Schulöffnungen trotz Corona: ein Experiment in Herdenimmunität

Obwohl es mittlerweile fast täglich über 1.000 Corona-Neuinfektionen gibt, setzen alle Landesregierungen die Schulöffnungen nach den Sommerferien rücksichtslos durch. Dies kann nur als Experiment in „Herdenimmunität“ bezeichnet werden. Es ist ein lebensgefährliches Spiel auf Kosten von Kindern, Lehrern, Erziehern und ihrer Familien.

Am Donnerstag hatte das Robert-Koch-Institut (RKI) 1045 Neuinfektionen gemeldet, am Freitag waren es mit 1147 Neuinfektionen noch einmal hundert mehr. Diese Zahlen beziehen sich auf die Ansteckungen vor etwa zehn Tagen. Das bedeutet jedoch höchstwahrscheinlich, dass das aktuelle Infektionsgeschehen noch deutlich höher liegt. Weltweit gibt es 19 Millionen SARS-CoV-2-Fälle, mehr als 712.000 Menschen sind schon gestorben, und in Deutschland ist die Zahl der Toten am Freitag auf 9183 angestiegen.

In dieser Situation sind alle Landesregierungen entschlossen, die Kinder uneingeschränkt wieder in die Schulen zu schicken. Zwar hat der Anstieg an Neuinfektionen ein Niveau erreicht, das dem Stand von Mitte März 2020 entspricht – aber damals wurden als Reaktion alle Schulen und Kitas geschlossen und der Lockdown verhängt. Jetzt jedoch werden alle Einrichtungen gerade wieder geöffnet. Das Ziel ist völlig klar: Die Bevölkerung soll zurück an die Arbeit, damit die Profite an den Börsen wieder sprudeln. Daran lassen Politiker aller Couleur und Wirtschaftsvertreter nicht den geringsten Zweifel.

Im ARD-Morgenmagazin erklärte Annalena Baerbock, die Vorsitzende von Bündnis 19/Die Grünen, am gestrigen Freitag kategorisch: „Was klar sein muss, das müsste die oberste Leitlinie sein: dass Komplettschulschließungen nie wieder als Erstmaßnahme greifen dürfen.“ Damit wiederholte die Grünen-Chefin die Forderungen von Siemens-Chef Joe Kaeser, der gegenüber der Zeitung Die Welt ebenso kategorisch erklärte: „Sicherlich können wir uns einen kompletten Shutdown nicht mehr leisten.“ Dies kommentierte die Zeitung mit dem Hinweis, Kaeser habe „völlig recht: Ein Vorgehen nach dem Motto ‚Operation gelungen, Patient tot‘ darf es nicht geben.“ (Wer hier als Patienten gemeint war, ist klar: die deutsche Wirtschaft.) Und weiter: „Dass Kitas und Schulen zuerst geschlossen und zuletzt geöffnet werden, darf kein zweites Mal passieren.“

Was die Politiker, Manager und Zeitungsschreiber damit fordern, sind Bedingungen, die zu tausendfachen Erkrankungen und Sterbefällen führen werden. Gerade die Schulschließungen hatten ja dazu beigetragen, die Pandemie einzudämmen und Todesfälle zu vermeiden. Wie das Journal of the American Medical Association ( JAMA ) anhand einer Studie dokumentierte, waren in den zwei letzten Märzwochen dank der weltweiten Schließung von Schulen etwa 40.600 Menschenleben gerettet worden. Ohne die vier Wochen Schulschließungen von Mitte März bis Mitte April hätten sich weltweit fast 1,4 Millionen Menschen mehr angesteckt.

Am Freitag wurde bekannt, dass in Mecklenburg-Vorpommern, wo der Unterricht seit Montag wieder läuft, schon an mindestens zwei Schulen Corona-Fälle aufgetreten sind. Weil eine Gymnasiallehrerin in Ludwigslust und ein Grundschüler in Graal-Müritz positiv getestet wurden, mussten beide Schulen wieder geschlossen werden.

In Hamburg, wo der Unterricht am Donnerstag wieder begann, steigt die Zahl der Covid-19-Infektionen sprunghaft wieder an. Nach offiziellen Angaben gab es von Donnerstag auf Freitag 80 neue Fälle. Neben zahlreichen Reiserückkehrern sind auch Arbeiter der Hamburger Werft Blohm+Voss positiv getestet worden. Am Mittwoch wurden 60 Neuinfektionen unter Werftarbeitern und Beschäftigten von Fremdfirmen auf dieser Werft nachgewiesen.

Trotz alledem werden in Hamburg Lehrer und Schüler zum Präsenzunterricht gezwungen. Während das RKI auf der „AHA“-Regel für Abstandhalten, Händewaschen, Alltagsmaske besteht, sitzen die Schüler in voller Klassenstärke dicht an dicht, ohne Mund-Nasen-Schutz und ohne jede Möglichkeit, einen Abstand von 1,50 Metern einzuhalten. In mancher Schule lassen sich nicht einmal die Fenster richtig öffnen. Dabei füllen die Aerosole, die von einem Erkrankten ausgehen (wie eine Video-Simulation der TU Berlin zeigt) in nur zwei Minuten ein ganzes Klassenzimmer.

Kinder, Lehrer und Eltern protestieren dagegen und äußern auf Twitter Wut und Sarkasmus. Einer schreibt: „Wofür haben wir eigentlich das #RKI, wenn sich selbst unsere #Kultusminister*innen nicht an dessen Einschätzungen orientieren? Schulöffnungen ohne AHA-Regel ist nicht mehr einfach nur fahrlässig. Das grenzt an vorsätzliche #Durchseuchung.“ Andere bezeichnen die Kultusminister als „die obersten Corona-Leugner“ und warnen: „Sage dann keiner, das hätte man nicht ahnen können!“

Über 20 Lehrerinnen und Lehrer haben vor Gericht dagegen geklagt, zum Präsenzunterricht gezwungen zu werden. Schon im April und Mai hatten das bundesweit zahlreiche Lehrkräfte vergeblich versucht. Nun hat das Bildungsministerium von Schleswig-Holstein sogar Rechtsmittel gegen ein Urteil eingelegt. Das Verwaltungsgericht in Schleswig hatte im Fall einer lungenkranken Lehrerin geurteilt, dass man sie vorerst nicht zum Direktunterricht zwingen dürfe. Das Ministerium will das nicht akzeptieren.

Ein Offener Brief an die Hamburger Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) und Katharina Fegebank (Grüne), sowie die Senatoren für Schulen und Soziales, Ties Rabe und Melanie Leonhard (beide SPD), wurde schon am ersten Tag von mehr als 800 Eltern unterzeichnet. Er richtet sich gegen diese Öffnungspolitik, auf deren Grundlage „ein sicherer und geordneter Schulbeginn nicht möglich“ sei. Selbstverständlich liege ihnen das Kindswohl und die soziopsychologische Entwicklung der Kinder am Herzen, schreiben die Eltern. „Das Kindswohl ist aber ist ohne Gesundheitsschutz nicht zu haben.“ Sie verlangen „dringend Nachbesserungen am vorgelegten Konzept!“

Es ist allerdings eine Illusion, solche Forderungen an die SPD und die Grünen zu richten, die in Hamburg regieren. Hamburgs Schulsenator Ties Rabe beispielsweise wird nicht müde, seine Behauptung, Corona sei „für Kinder und Jugendliche ungefährlicher als Grippe“ zu wiederholen. Wider besseres Wissen behauptet er in einem Schulstart-Video erneut, dass Kinder „nicht so gefährdet wie Erwachsene“ seien.

Ebenso wenig Vertrauen verdient die Linkspartei, die in Thüringen, Berlin und Bremen regiert, oder die Lehrergewerkschaft GEW. Sie alle setzen die Schulöffnungen rücksichtslos durch, weil sie die Interessen der Wirtschaft über das Leben und die Gesundheit der arbeitenden Bevölkerung stellen. Es sind dieselben Politiker, die zugestimmt haben, den Banken und Konzernen hunderte Milliarden und Billionen Euro an „Pandemie-Nothilfe“ in den Rachen zu stopfen.

Die World Socialist Web Site, die Sozialistische Gleichheitspartei und alle ihre Schwesterparteien auf der ganzen Welt lehnen dieses gefährliche Experiment ab. Wir fordern die Jugendlichen, wie auch die Lehrer, Erzieher und Eltern dazu auf, aktiv zu werden und den Kampf dagegen aufzunehmen.

In einer am 6. Juli auf der WSWS veröffentlichten Erklärung ruft die Socialist Equality Party (SEP) in den USA zu einem „landesweiten Generalstreik gegen die Wiedereröffnung der Schulen“ auf. Um eine solche Bewegung zu organisieren und zum Erfolg zu führen müssten Lehrer „unabhängige Aktionskomitees aufbauen“, sich mit „anderen Teilen der Arbeiterklasse vereinen“ und einen Kampf für die Umgestaltung der Gesellschaft nach sozialistischen Prinzipien aufnehmen.

„Alle Rechte der Arbeiterklasse, sogar das Recht auf Leben, hängen davon ab, dass die herrschende Klasse enteignet und das Wirtschaftsleben auf der Grundlage der sozialen Bedürfnisse, nicht des privaten Profits, neuorganisiert wird“, schreibt die SEP. „Die Wiedereröffnung der Schulen, die Ausbreitung der Pandemie und Millionen weitere Infektionen und Todesfälle können nur gestoppt werden, wenn die Arbeiterklasse in einem revolutionären Kampf gegen das kapitalistische System mobilisiert wird und damit die Ursache des ganzen Leids, das die Pandemie ausgelöst hat, beseitigt.“

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