Der kriminelle Abgrund, der sich um den bankrotten Finanzdienstleister Wirecard auftut, wird immer tiefer. Die Staatsanwaltschaft ermittelt inzwischen wegen gewerbstätigen Bandenbetrugs, Bilanzfälschung, Marktmanipulation, Veruntreuung von Vermögen und Geldwäsche gegen die Führungskräfte des Dax-Konzerns, der am 25. Juni Insolvenz angemeldet hat.
Wirecard soll Geschäfte in Milliardenhöhe vorgetäuscht haben, um Bilanz und Umsätze künstlich aufzublähen. Damit soll es den Aktienkurs in die Höhe getrieben und Kredite von 3,2 Milliarden Euro erschlichen haben, die nun größtenteils verloren sind. Es besteht auch der Verdacht, dass Summen in dreistelliger Millionenhöhe durch Scheingeschäfte mit Partnerfirmen gestohlen wurden und dass Wirecard in großem Stil an internationaler Geldwäsche beteiligt war.
Der langjährige Chef des Unternehmens, Markus Braun, der Ende Juni gegen eine Kaution von fünf Millionen Euro freigelassen worden war, musste am Mittwoch erneut in Untersuchungshaft. Auch zwei weitere hochrangige Ex-Manager des Unternehmens wurden am Mittwoch festgenommen. Der Vorstand für das operative Geschäft, Jan Marsalek, der als Schlüsselfigur der kriminellen Aktivitäten gilt, befindet sich seit vier Wochen auf der Flucht.
Auch zahlreiche hochrangige Politiker, bis hinauf zu Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vizekanzler Olaf Scholz (SPD), sind in die Affäre verstrickt. Merkel hatte noch im September 2019, als Berichte über Unregelmäßigkeiten bei Wirecard seit vier Jahren im Umlauf waren, auf einer Chinareise für den Konzern geworben.
Scholz ist als Finanzminister für die Aufsichtsbehörde Bafin zuständig, die die Machenschaften von Wirecard jahrelang gedeckt hat. Obwohl die Financial Times seit 2015 wiederholt über undurchsichtige Geldströme und mögliche Bilanzfälschungen bei Wirecard berichtet hat, ging die Bafin den Vorwürfen nicht nach. Stattdessen erließ sie ein Verbot gegen Leerverkäufe und erstattete 2019 Strafanzeige gegen die FT-Journalisten, denen sie vorwarf, durch negative Berichterstattung den Aktienkurs manipulieren zu wollen. Scholz‘ Staatssekretär Jörg Kukies, ein früherer Banker bei Godman Sachs, traf sich noch im November 2019 zum vertraulichen Gespräch mit Wirecard-Chef Braun.
Mehrere hochrangige deutsche und österreichische Politiker, vorwiegend vom rechten Rand des politischen Spektrums, standen in engem Kontakt zu Wirecard oder waren als Lobbyisten für den Konzern tätig.
So „beriet“ die Lobbyfirma Spitzberg Partners des ehemaligen Wirtschafts- und Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg Wirecard zwischen 2016 und 2020. Im Herbst 2019 traf sich Guttenberg persönlich mit Merkel, um sie zu überzeugen, in China für Wirecard zu werben. Guttenberg ist auch eine Schlüsselfigur hinter der dubiosen Firma Augstus Intelligence, die in die Schlagzeilen geriet, weil sie den jungen CDU-Abgeordneten Philipp Amthor bezahlte. In ihrem Umfeld bewegen sich zahlreiche rechte Figuren aus dem Geheimdienstmilieu, darunter der ehemalige Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen.
Auch der ehemalige Geheimdienstkoordinator der Bundesregierung, Klaus-Dieter Fritsche, der eine maßgebliche Rolle bei der Vertuschung des NSU-Terrors spielte und später für den rechtsextremen österreichischen Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) arbeitete, war als Lobbyist für Wirecard tätig. Er vermittelte Wirecard-Chef Braun mehrere Termine im deutschen Kanzleramt.
Braun und Marsalek, die beide aus Wien stammen, pflegten auch enge Kontakte zur dortigen rechtskonservativen Regierung. Während Braun von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) in seinen Strategiestab „Think Austria“ berufen wurde, hielt Marsalek die Verbindung zum Chef der rechtsextremen FPÖ, Heinz-Christian Strache, und dessen Intimus Johann Gudenus, den beiden Schlüsselfiguren des „Ibiza-Skandals“, der im Mai 2019 zum Fall der ÖVP-FPÖ-führte.
Marsalek, der ein James-Bond-Image pflegte, einen aufwendigen Lebensstil führte und permanent unterwegs war, soll auch enge Beziehungen zu diversen Geheimdiensten, darunter dem russischen gepflegt haben – zumindest rühmte er sich dessen. Unter anderem soll er versucht haben, eine eigene Miliz in Libyen aufzubauen.
Wirecard war von Anfang an ein zwielichtiges Unternehmen. 1999 gegründet, wickelte es den Zahlungsverkehr für Porno- und Glückspielseiten im Internet ab. Der 1980 geborene Jan Marsalek kam als 20-jähriger Schulabbrecher zu Wirecard. Er wurde eingestellt, weil er sich mit der frühen Mobilfunktechnologie WAP auskannte. Der 1969 geborene Markus Braun stieß als Unternehmensberater von KPMG zu Wirecard.
Als die USA 2006 die Zahlungsabwicklung von Onlineglücksspielen verboten, brach eine wichtige Ertragssäule von Wirecard weg. Braun und Marsalek, die das Unternehmen inzwischen beherrschten, begannen einen Kurs der internationalen Expansion. Braun war dabei für die Außendarstellung und die Werbung von Investoren zuständig, während Marsalek ein internationales Netzwerk von Firmen aufbaute, das sich nun als Potemkinsches Dorf erweist.
Wirecard wickelte zwar auch Zahlungen für größere Kunden wie Aldi und TUI ab. Doch hier waren die Gewinnmargen äußerst gering oder negativ. Der Löwenanteil des Umsatzes und des Gewinns stammte aus dem Asiengeschäft, das – wie sich nun herausstellt – weitgehend erfunden war.
Von Anfang an war der Aufstieg von Wirecard mit Skandalen verbunden. „Auffällig ist, wie viele Vorwürfe und Gerüchte den Konzern schon seit Jahren begleiten. Insbesondere wenn es um Geldwäsche geht,“ schreibt der Spiegel, der seine Titel-Story dem Wirecard-Skandal gewidmet hat.
Doch das hinderte die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY nicht daran, dem Konzern jedes Jahr einen Persilschein auszustellen. EY (früher Ernst & Young), KPMG, PwC und Deloitte, die zusammen den Weltmarkt für Wirtschaftsprüfung beherrschen, sind gleichzeitig als Berater für die Unternehmen tätig, die sie überprüfen, und sie werden von ihnen bezahlt. Die Finanzoligarchie ist also unter sich.
Auch Politik und Medien waren begeistert über Wirecard. Endlich hatte Deutschland ein Unternehmen, das im digitalen Geschäft auf Weltniveau spielen und es mit Giganten wie Google aufnehmen konnten, schwärmten sie. Der Aktienkurs stieg so ständig nach oben – von 4 Euro 2009 auf 193 Euro im September 2019, um fast das Fünfzigfache innerhalb von zehn Jahren. Inzwischen liegt er bei 1,60 Euro. Die Großanleger, die rechtzeitig ausstiegen, machten ein glänzendes Geschäft. Viele Kleinanleger verloren dagegen ihre Ersparnisse.
Nun bemühen sich Politik und Medien, den Wirecard-Skandal entweder als Folge der Machenschaften eines genialen Hochstaplers oder des Versagens staatlicher Institutionen darzustellen, das durch einige administrative Veränderungen korrigiert werden kann. Bundesfinanzminister Scholz hat bereits einen 16-Punkt-Plan für die Reform der Aufsichtsbehörden präsentiert.
Doch das ist Augenwischerei. Wirecard ist keine Entgleisung, sondern zeigt das wahre Gesicht des Kapitalismus im 21. Jahrhundert. Seit langem hat sich die Anhäufung von Reichtum und Vermögen vollständig von der Realwirtschaft gelöst. Die Folge ist eine beispiellose soziale Polarisierung und die Kriminalisierung sämtlicher Bereiche der kapitalistischen Wirtschaft.
Das begann in den 1990er Jahren in der Sowjetunion und Osteuropa, wo Oligarchen mit Methoden, die selbst hartgesottene Mafiosi erschauern ließen, das von Generationen erarbeitete Volkseigentum stahlen. Der korrupte Säufer Boris Jelzin, der diesen Raubzug ermöglichte, wurde von den westlichen Medien als demokratischer Held gefeiert.
Die Finanzialisierung der US-Wirtschaft, die schließlich im Aufstieg des Immobilienspekulanten und Casino-Betreibers Donald Trump gipfelte, wurde von ähnlich kriminellen Affären wie Wirecard begleitet – die Bankrotte von Long-Term Capital Management 1998, WorldCom und Enron 2001, sowie Lehman Brothers, AIG und Bernard Madoff 2008 waren nur einige Wegmarken. Die Krise von 2008, ein Ergebnis krimineller Bankengeschäfte, stieß die Weltwirtschaft an den Rand des Abgrunds. Alle Zentralbanken und Regierungen der Welt reagierten, indem sie den Verantwortlichen weitere Billionen hinterherschmissen.
Das Ergebnis zeigt sich nun in der Corona-Krise. Während Millionen Arbeiter unter Lebensgefahr zurück an die Arbeit gezwungen werden oder ihre Arbeit und Existenz verlieren, werden die Aktienmärkte und Konten der Reichen mit Billionensummen aus der Staatskasse aufgebläht. Amazon-Chef Jeff Bezos, verdiente letzte Woche an einem einzigen Tag 13 Milliarden Dollar. Seit Anfang des Jahres ist sein Vermögen um 74 Milliarden auf 189 Milliarden Dollar gewachsen.
Der Fall Wirecard zeigt, dass Deutschland hier keine Ausnahme bildet. Angela Merkel mag zurückhaltender, kontrollierter und weniger provokativ auftreten als der faschistische Choleriker Donald Trump. Doch ihre Regierung, die Große Koalition, ist entschlossen, den Reichtum und die globalen Interessen der herrschenden Klasse ebenso rücksichtslos zu verteidigen, wie Trump dies in den USA tut. Deshalb hatte sie kein Problem, die „gewerbsmäßige Betrugsbande“ Wirecard zu unterstützen. Das deutsche Kapital hat bereits zwischen 1933 und 1945 gezeigt, zu welchen bestialischen Verbrechen es fähig ist, um seine Macht und sein Vermögen zu verteidigen. Daran hat sich nichts geändert.
Die Verbindung von Wirtschaftskriminalität, ultrarechter Politik, staatlicher Protektion und Geheimdienstaktivitäten, die den Fall Wirecard kennzeichnet, ist ein Warnsignal. Von den sogenannten Oppositionsparteien – den Grünen, der Linken oder den Gewerkschaften – gibt es dagegen keine Opposition. Wenn sie das Verhalten der Regierung kritisieren und einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss fordern, dann nur, um die Öffentlichkeit zu beruhigen und jeden ernsthaften Widerstand zu unterdrücken.
Der Kampf gegen die Finanzoligarchie und ihre kriminellen Methoden erfordert die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse zum Sturz des Kapitalismus auf der Grundlage eines sozialistischen Programms.