomputern der Polizei verwendet, um eine Atmosphäre der Einschüchterung zu verbreiten.

Die rechte Verschwörung im Staatsapparat und die Weigerung der Bundesregierung dagegen vorzugehen, sorgt für internationales Aufsehen und Besorgnis. Selbst internationale Medien wie die New York Times berichten mittlerweile über die Gefahr eines faschistischen Putsches in Deutschland.

Der Verfassungsschutz und die rechtsextreme Verschwörung im Staatsapparat

Eine Welle des rechten Terrors hat 2019 einer breiten Öffentlichkeit vor Augen geführt, dass der Faschismus in Deutschland 75 Jahre nach dem Fall der Nazi-Diktatur wieder eine ernsthafte Gefahr darstellt. Doch im Verfassungsschutzbericht wird sie kaum erwähnt.

Dabei erinnert der rechte Terror an die schlimmsten Zeiten der Weimarer Republik, als paramilitärische Organisationen mit engen Verbindungen zur Reichswehr, die später eine wichtige Stütze von Hitlers Terrorherrschaft bildeten, linke Arbeiterführer und prominente Politiker einschüchterten und umbrachten.

  • Am 2. Juni wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke ermordet; der dringend Tatverdächtige Stephan Ernst verkehrte in militanten Neonazi-Kreisen, die von V-Leuten des Verfassungsschutzes durchsetzt sind, und stand seit drei Jahrzehnten unter dessen Beobachtung.
  • Am 9. Oktober erschoss der Rechtsextremist Stephan Balliet zwei Passanten vor der Synagoge in Halle; ein geplantes Massaker an den rund 70 Juden, die in der Synagoge Jom Kippur feierten, misslang nur, weil die Sicherheitstür dem Attentäter standhielt.
  • Am 19. Februar 2020 erschoss ein weiterer Neonazi, Tobias Rathjen, in Hanau neun Menschen mit Migrationshintergrund.

Die Morde von Kassel, Halle und Hanau waren nur die Spitze des Eisbergs. Die Zahl der antisemitischen Straftaten erreichte 2019 den höchsten Stand seit Beginn ihrer statistischen Erfassung vor zwanzig Jahren; im Durchschnitt wurden an jedem Tag fünf bis sechs antisemitische Straftaten verübt.

Die rechtsterroristischen Netzwerke reichen tief in den Staatsapparat hinein. Im sogenannten „Hannibal“-Netzwerk, das von einem Soldaten des Kommandos Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr über den Verein Uniter und diverse Chatgroups aufgebaut wurde, sind hunderte Soldaten, Reservisten, Polizeibeamte, Richter, Mitarbeiter des Verfassungsschutzes und anderer Sicherheitskräfte organisiert. Sie horten Waffen, führen Todeslisten politischer Gegner und bereiten sich auf einen Putsch am „Tag X“ vor.

Doch erst am 30. Juni dieses Jahres, als immer mehr Informationen über große Mengen gehorteter Waffen und Nazi-Devotionalien bekannt wurden, sah sich die Verteidigungsministerin schließlich gezwungen, die Eliteeinheit KSK teilweise aufzulösen.

Im Verfassungsschutzbericht findet sich darüber kein Wort. Dem Lübcke-Mord – dem ersten rechtsextremistischen Mord an einem führenden Politiker seit Gründung der Bundesrepublik – widmet der Bericht gerade einmal eine von insgesamt 388 Seiten. Sie befasst sich hauptsächlich mit der Reaktion einer obskuren rechtsradikalen Gruppe in Dortmund.

Auch das „Hannibal“-Netzwerk wird nicht erwähnt. Nach zentralen Begriffen wie „KSK“, „Nordkreuz“, „Hannibal“, „Franco A.“, „NSU 2.0“ oder „Combat 18“ sucht man vergeblich.

Seehofer und Haldenwang kamen zwar nicht darum herum, bei der Vorstellung des Berichts den rechtsextremen Terror zu erwähnen. Seehofer erklärte sogar, vom Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus gehe derzeit „die größte Bedrohung für die Sicherheit in Deutschland“ aus. Doch diese Lippenbekenntnisse dienen lediglich dazu, die zentrale Rolle des Verfassungsschutzes beim Aufbau der rechtsextremen Netzwerke zu vertuschen.

Anders als am Ende der Weimarer Republik, als die Nazis über eine Massenbasis im Kleinbürgertum verfügten, reagiert heute die große Mehrheit der Bevölkerung mit Entsetzen und Abscheu auf die Rechtsextremisten. Das Erstarken der Rechten und Neofaschisten ist vor allem das Ergebnis einer Verschwörung im Staatsapparat. Der von rechten Terrornetzwerken durchsetze Sicherheitsapparat, allen voran der Verfassungsschutz, ist ihr staatlicher Arm, die AfD ihr politischer Arm und die Große Koalition ihr Wegbereiter.

Jede ernsthafte Analyse des Rechtsextremismus in Deutschland muss beim Verfassungsschutz beginnen. Spätestens seit vor neun Jahren die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds aufgedeckt wurde, weiß man, dass die Neonaziszene, aus der die NSU-Täter stammen, vom Verfassungsschutz über V-Leute aufgebaut und finanziert wurde.

Im Umfeld des NSU waren mindestens zwei Dutzend V-Leute aktiv, die teilweise in persönlichem Kontakt zu den untergetauchten Terroristen standen. Ein Beamter des hessischen Verfassungsschutzes, Andreas Temme, war sogar am Tatort anwesend, als in Kassel ein NSU-Mord stattfand. Später, als Walter Lübcke ermordet wurde, arbeitete Temme in dessen Regierungspräsidium. Der mutmaßliche Mörder Stephan Ernst wiederum stammt aus den Kasseler Neonazi-Kreisen, die Temme als V-Mann-Führer betreut hatte. Über all das erfährt man im Verfassungsschutzbericht kein Wort.

Haldenwangs Vorgänger an der Spitze des Verfassungsschutzes, Hans-Georg Maaßen, musste 2018 sein Amt räumen, nachdem er öffentlich eine Neonazi-Demonstration in Chemnitz verteidigt hatte. Seither tritt er als gefeierter Star vor AfD-Publikum auf. Haldenwang selbst war fünf Jahre lang Maaßens Stellvertreter und arbeitete eng mit ihm zusammen.

Die Medien machen zwar viel Aufhebens davon, dass der Verfassungsschutzbericht erstmals zwei Gliederungen der AfD – den mittlerweile formal aufgelösten „Flügel“ und die „Junge Alternative für Deutschland“ – als „Verdachtsfälle“ einstuft. Aber das dient lediglich dazu, das wahre Ausmaß der rechten Verschwörung zu vertuschen.

Wie sehr der Verfassungsschutzbericht die Gefahr von rechts verharmlost, zeigt auch das Kapitel über die sogenannten „Reichsbürger“, deren Zahl er auf 19.000 schätzt. Obwohl die „Reichsbürger“ die staatliche Autorität der Bundesrepublik ablehnen, vielfach bewaffnet sind und für die Wiederherstellung Deutschlands in den alten Grenzen – also für die Rückeroberung großer Teile Polens – eintreten, heißt es in dem Bericht: „Bei den allermeisten Szeneangehörigen sind rechtsextremistische Ideologieelemente jedoch nur gering bis gar nicht auszumachen.“

Die Klage der SGP gegen den Verfassungsschutz

Der Angriff des Verfassungsschutzes auf die Sozialistische Gleichheitspartei und andere angeblich „linksextremistische“ Organisationen ist untrennbar mit seiner Verharmlosung und Förderung des rechtsextremen Terrors verbunden.

Seit Benito Mussolini 1919 in Italien seine faschistische Partei gründete, bestand die Aufgabe solcher Bewegungen darin, sozialistische und fortschrittliche Bestrebungen gewaltsam zu unterdrücken. Sie verbanden hysterischen Anti-Marxismus mit Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus, deren Aufgabe darin bestand, die Arbeiterklasse zu spalten und die sozialen Spannungen auf einen Sündenbock abzulenken. In Deutschland führte dies zum Holocaust, dem größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte.

Der Verfassungsschutz greift die SGP an, weil sie sich dem massiven Rechtsruck entgegenstellt und damit der breiten Opposition in der Bevölkerung Ausdruck verleiht. Jede Opposition gegen soziale Ungleichheit, Umweltzerstörung, staatliche Repression, militärische Aufrüstung und andere Missstände der kapitalistischen Gesellschaft soll eingeschüchtert und unterdrückt werden.

In seiner Antwort auf die Klage der SGP trat das Innenministerium offen für die Unterdrückung jeder Form von sozialistischem, linkem und fortschrittlichem Denken ein. Es erklärte, dass das „Streiten für eine demokratische, egalitäre, sozialistische Gesellschaft“, die „Agitation gegen angeblichen ‚Imperialismus’ und ‚Militarismus’“, das „Denken in Klassenkategorien“ und der „Glaube an die Existenz einander unversöhnlich gegenüberstehender konkurrierender Klassen“ verfassungswidrig seien!

Über die Klage der SGP ist bisher nicht entschieden worden. Das zuständige Verwaltungsgericht Berlin hat noch keinen Verhandlungstermin festgesetzt. Das Innenministerium sah sich aber gezwungen, im „Verfassungsschutzbericht 2019“ auf die Klage zu reagieren und einige Änderungen vorzunehmen. In den Berichten für die Jahre 2017 und 2018 hatte es geheißen:

Die Agitation der SGP richtet sich schon in ihrer Programmatik gegen die bestehende, pauschal als „Kapitalismus“ verunglimpfte staatliche und gesellschaftliche Ordnung, gegen die Europäische Union (EU), gegen vermeintlichen Nationalismus, Imperialismus und Militarismus sowie gegen die Sozialdemokratie, Gewerkschaften und auch gegen die Partei DIE LINKE.

Diese Passage fehlt im neuen Bericht. Stattdessen heißt es nun:

Die SGP geht von einem mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbarenden marxistischen Klassendenken sowie einer Propagierung des Klassenkampfes aus. Sie fordert den Sturz des „Kapitalismus“ – nicht allein bezogen auf das Wirtschaftssystem, sondern als Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.

Offensichtlich sind die Experten im Innenministerium zum Schluss gelangt, dass es selbst einem voreingenommenen Gericht schwerfallen würde, Kritik an der SPD und an der Linkspartei für verfassungswidrig zu erklären. Die Verurteilung von „marxistischem Klassendenken“ zeigt allerdings noch deutlicher, worum es dem Verfassungsschutz geht.

Von Tag zu Tag wird klarer, dass der Kapitalismus nicht mit Freiheit und Demokratie vereinbar ist: Die Klassengegensätze verschärfen sich, Millionen sind vom Verlust des Arbeitsplatzes und der Existenzgrundlage bedroht, eine Handvoll Banken und Hedgefonds entscheiden über das Schicksal Hunderttausender, die Reichen bereichern sich immer hemmungsloser und zehn Prozent der Bevölkerung besitzen 56 Prozent des Gesamtvermögens.

In dieser Situation fürchtet die herrschende Klasse, dass die wachsende Opposition der Arbeiterklasse und der Jugend mit dem sozialistischen Programm der SGP und der Vierten Internationale zusammenkommt. Deshalb soll marxistisches Denken für verfassungswidrig erklärt und verboten werden.

Die Formulierung könnte direkt aus dem Programm der AfD stammen, mit der der Verfassungsschutz bereits unter Haldenwangs Vorgänger Maaßen eng zusammengearbeitet hat. Sie knüpft an die Propaganda der Nazis an, deren Ideologie der „Volksgemeinschaft“ auf der Leugnung und der gewaltsamen Unterdrückung des Klassenkampfs beruhte. Und wie die Gesinnungsjustiz der Nazis will auch der Verfassungsschutz nicht illegales Handeln, sondern allein schon das Denken in Klassenkategorien unter Strafe stellen.

Der Klassenkampf ist allerdings nicht das Ergebnis der „Propaganda“ der SGP. Er entwickelt sich objektiv als internationale Reaktion auf die wachsende soziale Polarisierung. 75 Jahre nach seiner Niederlage im Zweiten Weltkrieg steht der deutsche Kapitalismus wieder vor denselben Problemen, die er mittels Kriegs und Diktatur lösen wollte. Auf die wachsenden internationalen Spannungen und die zunehmenden Klassenkonflikte, die durch die Corona-Pandemie enorm verschärft werden, reagiert er wieder mit Militarismus und Diktatur.

Die SGP appelliert an alle, die demokratische Rechte verteidigen und dem Anwachsen der Rechten entgegentreten wollen, gegen den Angriff des Verfassungsschutzes zu protestieren und die Klage der SGP gegen das Innenministerium zu unterstützen.

Wir verlangen, dass der Verfassungsschutz die Beobachtung der SGP und aller anderen linken Organisationen einstellt und dass diese rechte Brutstätte antidemokratischer Verschwörungen aufgelöst wird.

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