Trotzkis letztes Jahr

Teil 5

Dies ist der fünfte Teil einer mehrteiligen Serie. Der erste Teil wurde am 24. August, der zweite Teil am 25. August, der dritte Teil am 1. September und der vierte Teil am 5. September 2020 veröffentlicht.

In den Gesprächen mit James P. Cannon und Farrell Dobbs während des Besuchs einer Delegation der Socialist Workers Party im Juni 1940 in Coyoacán hatte sich Trotzki besorgt gezeigt, dass die SWP in ihrer Gewerkschaftsarbeit eine zu syndikalistische Orientierung einnimmt. Sie widmete den politischen Fragen, d. h. der revolutionären sozialistischen Strategie, zu wenig Aufmerksamkeit. Das wurde in der Anpassung der SWP an die Roosevelt-Gewerkschafter deutlich, die Trotzki als „eine furchtbare Gefahr“ bezeichnete. [1] „Bolschewistische Politik beginnt außerhalb der Gewerkschaften“, erinnerte Trotzki die SWP-Führer. [2]

Offensichtlich wollte Trotzki die Diskussion über die Fragen, die während des Besuchs der SWP-Vertreter aufgekommen waren, fortsetzen und vertiefen. Nach ihrer Abreise aus Mexiko begann Trotzki mit der Arbeit an einem Artikel über die Gewerkschaften. Der Entwurf wurde nach Trotzkis Ermordung auf seinem Schreibtisch gefunden und posthum unter dem Titel „Die Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Niedergangs“ in der Februar-Ausgabe 1941 der theoretischen Zeitschrift Vierte Internationale veröffentlicht.

Leo Trotzki und seine Frau Natalja Sedowa

Trotzki versuchte – wie es für seine Schriften charakteristisch ist –, die Analyse der Gewerkschaften in den richtigen historischen und internationalen Kontext zu stellen. Er untersuchte die grundlegenden Prozesse, die jenseits der persönlichen Motive und Erklärungsmuster der einzelnen Gewerkschaftsführer die Politik dieser Organisationen bestimmten. Nur auf dieser objektiven Grundlage war es möglich, eine marxistische und damit wirklich revolutionäre Herangehensweise an die Arbeit in den Gewerkschaften zu entwickeln. Am Anfang seines Artikels bestimmt Trotzki in präzisen Worten den Platz der Gewerkschaften in der kapitalistischen Weltordnung:

Es gibt in der Entwicklung, oder besser, in der Degeneration der gegenwärtigen Gewerkschaftsorganisationen der ganzen Welt einen allen gemeinsamen Zug: die Annäherung an die Staatsgewalt und das Verschmelzen mit ihr. Dieser Prozess charakterisiert die unpolitischen Gewerkschaften in gleicher Weise wie die sozialdemokratischen, kommunistischen und „anarchistischen“. Allein diese Tatsache beweist schon, dass die Tendenz zum Verwachsen mit der Staatsgewalt nicht aus dieser oder jener Doktrin, sondern aus allgemein gesellschaftlichen Bedingungen entspringt, denen alle Gewerkschaften in gleicher Weise unterworfen sind.

Der Monopolkapitalismus fußt nicht auf Privatinitiative und freier Konkurrenz, sondern auf zentralisiertem Kommando. Die kapitalistischen Cliquen an der Spitze mächtiger Trusts, Syndikate, Bankkonsortien usw. sehen das Wirtschaftsleben ganz von derselben Höhe wie die Staatsgewalt und benötigen bei jedem Schritt deren Mitarbeit. Ihrerseits finden sich die Gewerkschaften in den wichtigsten Zweigen der Industrie der Möglichkeit beraubt, die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Unternehmen auszunützen. Sie haben einem zentralisierten, eng mit der Staatsgewalt verbundenen kapitalistischen Widersacher zu begegnen. [3]

Ausgehend von diesem allgemeinen Merkmal der modernen kapitalistischen Entwicklung argumentierte Trotzki, dass die Gewerkschaften, insoweit sie den kapitalistischen Rahmen akzeptieren, keine unabhängige Position haben konnten. Die Gewerkschaftsführer – die Bürokratie – versuchen, den Staat auf ihre Seite zu ziehen. Damit haben sie aber nur Erfolg, wenn sie zeigen können, dass ihre Interessen nicht unabhängig vom kapitalistischen Staat oder ihm sogar feindlich gesonnen sind. Um das Ausmaß und die Folgen dieser Unterordnung unter den Staat deutlich zu machen, schrieb Trotzki: „Indem der Faschismus die Gewerkschaften in Organe des Staates verwandelt, erfindet er nichts Neues; er entwickelt nur die dem Imperialismus innewohnenden Tendenzen zu ihrer letzten Schlussfolgerung.“ [4] Trotzki betonte, dass die Entwicklung des modernen Imperialismus erforderte, jeglichen Anschein von Demokratie in den alten Gewerkschaften auszumerzen. „In Mexiko“, so bemerkte er, „wurden die Gewerkschaften durch ein Gesetz in halbstaatliche Einrichtungen verwandelt und nahmen dadurch, der Natur der Dinge entsprechend, halbtotalitären Charakter an.“ [5]

Trotzki beharrte darauf, dass Revolutionäre weiterhin in den Gewerkschaften arbeiten mussten, weil noch immer Massen von Arbeitern in ihnen organisiert waren. Aus demselben Grund, und nur aus diesem Grund, konnten die Revolutionäre, so Trotzki, „nicht auf den Kampf innerhalb der vom Faschismus geschaffenen Zwangsorganisationen verzichten“. [6] Trotzki glaubte sicherlich nicht, dass faschistische Gewerkschaften „Arbeiterorganisationen“ in dem Sinne waren, dass sie die Interessen der Arbeiterklasse vertraten. Die Arbeit in den Gewerkschaften war eine taktische Notwendigkeit, die keine Versöhnung mit der Bürokratie, geschweige denn ein Vertrauensvotum für diese reaktionäre Schicht bedeutete. Die Marxisten intervenierten in den Gewerkschaften unter allen Bedingungen, „um die Massen nicht nur gegen die Bourgeoisie zu mobilisieren, sondern auch gegen das totalitäre Regime innerhalb der Gewerkschaften selbst und gegen die Führer, welche dieses Regime aufrechterhalten“. [7]

Trotzki schlug zwei Losungen vor, auf die sich der Kampf gegen die bürokratischen Agenten des Imperialismus stützen sollte. Die erste war die „vollständige und bedingungslose Unabhängigkeit der Gewerkschaften vom kapitalistischen Staat. Dies bedeutet einen Kampf für die Umwandlung der Gewerkschaften von einem Organ der Arbeiteraristokratie in ein Organ der breiten, ausgebeuteten Massen.“ (Hervorhebung im Original) [8] Aber um das zu erreichen, war es unumgänglich, die Arbeitermassen für die revolutionäre Partei und das Programm des Sozialismus zu gewinnen.

Im Hinblick auf die Situation in den Vereinigten Staaten betrachtete Trotzki das plötzliche Entstehen von Industriegewerkschaften als eine wichtige Entwicklung. Die Gründung des Gewerkschaftsbunds CIO (Congress of Industrial Organizations) sei „der unwiderlegliche Beweis für die revolutionären Tendenzen innerhalb der arbeitenden Massen“. [9] Aber die Schwäche der neuen Gewerkschaften war bereits offenkundig.

Im höchsten Grade bezeichnend und bemerkenswert ist jedoch die Tatsache, dass die neue „linke“ Gewerkschaftsorganisation, kaum gegründet, auch schon in die eiserne Umarmung durch den imperialistischen Staat fiel. Der Kampf zwischen den Leitungen der alten und der neuen Föderation kann weitgehend auf den Kampf um Roosevelts und seines Kabinetts Sympathie und Unterstützung reduziert werden. [10]

Die Zuspitzung der globalen Krise des Kapitalismus und die wachsenden sozialen Spannungen führten zu einem scharfen Rechtsruck innerhalb der Gewerkschaften in den Vereinigten Staaten und weltweit. Sie gingen dazu über, den Widerstand der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus noch vehementer zu unterdrücken. „Die Führer der Gewerkschaften fühlten, verstanden, oder man gab es ihnen zu verstehen, dass heute nicht Zeit war, Opposition zu spielen“, erklärte Trotzki. Die Gewerkschaftsfunktionäre waren keine unschuldigen Zuschauer, als die repressivsten Formen der bürgerlichen Herrschaft gestärkt wurden. „Der Grundzug, die Annäherung an das totalitäre Regime, geht durch die Arbeiterbewegung der ganzen Welt“, stellte Trotzki schonungslos fest. [11]

In dem Maße, wie die Socialist Workers Party auch nur geringste Illusionen in die Möglichkeit freundschaftlicher Beziehungen mit den „progressiven“ Gewerkschaftsführern hegte, überging sie die historische Rolle der Arbeiterbürokratien in der Epoche des Imperialismus. Wie Trotzki die sehr mutige, aber überraschend naive Genossin Antoinette Konikow von der SWP-Delegation gewarnt hatte: „Lewis [der berühmte Führer der United Mine Workers] würde uns sehr effizient töten...“ [12]

Im letzten Absatz seines Artikels fasst Trotzki die historische Situation zusammen, mit der die Gewerkschaften konfrontiert waren:

Demokratische Gewerkschaften im alten Sinne des Wortes, das heißt, Körperschaften, wo im Rahmen ein und derselben Massenorganisation verschiedene Tendenzen mehr oder weniger frei kämpften, können nicht mehr länger bestehen. Es ist ebenso unmöglich, die alte Arbeiterdemokratie zurückzubringen, wie es unmöglich ist, den bürgerlich-demokratischen Staat wiederherzustellen; ihr Schicksal widerspiegelt das seine. Es ist eine Tatsache, dass die klassenmäßige Unabhängigkeit der Gewerkschaften hinsichtlich des bürgerlichen Staates unter den gegenwärtigen Bedingungen nur durch eine vollkommen revolutionäre Führung, das heißt, nur durch die der Vierten Internationale gesichert werden kann. Diese Führung kann und muss natürlich den Gewerkschaften das Höchstmaß der unter den augenblicklichen konkreten Bedingungen vorstellbaren Demokratie sichern. Aber ohne eine politische Führung der Vierten Internationale ist die Unabhängigkeit der Gewerkschaften unmöglich. [13]

Diese Worte wurden vor achtzig Jahren geschrieben. Trotzkis Analyse über die Degeneration der Gewerkschaften – ihre Integration in die Staatsgewalt und die Unternehmensleitung – war außerordentlich weitsichtig. Die „Tendenz zum Verwachsen“ der Gewerkschaften mit dem Staat und den kapitalistischen Konzernen setzte sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg fort. Die globale Integration der Weltwirtschaft und die transnationalen Produktionsprozesse entzogen den Gewerkschaften den nationalen Boden, auf dem sie Druck für begrenzte Sozialreformen ausüben konnten. Selbst für die bescheidensten Methoden des Klassenkampfs, um minimale Erfolge zu gewinnen, gab es keine Grundlage mehr. Statt den Konzernen Zugeständnisse abzuringen, verwandelten sich die Gewerkschaften in Anhängsel des Staats und der Unternehmen, die den Arbeitern Zugeständnisse abpressen.

Somit ist jede Spur von „Arbeiterdemokratie“ aus diesen bürokratischen und korporatistischen Organisationen, die als Gewerkschaften bezeichnet werden, verschwunden. Die alte Terminologie hat sich erhalten. Korporatistische Verbände wie die AFL-CIO und ihre Partnerorganisationen werden nach wie vor „Gewerkschaften“ genannt. Aber die tatsächliche Praxis dieser Organisationen steht in keiner Beziehung zu der sozioökonomischen Funktion, die traditionell mit dem Wort „Gewerkschaft“ verbunden wird. Die Praxis der revolutionären Partei kann sich nicht auf den unkritischen Gebrauch einer Bezeichnung stützen, die nicht die Veränderung des Phänomens widerspiegelt, das sie beschreiben soll. Die Degeneration der alten Organisationen kann nicht einfach dadurch überwunden werden, dass man sie „Gewerkschaften“ nennt. Wie Trotzki im September 1939, am Anfang des Kampfs gegen Shachtman und Burnham, betonte: „Wir müssen die Tatsachen so nehmen, wie sie sind. Wir müssen unsere Politik entwickeln, indem wir von den wirklichen Verhältnissen und Widersprüchen ausgehen.“ [14]

Der Kampf für Arbeiterdemokratie und die vollständige Unabhängigkeit der Organisationen der Arbeiterklasse ist bis heute entscheidend für ein revolutionäres Programm. Aber diese Perspektive lässt sich nicht verwirklichen, indem man die alten Organisationen erneuert. Nach einem Degenerationsprozess, der seit über achtzig Jahren andauert, ist die Wiederbelebung der alten Gewerkschaften unter einigermaßen normalen Umständen praktisch ausgeschlossen. Der alternative strategische Kurs, den Trotzki 1938 im Übergangsprogramm skizzierte, entspricht den heutigen Bedingungen und erfordert, „überall da, wo es möglich ist, eigenständige Kampforganisationen zu schaffen, die den Aufgaben des Massenkampfes gegen die bürgerliche Gesellschaft besser entsprechen und nötigenfalls auch vor einem offenen Bruch mit dem konservativen Apparat der Gewerkschaften nicht zurückschrecken“. [15]

* * * * *

Am 7. August 1940, genau zwei Wochen vor seinem Tod, nahm Trotzki an einer Diskussion über „amerikanische Probleme“ teil. In seiner Antwort auf eine Frage zur Einberufung in die Armee bestand Trotzki darauf, dass sich Parteimitglieder nicht der Wehrpflicht entziehen sollten. Unter Bedingungen, da die ganze Generation für den Krieg mobilisiert wird, wäre es ein Fehler, die Mitglieder aus der Armee herauszuhalten. Die SWP könne sich der Realität des Kriegs nicht entziehen:

Wir sollten begreifen, dass sich das Leben dieser Gesellschaft, die Politik, alles am Krieg orientieren wird. Und deswegen muss sich auch das revolutionäre Programm am Krieg orientieren. Wenn der Krieg eine Tatsache ist, dann können wir ihn nicht mit Wunschträumen und frommem Pazifismus bekämpfen. Wir müssen uns in dem Rahmen zurechtfinden, den diese Gesellschaft geschaffen hat. Dieser Rahmen ist furchtbar – es ist der Krieg –, aber insofern wir schwach sind und das Schicksal der Gesellschaft nicht in unsere Hände nehmen können, insofern weiter die herrschende Klasse stark genug ist, uns diesen Krieg aufzuzwingen, müssen wir diesen Rahmen gezwungenermaßen für unsere Aktivitäten akzeptieren. [16]

Trotzki erkannte, dass Massen von Arbeitern berechtigterweise einen tief verwurzelten Hass auf Hitler und den Nationalsozialismus hegten. Die Partei musste ihre Agitation und die Formulierung ihrer Politik der konfusen patriotischen Stimmung anpassen, ohne Zugeständnisse an den nationalen Chauvinismus zu machen.

Wir können der Militarisierung nicht entkommen, aber innerhalb dieser Maschinerie können wir eine Klassenlinie vertreten. Die amerikanischen Arbeiter wollen nicht von Hitler erobert werden, und denjenigen, die für ein „Friedensprogramm“ eintreten, werden die Arbeiter antworten, „Hitler will aber kein Friedensprogramm“. Deswegen sagen wir: Wir werden die Vereinigten Staaten mit einer Arbeiterarmee verteidigen, mit Arbeiteroffizieren, mit einer Arbeiterregierung usw. Wenn wir keine Pazifisten sind, die auf eine bessere Zukunft warten, und wenn wir aktive Revolutionäre sind, dann besteht unsere Aufgabe darin, die gesamte Kriegsmaschinerie zu durchdringen. […]

Wir müssen das Beispiel von Frankreich voll ausnutzen. Wir müssen sagen: „Ich warne Euch, Arbeiter, sie (die Bourgeoisie) werden Euch verraten! Schaut Euch nur Pétain an [der französische General, der das Vichy-Regime anführte und Frankreich im Namen Hitlers regierte], der ein Freund Hitlers ist. Soll uns in unserem Land dasselbe passieren? Wir müssen unsere eigene Maschinerie schaffen, unter Arbeiterkontrolle.“ Wir müssen sorgfältig darauf achten, dass wir uns nicht mit den Chauvinisten oder den konfusen Selbsterhaltungsgefühlen identifizieren, aber wir müssen ihre Gefühle verstehen und uns kritisch an diese Gefühle anpassen, um die Massen zu einem besseren Verständnis der Lage zu führen. Sonst werden wir eine Sekte bleiben, schlimmstenfalls eine pazifistische Sekte. [17]

Trotzki wurde gefragt, welche Folgen die politische Rückständigkeit der amerikanischen Arbeiter für den Widerstand gegen die Ausbreitung des Faschismus habe. Er warnte daraufhin vor einer vereinfachenden und einseitigen Beurteilung der Arbeiterklasse. „Die Rückständigkeit der Arbeiterklasse der Vereinigten Staaten ist nur ein relativer Begriff. In vielen sehr wichtigen Aspekten ist sie die fortschrittlichste Arbeiterklasse der Welt – sowohl in technischer Hinsicht als auch gemessen an ihrem Lebensstandard.“ [18] In jedem Fall würden die objektiven Veränderungen der Entwicklung des Klassenbewusstseins einen starken Impuls verleihen. Trotzki betonte die Widersprüche in der Entwicklung der amerikanischen Arbeiterklasse:

Der amerikanische Arbeiter ist sehr kämpferisch – wie wir in den Streiks gesehen haben. Sie haben die rebellischsten Streiks der Welt hinter sich. Was der amerikanische Arbeiter nicht hat, ist der Sinn für eine Verallgemeinerung oder Analyse seiner Klassenposition in der Gesellschaft als Ganzes. Dieser Mangel an gesellschaftlichem Bewusstsein hat seinen Ursprung in der gesamten Geschichte des Landes – der Wilde Westen der unbegrenzten Möglichkeiten, die Aussicht für jedermann, reich zu werden, usw. Jetzt ist all das verschwunden, aber das Denken bleibt in der Vergangenheit verhaftet. Idealisten meinen, die Mentalität der Menschen sei fortschrittlich, aber in Wirklichkeit ist sie das konservativste Element der Gesellschaft. Eure Technik ist fortschrittlich, aber die Mentalität der Arbeiter hinkt weit hinterher. Ihre Rückständigkeit ergibt sich aus ihrer Unfähigkeit, die Probleme zu verallgemeinern; sie betrachten alles aus einem persönlichen Blickwinkel. [19]

Doch trotz aller objektiven Schwierigkeiten bei der Entwicklung des Massenbewusstseins wies Trotzki die Ansicht zurück, die USA stünden am Rande des Faschismus. „Die nächste historische Periode in den Vereinigten Staaten“, sagte er voraus, „wird von einer Welle der Radikalisierung der Massen bestimmt sein, nicht vom Faschismus.“ Eine wesentliche Voraussetzung für den Sieg des Faschismus war die politische Demoralisierung der Arbeiterklasse. Diese Demoralisierung existierte in den Vereinigten Staaten nicht. Deshalb zeigte sich Trotzki gegenüber den Interviewern zuversichtlich: „Ich bin sicher, dass es viele Möglichkeiten geben wird, in den Vereinigten Staaten die Macht zu erobern, bevor die Faschisten zu einer dominierenden Kraft werden können.“ [20]

Trotzkis Analyse des Faschismus war dialektisch und aktiv, nicht mechanisch und passiv. Die Gefahr des Faschismus konnte nicht allein auf der Grundlage quantitativer Maßstäbe bestimmt werden. Der Sieg des Faschismus war nicht nur das Ergebnis des zahlenmäßigen Wachstums seiner Anhänger, ergänzt durch die offene und verdeckte Sympathie und Unterstützung der kapitalistischen Eliten und des bürgerlichen Staatsapparats. Nach der Diskussion vom 7. August diktierte Trotzki einen weiteren Artikel, der posthum unter dem Titel „Bonapartismus, Faschismus und Krieg“ in der Oktoberausgabe 1940 der Vierten Internationale veröffentlicht wurde.

In diesem Artikel wollte Trotzki nicht nur die Fragen aus der Diskussion vom 7. August klären, sondern auch einen Aufsatz von Dwight Macdonald beantworten, einem Unterstützer der Shachtman-Burnham-Minderheit. Macdonalds Essay, der in der Ausgabe vom Juli/August 1940 der linken Zeitschrift Partisan Review erschienen war, brachte die Demoralisierung und Skepsis der kleinbürgerlichen Intellektuellen zum Ausdruck, die mit dem Marxismus gebrochen hatten und nach rechts gingen. Beeindruckt von Hitlers militärischen Erfolgen erklärte Macdonald das Naziregime zu „einer neuen Gesellschaftsform“, deren Langlebigkeit Trotzki unterschätzt habe. [21]

Derselbe oberflächliche Impressionismus, der die kleinbürgerliche Minderheit zu ihren theoretischen Improvisationen in Bezug auf die Sowjetunion motivierte, wurde von Macdonald auf das Dritte Reich angewandt. Völlig willkürlich behauptete er, dass die deutsche Wirtschaft unter Hitler „auf der Grundlage der Produktion und nicht des Profits organisiert ist“ – eine leere Phrase, die gar nichts erklärt. [22] Macdonald schrieb, dass „diese modernen totalitären Regime keine vorübergehenden Erscheinungen sind: Sie haben bereits die zugrundeliegende wirtschaftliche und soziale Struktur verändert, indem sie die alten Formen nicht nur verändert, sondern auch ihre innere Lebenskraft zerstört haben.“ [23]

Macdonald behauptete, dass „die Nazis gewonnen haben, weil sie eine neue Art von Krieg führten, der so deutlich wie Napoleons militärische Neuerungen eine neue Gesellschaftsform zum Ausdruck brachte“, die den alten kapitalistischen Systemen ihrer Gegner überlegen war. [24] Macdonalds ignorante Idealisierung des NS-Wirtschaftssystems hatte mit der Realität wenig zu tun. Ende der 1930er Jahre stand der deutsche Kapitalismus am Rande des Abgrunds. Zwischen 1933 und 1939 verdreifachte sich die Staatsverschuldung, und das Regime hatte Mühe, die Zinszahlungen zu leisten. Es ist weithin anerkannt, dass Hitlers Entscheidung für den Krieg in hohem Maße von der Furcht vor einem wirtschaftlichen Zusammenbruch getrieben war. Wie der Historiker Tim Mason erklärte:

Die einzige „Lösung“ des Regimes für die strukturellen Spannungen und Krisen, die durch Diktatur und Aufrüstung hervorgerufen wurden, war mehr Diktatur und mehr Aufrüstung, dann Expansion, dann Krieg und Terror, dann Plünderung und Versklavung. Die nackte und allgegenwärtige Alternative war Zusammenbruch und Chaos. Deshalb waren alle Lösungen vorübergehend, hektisch, armselig, immer barbarischere Improvisationen des einen brutalen Themas. ... Ein Raubkrieg für Arbeitskräfte und Rohstoffe ergab sich aus der unerbittlichen Logik der deutschen Wirtschaftsentwicklung unter nationalsozialistischer Herrschaft. [25]

Trotzki sprach von einem „sehr prätentiösen, sehr verwirrten und einfältigen Artikel“ von Macdonald. [26] Er hielt es nicht für notwendig, Zeit darauf zu verwenden, Macdonalds Analyse der NS-Gesellschaft zu widerlegen. Aber Trotzki antwortete auf die für einen demoralisierten Intellektuellen typische Unfähigkeit, die politische Dynamik zu untersuchen, die dem Vormarsch des Faschismus zugrunde lag. Der Sieg der Faschisten ergab sich vor allem aus dem katastrophalen Versagen der Führung der Massenparteien und -organisationen der Arbeiterklasse. Der Faschismus ist die politische Strafe für die Arbeiterklasse, die die Möglichkeiten zum Sturz des kapitalistischen Systems vergeudet hat. Warum hat der Faschismus triumphiert? Trotzki schrieb:

Die theoretische Analyse wie die reiche historische Erfahrung des letzten Viertel­jahrhunderts zeigen in gleichem Maße, dass der Faschismus jedes Mal die Schlussphase eines spezifischen politischen Zyklus bildet, der aus folgenden Momenten besteht: schwerste Krise der kapitalistischen Gesellschaft; steigende Radikalisierung der Arbeiterklasse; wachsende Sympathie für die Arbeiterklasse und Sehnsucht nach einer Veränderung beim ländlichen und städtischen Kleinbürgertum; äußerste Verwirrung beim Großbürgertum, das mit feigen und betrügerischen Manövern versucht, den revolutionären Siedepunkt zu vermeiden; Erschöpfung des Proletariats, zunehmende Verwirrung und Indifferenz; Verschärfung der sozialen Krise; Verzweiflung des Kleinbürgertums, das noch immer eine Veränderung ersehnt; kollektive Neurose des Kleinbürgertums – seine Bereitschaft, an Wunder zu glauben, seine Bereitschaft für Gewaltmaßnahmen; wachsende Feindseligkeit gegenüber dem Proletariat, das die kleinbürgerlichen Erwartungen enttäuscht hat. Das sind die Voraussetzungen für die rasche Formierung einer faschistischen Partei und für deren Sieg. [27]

In der amerikanischen Entwicklung sei die Situation für die Faschisten noch nicht günstig, so Trotzki. „Es ist ganz evident, dass die Radikalisierung der Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten erst die Anfangsphasen durchlaufen hat, fast ausschließlich auf den Bereich der Gewerkschaftsbewegung (CIO) beschränkt ist.“ [28] Die Faschisten hatten eine defensive Haltung eingenommen. All jenen, die zweifelten, ob ein revolutionärer Sieg möglich sei, aber selbst abseitsstanden, entgegnete Trotzki:

Nichts ist unwürdiger, als darüber zu spekulieren, ob es uns gelingen wird, eine starke revolutionäre Führungspartei aufzubauen. Voraus liegt eine günstige Perspektive, die den revolutionären Aktivismus vollauf rechtfertigt. Es ist nötig, die Chancen, die sich auftun, zu nutzen und die revolutionäre Partei aufzubauen. …

Die Reaktion verfügt heute vielleicht über größere Macht als je zuvor in der modernen Geschichte der Menschheit. Aber es wäre ein unentschuldbarer Fehler, nur die Reaktion zu sehen. Der historische Prozess ist ein widersprüchlicher. Unter der Decke offizieller Reaktion vollziehen sich in den Massen tiefgreifende Prozesse, sie sammeln Erfahrung und werden für neue politische Perspektiven empfänglich. Die alte konservative Tradition des demokratischen Staats, die selbst in der Ära des letzten imperialistischen Krieges noch so stark war, existiert heute nur noch als ein höchst labiles Relikt. Am Vorabend des letzten Krieges hatten die europäischen Arbeiter zahlenmäßig starke Parteien. Aber auf deren Tagesordnung standen Reformen, Teilerfolge, – keineswegs die Machteroberung.

Die amerikanische Arbeiterklasse hat selbst heute noch keine Arbeiter-Massenpartei. Aber die objektive Lage und die Erfahrung, die die amerikanischen Arbeiter gesammelt haben, können binnen kurzem die Frage der Machteroberung auf die Tagesordnung setzen. Diese Perspektive müssen wir zur Basis unserer Agitation machen. Es handelt sich für uns nicht nur um die Haltung zum kapitalistischen Militarismus und um die Weigerung, den Bourgeois-Staat zu verteidigen, sondern um die direkte Vorbereitung zur Machteroberung und zur Verteidigung des proletarischen Vaterlandes. [29]

Macdonald verkörperte die rasch wachsende Schicht demoralisierter kleinbürgerlicher Intellektueller, die im Sieg des Faschismus die entscheidende Widerlegung des Marxismus und der gesamten sozialistischen Perspektive sahen. Die Situation war im Grunde genommen hoffnungslos. Macdonald schrieb:

Ist die Arbeiterklasse nicht überall dort, wo sie dem faschistischen Joch bisher entkommen ist, auf dem vollen Rückzug? Und selbst wenn die Arbeiter später einige Anzeichen einer Revolte zeigen, wo werden sie ihre Führung finden? Bei der korrupten und diskreditierten Zweiten oder Dritten Internationale? Bei den winzigen, isolierten revolutionären Gruppen, die durch sektiererische Streitereien gespalten sind? Und schließlich: Ist nicht die Autorität des Marxismus selbst, die eigentliche Quelle aller revolutionären Wissenschaft, erschüttert worden durch das Versagen seiner Jünger, in der Praxis und im theoretischen Verständnis angemessene Antworten auf die historischen Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte zu geben?

Ich muss zugeben, dass diese Fragen, gelinde gesagt, gerechtfertigt sind. Die Form von „revolutionärem Optimismus“, der in bestimmten Kreisen beliebt ist – ein Optimismus, der umso hartnäckiger und irrationaler wird, je schlimmer sich die Dinge entwickeln –, scheint mir der Sache des Sozialismus keinen Dienst zu erweisen. Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass die revolutionäre Bewegung in den letzten zwanzig Jahren eine ununterbrochene Serie von großen Katastrophen erlitten hat. Wir müssen mit einem kühlen und kritischen Blick erneut die grundlegendsten Voraussetzungen des Marxismus prüfen. [30]

Macdonald wählte als Überschrift für seinen Grabgesang tatsächlich „Das Plädoyer für Sozialismus“. Wie seine eigene Entwicklung bald beweisen sollte, war es aber vielmehr ein Plädoyer für die Zurückweisung des Sozialismus.

Die demoralisierten Skeptiker erklärten den Marxismus für gescheitert, weil angeblich „an Stelle des Sozialismus der Faschismus kam“, bemerkte Trotzki. Doch die Skeptiker offenbarten in ihrer Kritik neben ihrer persönlichen Demoralisierung auch eine mechanische und passive Geschichtsauffassung. Marx hatte nicht den Sieg des Sozialismus versprochen; er enthüllte nur die objektiven Widersprüche in der kapitalistischen Gesellschaft, die den Sozialismus möglich machen. Aber er hat nie behauptet, dass dies automatisch erreicht wird. In der Tat führten Marx, Engels und Lenin einen unerbittlichen Kampf gegen alle politischen Tendenzen – Opportunisten wie Anarchisten –, die den Kampf für Sozialismus untergruben. Wie Trotzki schrieb, waren sie sich bewusst, dass eine schlechte Führung, „die dem Einfluss der Bourgeoisie unterliegt, die Erfüllung der revolutionären Aufgabe hindern, verlangsamen, schwieriger machen, aufschieben könnte“. [31]

Nicht zuletzt hatte das Versagen der Führung der Arbeiterklasse die bestehende Situation geschaffen.

Der Faschismus kam keineswegs „an Stelle“ des Sozialismus. Der Faschismus ist die Fortsetzung des Kapitalismus, ein Versuch, dessen Existenz mit bestialischen und monströsen Mitteln zu verlängern. Der Kapitalismus erhielt die Gelegenheit, zum Faschismus seine Zuflucht zu nehmen, nur darum, weil das Proletariat die sozialistische Revolution nicht rechtzeitig durchführte. Das Proletariat wurde bei der Erfüllung seiner Aufgabe durch die opportunistischen Parteien gelähmt. Das einzige, was man sagen kann, ist, dass sich der Weg der revolutionären Entwicklung des Proletariats als reicher an Hindernissen, Schwierigkeiten und Etappen erwiesen hat, als die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus voraussahen. Der Faschismus und die Serie von imperialistischen Kriegen sind eine furchtbare Schule, in der sich das Proletariat von kleinbürgerlichen Traditionen und kleinbürgerlichem Aberglauben, von opportunistischen, demokratischen und abenteurerischen Parteien befreien muss, – in der es die revolutionäre Avantgarde schmieden und schulen muss und sich so auf die Lösung der Aufgabe vorbereitet, ohne die es für die Entwicklung der Menschheit keine Hoffnung gibt. [32]

Fortsetzung folgt

[1] „Discussions with Trotsky“, in: Writings of Leon Trotsky 193940, New York 1973, S. 273, zitiert bei David North, Das Erbe, das wir verteidigen, 2. Aufl., Essen 2019, S. 91.

[2] Ebd.

[3] Leo Trotzki, „Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Niedergangs“, in: Marxismus und Gewerkschaften, Essen 1976, S. 9f.

[4] Ebd., S. 10.

[5] Ebd., S. 10f.

[6] Ebd., S. 11f.

[7] Ebd., 12.

[8] Ebd.

[9] Ebd., S. 16.

[10] Ebd.

[11] Ebd., S. 17.

[12] „Discussions with Trotsky“, S. 267 (aus dem Englischen).

[13] Trotzki, „Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Niedergangs“, S. 19.

[14] Leo Trotzki, „Die UdSSR im Krieg“, in: Verteidigung des Marxismus, Essen 2006, S. 23.

[15] Leo Trotzki, „Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale“, in: Das Übergangsprogramm, Essen 1997, S. 91.

[16] Leon Trotsky „Some Questions on American Problems“, in: Writings of Leon Trotsky 193940, S. 331, zitiert in: North, Das Erbe, das wir verteidigen, S. 133f.

[17] Ebd., S. 333–34, zitiert in: North, Das Erbe, das wir verteidigen, S. 134–37.

[18] Ebd., S. 335 (aus dem Englischen).

[19] Ebd., S. 335–37.

[20] Ebd., S. 333–38.

[21] Dwight Macdonald, „Socialism and National Defense“, in: Partisan Review, Juli/August 1940, S. 252 (aus dem Englischen).

[22] Ebd., S. 254.

[23] Ebd., S. 256.

[24] Ebd., S. 252.

[25] Timothy Mason, „Some Origins of the Second World War“ (1964), in: Nazism, Fascism, and the Working Class. Essays by Tim Mason, Cambridge 1995, S. 51 (aus dem Englischen).

[26] „[Trotzkis letzter Artikel] (20.8.1940)“, in: Trotzki. Schriften über Deutschland, Band 2, Frankfurt am Main 1971, S. 732.

[27] Ebd., S. 735.

[28] Ebd.

[29] Ebd., S. 735f.

[30] Macdonald, „Socialism and National Defense“, S. 266 (aus dem Englischen).

[31] „[Trotzkis letzter Artikel] (20.8.1940)“, S. 739.

[32] Ebd., S. 739f.

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