Zehn Jahre seit WikiLeaks‘ Publikation der Afghanistan-Kriegsprotokolle

Am Samstag, den 25. Juli sind zehn Jahre vergangen, seit WikiLeaks die Kriegsprotokolle aus Afghanistan veröffentlicht hat. Diese riesige Fundgrube an durchgesickerten US-Militärdokumenten vermittelt einen beispiellosen Einblick in den verbrecherischen Charakter eines Krieges, der inzwischen der längste in der amerikanischen Geschichte geworden ist.

Die Dokumente wurden mit Kommentaren, Analysen und Kontextmaterial in Zusammenarbeit mit der New York Times, dem Guardian und dem Spiegel veröffentlicht. Nur etwa drei Monate vorher hatte WikiLeaks das berüchtigte „Collateral Murder“ Video veröffentlicht, das 2007 ein Massaker der US-Armee an Zivilisten, darunter zwei Reuters-Journalisten, im Irak öffentlich sichtbar machte.

Diese beiden Enthüllungen zusammen übten einen immensen Einfluss auf das öffentliche Bewusstsein aus und verstärkten und vertieften die Antikriegsstimmung, die sich erstmals bei den gewaltigen internationalen Protesten gegen die Invasion des Iraks im Jahr 2003 gezeigt hatten.

Juli 2010: Julian Assange präsentiert die Afghanistan-Kriegsprotokolle [Photo: Frontlineclub.com]

Bezeichnenderweise erfolgte die Veröffentlichung von WikiLeaks im Jahr 2010 in einer Situation, als die pseudolinken Gruppen der oberen Mittelschicht diese Bewegung verraten hatten. Immer häufiger hatten sie den Widerstand gegen imperialistischen Krieg unterdrückt und 2008 die Wahl von Barack Obama unterstützt. Seither haben sie sich immer enger an die anderen militaristischen Parteien der herrschenden Elite, beispielsweise die SPD oder die Labor Party in Australien, angeschlossen.

Die afghanischen Protokolle entlarvten insbesondere die Behauptung unzähliger liberaler Experten, dass die Besetzung dieses Landes ein „guter Krieg“ sei, der angeblich geführt wurde, um den Terrorismus zu besiegen, die Demokratie auszuweiten und die Rechte der Frauen zu schützen. Dies kontrastierten sie mit dem „gescheiterten“ Irak-Feldzug.

Dies stimmte mit der Agenda der neuen US-Regierung überein. Schon während Obamas vorgetäuschter Antikriegshaltung im Wahlkampf 2008 wurden die Pläne für eine massiv ausgeweitete Offensive in Afghanistan entwickelt.

Was die Mythenbildung begünstigte, war die Tatsache, dass die USA, ihre Verbündeten und die bürgerlichen Medien jegliche Informationen über die tatsächliche Lage vor Ort unterdrückten. WikiLeaks lüftete den Schleier der Lügen und enthüllte eine neokoloniale Besatzung, die darauf abzielte, Bodenschätze zu plündern und die Kontrolle über die geostrategisch bedeutsame zentralasiatische Region zu sichern.

Massentötungen an Zivilisten, ein vehementer Widerstand der Bevölkerung und offene Demoralisierung in der US-Armee kamen an die Oberfläche, und zwar in größerem Umfang als je zuvor in den neun Jahren seit der US-Invasion.

Die Veröffentlichung stützte sich auf 91.000 Protokolle der US-Armee für den Zeitraum von Januar 2004 bis Dezember 2009. Chelsea Manning, die als Analyst des Militärgeheimdienstes Zugang zu dem Material hatte, stellte es WikiLeaks zur Verfügung.

Manning gab das Material erst dann an WikiLeaks weiter, als die New York Times und die Washington Post alle ihre Versuche, Kontakt aufzunehmen, ignoriert hatten.

Bei der Veröffentlichung der Protokolle beschrieb der Herausgeber und damalige Chefredakteur von WikiLeaks, Julian Assange, das Material als „die umfassendste Dokumentation eines Kriegs, die jemals während eines laufenden Krieges veröffentlicht wurde“.

Im Unterschied zu den wirtschaftsfreundlichen Hetzern, die versuchen, ihre Unterstützung für imperialistischen Krieg hinter einer Maske der Unparteilichkeit zu verbergen, hat Assange seinen Standpunkt nie verschleiert. Die Dokumente enthielten Hinweise auf tausende Kriegsverbrechen, und ihre Veröffentlichung sollte ausdrücklich dazu dienen, die öffentliche Meinung zu verändern. „Die gefährlichsten Männer sind diejenigen, die für den Krieg verantwortlich sind. Und sie müssen aufgehalten werden“, sagte Assange.

Etwa 20.000 Tote sind in den Protokollen verzeichnet. Darunter sind mindestens 195 zivile Opfer von NATO-Truppen, die zuvor vor der Öffentlichkeit verborgen waren.

Am brisantesten ist, dass die Dokumente die Propaganda durchbrechen, als wären die Todesopfer unvermeidliche Produkte der „Kriegswirren“, angebliche Pannen und Fehler. Der Massenmord war kein zufälliges Nebenprodukt des Konflikts, sondern ein wesentlicher Bestandteil seines Charakters als neokoloniale Besetzung einer feindlichen Bevölkerung.

Die Veröffentlichung bestätigte zum ersten Mal die Existenz einer geheimen „schwarzen Einheit“ innerhalb des US-Militärs, deren ausdrückliche Aufgabe darin bestand, prominente „Aufständische“ außergerichtlich zu ermorden, d.h. jene Afghanen, von denen man annahm, dass sie eine führende Rolle im Kampf um die Befreiung ihres Landes spielen würden.

Die in den Protokollen detailliert geschilderten Vorfälle lieferten ein Bild imperialistischer Gesetzlosigkeit, wie man es vielleicht seit den Schrecken des Vietnamkrieges vor mehreren Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte.

Der Guardian vermerkte mindestens 21 Fälle, in denen britische Truppen das Feuer auf Zivilisten eröffneten, und kommentierte diese: „Einige Todesopfer wurden versehentlich durch Luftangriffe verursacht, aber viele sollen Opfer britischer Truppen gewesen sein, die auf unbewaffnete Fahrer oder Motorradfahrer schossen, die Konvois oder Patrouillen 'zu nahe' kamen.“

Die britische Zeitung zitierte nur einige der bisher unbekannten Ereignisse, die in den Aufzeichnungen enthalten sind, und schrieb: „Zu den blutigen Fehlern auf Kosten der Zivilbevölkerung, die in den Protokollen festgehalten sind, gehört der Tag, an dem französische Truppen 2008 einen Bus voller Kinder beschossen und dabei acht verwundeten. Eine US-Patrouille schoss auf ähnliche Weise mit Maschinengewehren auf einen Bus und verwundete oder tötete 15 seiner Fahrgäste, und 2007 haben polnische Soldaten offensichtlich aus Rache ein Dorf verwüstet und eine Hochzeitsgesellschaft, darunter eine schwangere Frau, getötet.“

Angriffe auf Zivilisten wurden häufig als „gezielte Angriffe“ auf „Taliban-Kämpfer“ dargestellt. Um noch einmal den Guardian zu zitieren:

Ein Harrier-Bombenangriff wird mit acht Toten aufgeführt. In einem anderen Fall funkte ein F16-Jet, der von einem Schützenkommando angefordert wurde, dass er "Leichen im Zielgebiet" sehen könne. Sieben Zivilisten wurden bei diesem Angriff verwundet und einer getötet.

Bei einem weiteren Angriff eines Apache-Hubschraubers außerhalb von Kandahar sollen drei Taliban getötet worden sein: Es stellte sich jedoch später heraus, dass zwei Frauen und zwei Kinder ums Leben gekommen waren.

Eine Hellfire-Rakete einer unbemannten Drohne soll über Helmand ebenfalls sechs Taliban getötet haben. Wie sich später herausstellte, hatte sie zwei Kinder verwundet.

Britische Truppen töteten im Juli an einem Kontrollpunkt in Sangin vier Zivilisten und verwundeten drei. Im August schossen 2 Para-Trooper auf drei Zivilisten, die sie für Aufständische hielten, und verwundeten drei und töteten vier. Und im September wurde ein unbewaffneter Motorradfahrer von einer britischen Patrouille erschossen.

Aus den Dokumenten ging immer wieder hervor, dass sich die Koalitionskommandeure bewusst waren, dass die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung ihren Abzug und die Vertreibung der Besatzungssoldaten aus dem Land forderte. Sie gingen ausführlich auf die angespannten Beziehungen zwischen den US-geführten Streitkräften und ihren Verbündeten in der afghanischen Armee ein. Letztere wurden schlecht behandelt. Erstere lebten in der ständigen Furcht, dass einer ihrer afghanischen Verbündeten "abtrünnig" werden und seine Waffen gegen die Besatzer richten könnte, wie der Widerstands-Haltung der Bevölkerung entsprach.

Die unzähligen Widersprüche der imperialistischen US-Außenpolitik wurden aufgedeckt. Die alliierten Kommandeure wussten, dass die pakistanischen Geheimdienste, mit denen sie formell verbündet waren, eng mit militanten Islamisten zusammenarbeiteten.

Zusammengenommen gaben die Enthüllungen der Weltbevölkerung ein größeres Verständnis für das erste imperialistische Kriegsverbrechen des Jahrhunderts als jede andere Publikation. Ihre Veröffentlichung war ein historisches Ereignis, das in den kommenden Jahrzehnten noch lange analysiert und kommentiert werden wird.

Aber die afghanischen Kriegsprotokolle sind noch nicht in die Geschichte eingegangen. Die brutale Besatzung, die schon den Tod von bis zu einer halben Million Afghanen zur Folge hatte, dauert an. Die Kriegsverbrecher sind nicht nur jeder Bestrafung entgangen. Sie sitzen an der Spitze des US-amerikanischen, australischen und britischen Militärs und planen neue Verbrechen, einschließlich katastrophaler Konflikte mit Atommächten wie China und Russland.

Die einzigen Personen, die im Zusammenhang mit diesen Veröffentlichung mit der Justiz zu kämpfen haben, sind Chelsea Manning, die ein Jahrzehnt lang verfolgt wurde, und Julian Assange, der im britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh inhaftiert ist und auf den Prozess für seine Auslieferung an die USA wartet.

Dort drohen ihm 175 Jahre Haft. Das ist der ersten Versuch, einen Verleger und Journalisten nach dem Spionagegesetz strafrechtlich zu verfolgen. Die Enthüllungen über die Schrecken des Afghanistan-Krieges finden sich in Assanges Anklageschrift wieder, wo sie auf perverse Weise als Beweis für eine Verschwörung mit Chelsie Manning gewertet werden, die angeblich die nationale Sicherheit der USA bedroht habe. Der Straftatbestand der "reinen Veröffentlichung", d.h. des Journalismus, gehört zu den vermeintlichen Verbrechen Assanges.

Die US-Anklage enthält einige besonders hartnäckige Lügen der Regierung und der Medien im Zusammenhang mit den Protokollen des Afghanistan-Krieges. Sie behauptet erneut, dass ihre Veröffentlichung das Leben von US-Militärangehörigen und ihren afghanischen Informanten in Gefahr gebracht habe. Diese Behauptung wurde schon beim Kriegsgerichtsprozess von Manning 2013 widerlegt.

Die angebliche Präsenz der Dokumente auf Osama Bin Ladens Gelände in Abbottabad, wo er jahrelang unter Beobachtung der US-Alliierten und pakistanischen Militärs lebte, wird gegen Assange ins Feld geführt. Auf demselben Gelände wurden auch Zeitschriften gefunden, die von mit der CIA in Verbindung stehenden Think-Tanks herausgegeben wurden, aber es gab keine Forderungen nach einer strafrechtlichen Verfolgung ihrer Autoren.

Darüber hinaus wurde die Behauptung, Assange sei unvorsichtig gewesen, gründlich entkräftet. Der australische Journalist Mark Davis erklärte letztes Jahr auf der Grundlage seiner persönlichen Beobachtungen, dass es Assange selbst – und nicht etwa seine Medienpartner bei der New York Times oder dem Guardian – war, der persönlich Tausende von Seiten vor der Publikation nach Sicherheitspunkten redigiert hatte. Er sorgte dafür, dass etwa 16.000 Dokumente zurückgehalten wurden, um zu verhindern, dass jemand zu Schaden komme.

Trotzdem wurde die Behauptung von WikiLeaks' ehemaligen Medienpartnern beim Guardian und der New York Times, Assange habe eine rücksichtslose Haltung gegenüber der Sicherheit afghanischer Informanten an den Tag gelegt, zu einer der wichtigsten Rechtfertigungen für den Verrat an ihm. Die Times hatte sich ausführlich mit der Obama-Regierung beraten, und sie berichtete nur über eine Handvoll der in den Protokollen enthaltenen Enthüllungen.

Schon sehr kurz danach jedoch, als die USA ihre Verfolgung von Assange ausweitete, wurde für diese Zeitung selbst eine minimale Zusammenarbeit mit WikiLeaks zu viel.

So zynisch und falsch die Behauptungen dieser Journalisten auch waren, ist es nicht unwichtig, dass sie sich ausgerechnet dieses Vorwurfs bedienten, als sie sich überstürzt mit Obama und der CIA verbündeten. Sie verteidigten ausgerechnet diejenigen Informanten, die dem US-Militär dienten. Nichts über den Afghanistankonflikt, so schien es, hatte die Leidenschaft dieser Reporter so sehr erregt wie die Aussicht darauf, dass Verräter unter Vergeltung leiden könnten.

Die "Journalisten" identifizierten sich instinktiv mit den Informanten, von denen keiner durch die Veröffentlichung von WikiLeaks getötet oder verletzt worden ist. Man kann vermuten, dass sie die Bereitschaft teilten, Prinzipien für Geld zu verkaufen, den Eifer, sich mit den Mächtigen zu verbünden, und die Wut auf jeden, der sich ihnen in den Weg stellte. Es muss gesagt werden, dass afghanische Informanten in einigen Fällen ihren Hals riskiert haben. Mit den gleichen Gefahren sahen sich die Reporter in ihren bequemen Häusern in London und Washington nicht konfrontiert.

Ein Jahrzehnt später sind alle Verleumdungen widerlegt. Assange hat angesichts einer fast beispiellosen staatlichen Vendetta seinen Widerstand gegen Imperialismus und Krieg mutig aufrechterhalten. Der Kampf für seine Freiheit steht an der Spitze des Kampfes gegen Militarismus und für demokratische Rechte.

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