Kosovos Präsident Thaçi wegen Kriegsverbrechen angeklagt

Der Präsident des Kosovo, Hashim Thaçi, muss sich wegen Kriegsverbrechen vor einem Sondergericht in Den Haag verantworten. Ihm und neun weiteren Angeklagten werden hundertfacher Mord sowie Verfolgung und Folter während des Kriegs gegen Serbien 1998/99 vorgeworfen.

Hashim Thaci auf der Münchner Sicherheitskonferenz (Bild: Moerk / MSC)

Das Kosovo-Sondertribunal bestätigte diese Woche die Anklage der Staatsanwaltschaft, die bereits seit Juni vorliegt. Thaçi, dessen Regime von der militärischen und finanziellen Unterstützung der Westmächte abhängig ist, trat darauf von seinem Amt zurück. Er wies alle Vorwürfe zurück und denunzierte die Anklage, erklärte sich aber bereit, vor Gericht zu erscheinen.

Bemerkenswert an dieser Entwicklung ist nicht, dass Thaçi vor Gericht gestellt wird, sondern dass es erst jetzt geschieht. Es ist seit langem bekannt, dass die „Befreiungsarmee des Kosovo“ (UÇK), zu deren Führern Thaçi zählte, in politische Morde, ethnische Säuberungen und mafiöse Verbrechen verstrickt war. Auch Thaçis spätere politische Karriere wurde von kriminellen Machenschaften begleitet. Aber er genoss den Schutz der USA und der europäischen Mächte, denen er half, den Balkan ihren imperialistischen Interessen zu unterwerfen.

Neben Thaçi und seinen UÇK-Komplizen gehören deshalb auch die westlichen Politiker auf die Anklagebank, die ihn benutzt und politisch gefördert haben – allen voran Joschka Fischer und Madeleine Albright, die Außenminister Deutschlands und der USA zur Zeit des Jugoslawien-Krieges, aber auch der neugewählte US-Präsident Joe Biden, der Thaçi noch 2010 anlässlich eines Besuchs im Weißen Haus gelobt hatte, er sei der „George Washington des Kosovo“.

In den 1990er Jahren wurde die UÇK, die vom Exil aus Anschläge auf serbische Militäreinheiten und Polizeistationen im Kosovo organisierte, selbst von der CIA noch als Terrororganisation eingestuft. Doch das änderte sich, als die USA und Deutschland einen Vorwand brauchten, Serbien anzugreifen, das ihren Bemühungen im Weg stand, Jugoslawien vollständig aufzubrechen und die Balkanregion unter ihre Vorherrschaft zu bringen.

Thaçi, der politische Sprecher der UÇK, wurde im Februar 1999 von Albright und Fischer als offizieller Vertreter des Kosovo zur Konferenz von Rambouillet eingeladen. Die Konferenz stellte Serbien ein unannehmbares Ultimatum, das als Vorwand für die Bombardierung Jugoslawiens diente. Die UÇK wurde im Krieg gegen Jugoslawien zur offiziellen Fußtruppe der Nato und beging in dieser Funktion die Verbrechen, für die sich Thaçi nun verantworten muss.

Nach der gewaltsamen Abspaltung des Kosovo von Serbien gingen aus der UÇK mehrere politische Parteien hervor. Thaçi wurde im Kosovo zur dominierenden politischen Figur: er war Außenminister, mehrfach Regierungschef und ab 2016 Präsident. Unter dem Schutz der UN-Mission UNIMIK setzten Thaçi und andere ehemalige UÇK-Kommandeure die Vertreibung von Serben, Roma und anderen Minderheiten fort und verbreiteten Angst und Schrecken. 2008 erklärte der Kosovo mit Unterstützung der USA und Deutschlands einseitig seine Unabhängigkeit von Serbien.

Alle Versuche, die Kriegsverbrechen der UÇK aufzuklären, scheiterten. Wer es wagte auszusagen, verwirkte sein Leben. Unerklärliche Autounfälle, angebliche Selbstmorde oder tödliche Schüsse waren die Folge.

Ramush Haradinaj, ehemaliger Chef der UÇK und damals Regierungschef des Kosovo, stand 2005 zwar vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien. Er war wegen 37 Kriegsverbrechen – darunter Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord und Vergewaltigung – angeklagt.Doch 2008 wurde er aus Mangel an Beweisen freigesprochen, weil von den ursprünglich zehn Zeugen der Anklage nur noch einer lebte, der seine Aussage zurückzog, nachdem er ein Attentat knapp überlebt hatte.

Carla Del Ponte, von 1999 bis 2007 Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien, schrieb in ihren 2008 erschienen Memoiren: „Zeugen waren so ängstlich und eingeschüchtert, dass sie sich sogar davor fürchteten, auch nur über die Präsenz der UÇK in einigen Gegenden zu sprechen, ganz zu schweigen von tatsächlichen Verbrechen. … Diejenigen, die aussagen wollten, mussten mit ihrer gesamten Familie in andere Länder gebracht werden, und viele Staaten waren nicht bereit, sie aufzunehmen.“ Selbst Mitglieder der Nato-Truppe Kfor und Richter des Haager Kriegsverbrechertribunals hätten um ihr Leben gefürchtet.

Del Ponte berichtete auch über den Verdacht, die UÇK habe 1999 rund 300 Serben verschleppt und ihnen Organe für den Weiterverkauf entnommen, von dem das Internationale Rote Kreuz bereits 2000 erfahren habe. Obwohl genügend Beweise vorlagen, sei eine Untersuchung vor dem Internationalen Gerichtshof aber „im Keim erstickt worden“.

Im April 2009 strahlte die britische BBC eine Dokumentation aus, in der zahlreiche Zeugen über bestialische Verbrechen der UÇK berichteten, darunter auch über die Entnahme und den Handel mit Organen von Gefangenen. Der Autor Michael Montgomery hatte jahrelang über den Verbleib tausender Albaner, Serben und Roma recherchiert, die im Kosovo spurlos verschwunden waren, und war dabei auf unsägliche Gräueltaten gestoßen.

Als Reaktion auf das Buch Del Pontes beauftragte der Europarat schließlich den Schweizer Europaratsabgeordneten Dick Marty mit einer zweijährigen Untersuchung. Martys Bericht erschien 2010. Er beschreibt den Kosovo als Land mit „Mafia-ähnlichen Strukturen des organisierten Verbrechens“ und beschuldigt ehemalige UÇK-Führer sowie den damaligen Premierminister Thaçi, sie leiteten ein kriminelles Netzwerk, das an Auftragsmorden, Drogenhandel, Prostitution und illegalem Organhandel beteiligt sei.

Der amerikanische Jurist John C. Williamson, der die Anklageschrift gegen den serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic mit ausgearbeitet hatte und von der Europäischen Union als Sonderermittler eingesetzt wurde, gelangte nach mehr als zweijähriger Überprüfung zum Schluss, dass der Marty-Bericht solide belegt sei und eine Anklage rechtfertigen würde. Doch es geschah nichts, stattdessen wurde Thaçi 2016 zum Präsidenten gewählt.

Ein Jahr zuvor hatte das kosovarische Parlament unter internationalem Druck allerdings beschlossen, ein Sondertribunal zu gründen, das aus Mitteln der EU finanziert wird. Es ist formal Teil des Kosovarischen Justizsystems, hat seinen Sitz aber in Holland und ist mit ausländischen Richtern und Anklägern besetzt.

Die Anklage gegen Thaçi ist Bestandteil der wachsenden Spannungen zwischen der EU und den USA. Sie wurde wenige Tage vor einem geplanten Gipfel zwischen Thaçi und Serbiens Präsident Aleksandar Vučić in Washington im Juni bekanntgegeben. Das Treffen platzte daraufhin. Zuvor hatte Thaçi in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die EU kritisiert und die Rolle der USA als unverzichtbar bezeichnet. Die Amerikaner bewiesen gerade wieder einmal, dass sie schneller, genauer und effizienter handeln können als die Europäer.

Auch wenn Thaçi von dem Gericht verurteilt wird, wird die EU alles dafür tun, die Verantwortung der Nato-Mächte für die Kriegsverbrechen der UÇK zu unterdrücken. Da das Gericht keine eigenen Ermittlungen führen kann, ist es auf Zeugenaussagen angewiesen. Ende September sind beim UÇK-Veteranenverband in Pristina interne Dokumente des Gerichts aufgetaucht, die streng geheime Namen von Zeugen enthalten. Diese müssen nun erneut um ihr Leben und das Leben ihrer Angehörigen fürchten, wenn sie an ihrer Aussage festhalten.

Vor allem die USA und Deutschland, die über zwei Jahrzehnte lang eng mit Thaçi zusammengearbeitet haben, dürften wenig Interesse daran haben, dass er vor Gericht auspackt.

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