Einleitung zum neuen Buch „Das 1619 Project der New York Times und die rassistische Fälschung der Geschichte“

Im Folgenden veröffentlichen wir die Einleitung von David North, dem Vorsitzenden der Internationalen Redaktion der World Socialist Web Site, zu dem Buch The New York Times’ 1619 Project and the Racialist Falsification of History. Es kann in englischer Sprache bei Mehring Books vorbestellt werden und wird Ende Januar 2021 ausgeliefert.

Der Band ist eine umfassende Widerlegung des 1619-Projekts der New York Times, das die Geschichte der amerikanischen Revolution und des Bürgerkriegs entlang der Kategorie „Rasse“ verfälscht. Zusätzlich zu den historischen Essays enthält das Buch Interviews mit namhaften Historikern, die auf die Geschichte der Vereinigten Staaten spezialisiert sind: darunter James McPherson, James Oakes, Gordon Wood, Richard Carwardine, Victoria Bynum und Clayborne Carson.

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Ich gebe in aller Bescheidenheit zu bedenken, dass die Geschichte zwar das Bedürfnis der Unterdrückten nach Identität und Inspiration befriedigen mag, vor allem jedoch befriedigt sie das Bedürfnis nach der Wahrheit darüber, wie die Welt sie geformt hat und wie sie dazu beigetragen haben, die Welt zu formen. Dieses Wissen allein kann jenes Identitätsgefühl hervorbringen, das zur Inspiration genügen sollte; und diejenigen, die in der Geschichte nach glorreichen Momenten und Helden suchen, werden unweigerlich zu katastrophalen politischen Fehleinschätzungen verleitet sein. – Eugene Genovese [1]

Ideologische wie historische Mythen sind das Produkt direkter Klasseninteressen. … Widerlegen lassen sich diese Mythen durch die Wiederherstellung der historischen Wahrheit, der wahrheitsgetreuen Darstellung der Fakten und Tendenzen der Vergangenheit. – Wadim S. Rogowin [2]

Am 14. August 2019 enthüllte die New York Times das „1619 Project“. Bewusst wurde dieser Termin auf den 400. Jahrestag der Ankunft der ersten Sklaven in der Kolonie Virginia gesetzt. In einer 100-seitigen Sonderausgabe des New York Times Magazine erschien eine Reihe von Essays, die die amerikanische Geschichte als einen unerbittlichen Kampf zwischen Rassen darstellen – einen Kampf, den schwarze Amerikaner allein führten, um die Demokratie vor dem Rassismus der Weißen zu retten.

Für das 1619-Projekt setzte die New York Times enorme journalistische und finanzielle Ressourcen in Bewegung. Mit Unterstützung des Pulitzer Center for Crisis Reporting, das von der Wirtschaft gesponsert wird, wurden Hunderttausende Exemplare an Schulen geschickt. Das 1619-Projekt wurde darüber hinaus in weiteren Medienformaten verbreitet. Es wurden sogar Pläne für Filme und Fernsehsendungen angekündigt, die von der milliardenschweren Medienpersönlichkeit Oprah Winfrey unterstützt wurden.

Als Geschäftsprojekt wird das 1619-Projekt mühsam am Leben gehalten, aber als Versuch einer Revision der Geschichte ist es weitgehend diskreditiert. Dies ist zu einem großen Teil dem Eingreifen der World Socialist Web Site zu verdanken, die das 1619-Projekt mit Unterstützung einer Reihe renommierter und mutiger Historiker als das entlarvt hat, was es ist: eine Mischung aus schäbigem Journalismus, schlampiger und unredlicher Forschung und einem falschen, politisch motivierten Narrativ, das Rassismus und Rassenkonflikte zu den zentralen Triebkräften der amerikanischen Geschichte erklärt.

Buchcover: The New York Times’ 1619 Project and the Racialist Falsification of History

Zur Untermauerung der Behauptung, dass die amerikanische Geschichte nur verstanden werden könne, wenn man sie durch das Prisma des Rassenkonflikts betrachtet, sollte das 1619-Projekt die beiden grundlegenden Ereignisse der amerikanischen Geschichte diskreditieren: die Revolution von 1775-83 und den Bürgerkrieg von 1861-65. Dies konnte nur durch eine Serie von Verzerrungen, Auslassungen, Halbwahrheiten und falschen Aussagen erreicht werden – Täuschungen, die im vorliegenden Buch im Einzelnen aufgeführt und widerlegt werden.

Dies ist nicht der erste Skandal der New York Times, der durch unehrlichen und prinzipienlosen Journalismus entstanden ist. Zu der langen und wechselvollen Geschichte der Zeitung gehören Episoden wie die Billigung der Moskauer Schauprozesse von 1936-38 durch ihren Korrespondenten Walter Duranty, der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, sowie ihre gewissenlose Entscheidung, die Ermordung von Millionen europäischer Juden während des Zweiten Weltkriegs als „eine relativ unwichtige Angelegenheit“ zu behandeln, die keiner umfangreichen und systematischen Berichterstattung bedürfe. [3] In der jüngeren Geschichte war die Times durch die Berichterstattung von Judith Miller und die Kolumnen von Thomas Friedman in die Verbreitung von Falschinformationen der US-Regierung über „Massenvernichtungswaffen“ verwickelt, die zur Rechtfertigung der Invasion des Irak im Jahr 2003 dienten. Viele andere Beispiele für eklatante Verstöße gegen die ohnehin eher laxen Standards des journalistischen Berufsethos könnten angeführt werden. Sie häuften sich insbesondere im letzten Jahrzehnt, als die New York Times, die an der New Yorker Börse mit einer Marktkapitalisierung von 7,5 Milliarden Dollar notiert ist, zunehmend den Charakter eines Medienimperiums erlangte.

Neben der „Finanzialisierung“ der Times gab es einen weiteren Faktor, der die Auswahl der Themen, die es zu veröffentlichen und zu fördern galt, zunehmend bestimmte: die zentrale Rolle der Zeitung bei der Formulierung und der aggressiven Vermarktung der Politik der Demokratischen Partei. Im Zuge dieses Prozesses wurde die stets sehr feine Grenze zwischen objektiver Berichterstattung und bloßer Propaganda verwischt. Die Auswirkungen der finanziellen und politischen Entwicklung der Times finden im 1619-Projekt einen besonders reaktionären Ausdruck. Dieses Projekt, das unter der Leitung von Nikole Hannah-Jones und dem Herausgeber des New York Times Magazine, Jake Silverstein, aufgelegt wurde, sollte der Demokratischen Partei ein historisches Narrativ liefern, das als Rechtfertigung für ihre Bemühungen dient, eine Wählerbasis auf Grundlage von Rassenpolitik zu etablieren. Das 1619-Projekt fördert die seit Jahrzehnten andauernden Bestrebungen der Demokratischen Partei, sich davon zu befreien, dass sie mit der liberalen Sozialpolitik der Periode von Franklin D. Roosevelts „New Deal“ bis zu Lyndon Johnsons „Great Society“ in Verbindung gebracht wird. Dies soll bewerkstelligt werden, indem sie dem Rassenkonflikt Vorrang einräumt und auf diesem Weg den Klassenkonflikt als bedeutenden Faktor in Politik und Geschichte an den Rand drängt und sogar ganz eliminiert.

Die Verlagerung des Schwerpunkts vom Klassenkampf auf den Rassenkonflikt vollzog sich nicht in einem Vakuum. Die New York Times greift, wie wir erklären werden, auf reaktionäre Tendenzen zurück, die in bedeutenden Teilen der akademischen Mittelschicht seit mehreren Jahrzehnten gären, und nutzt diese für sich aus.

Die politischen Interessen und die damit verbundenen ideologischen Erwägungen, die hinter dem 1619-Projekt stehen, waren ausschlaggebend für die prinzipienlosen und unehrlichen Methoden, die die Times bei der Entstehung des Projekts anwandte. Die New York Times war sich der Tatsache wohl bewusst, dass sie ein auf der Kategorie „Rasse“ basierendes Narrativ der amerikanischen Geschichte förderte, das einer kritischen Beurteilung durch führende Historiker der Revolution und des Bürgerkriegs nicht würde standhalten können. Der Herausgeber des New York Times Magazine lehnte eine Konsultation mit den angesehensten und maßgeblichen Historikern bewusst ab.

Als eine Faktenprüferin der Times auf falsche Aussagen stieß, die zur Untermauerung der zentralen Argumente des 1619-Projekts dienten, wurden ihre Ergebnisse ignoriert. Und als die falschen Behauptungen und sachlichen Fehler aufgedeckt wurden, revidierte die Times heimlich zentrale Passagen im online veröffentlichten Material des Projekts. Das Wissen und die Sachkenntnis von Historikern von der Statur eines Gordon Wood oder James McPherson waren für die Times offenbar nicht von Nutzen. Ihre Herausgeber wussten, dass die Historiker gegen die zentrale These des 1619-Projekts Einspruch erheben würden, die von Hannah-Jones, die den maßgeblichen Essay beisteuerte, vertreten wurde: dass die Amerikanische Revolution als Verschwörung zur Verteidigung der Sklaverei gegen die bevorstehende britische Emanzipation vorangetrieben wurde.

Frau Hannah-Jones hatte behauptet:

In unserer Gründungsmythologie wird geflissentlich außer Acht gelassen, dass einer der Hauptgründe für die Kolonisten, ihre Unabhängigkeit von Großbritannien zu erklären, darin bestand, dass sie die Institution der Sklaverei schützen wollten. 1776 war Großbritannien wegen seiner Beteiligung an dieser barbarischen Institution, die die westliche Hemisphäre umgestaltet hatte, in tiefe Konflikte geraten. In London wurden zunehmend Forderungen laut, den Sklavenhandel abzuschaffen ... Manche mögen argumentieren, dass diese Nation nicht als Demokratie, sondern als Sklavenhaltergesellschaft gegründet wurde. [4]

Diese Behauptung – dass die amerikanische Revolution überhaupt keine Revolution war, sondern eine Konterrevolution zur Aufrechterhaltung der Sklaverei – birgt enorme Implikationen für die amerikanische und die Weltgeschichte. Eine derartige Herabsetzung der Amerikanischen Revolution würde die Ablehnung aller historischen Narrative legitim erscheinen lassen, die der Sturz der britischen Herrschaft über die Kolonien und damit der Welle demokratischer Revolutionen, die sie in der ganzen Welt ausgelöst hat, einen fortschrittlichen Inhalt beimessen. Wäre die Gründung der Vereinigten Staaten eine Konterrevolution gewesen, so verdiente das Gründungsdokument dieses Ereignisses – die Unabhängigkeitserklärung, in der die Gleichheit aller Menschen proklamiert wurde – nichts als Verachtung als ein Beispiel für die niederste Heuchelei.

Wie also kann man die explosiven globalen Auswirkungen der amerikanischen Revolution auf das Denken und politische Handeln ihrer unmittelbaren Zeitgenossen und der nachfolgenden Generationen erklären?

Der Philosoph Diderot – einer der größten Aufklärer – reagierte mit purer Begeisterung auf die amerikanische Revolution:

Möge die Revolution, die sich nach Jahrhunderten der allgemeinen Unterdrückung soeben jenseits der Meere vollzogen hat, indem sie allen Bewohnern Europas ein Asyl gegen Fanatismus und Tyrannei bietet, diejenigen, welche die Menschen regieren, über den rechtmäßigen Gebrauch ihrer Macht belehren. Mögen jene tapferen Amerikaner, die lieber ihre Frauen beleidigt, ihre Kinder erwürgt, ihre Wohnungen zerstört, ihre Felder verwüstet, ihre Dörfer niedergebrannt sähen und lieber ihr Blut vergießen und sterben würden, als auch nur den geringsten Teil ihrer Freiheit zu verlieren, die enorme Anhäufung und ungleiche Verteilung von Reichtum, Luxus, Weichheit und Verderbtheit der Manieren verhindern und für die Erhaltung ihrer Freiheit und das Überleben ihrer Regierung sorgen! [5]

Voltaire arrangierte im Februar 1778 – nur Monate, bevor er starb – ein öffentliches Treffen mit Benjamin Franklin, dem umjubelten Gesandten der Amerikanischen Revolution. Der betagte Philosoph berichtete in einem Brief, dass die zwanzig Zeugen seiner Umarmung Franklins zu „zarten Tränen“ gerührt waren. [6]

Marx hatte Recht, als er 1867 in seinem Vorwort zur ersten Ausgabe von Das Kapital schrieb, dass „der amerikanische Unabhängigkeitskrieg des 18. Jahrhunderts die Sturmglocke für die europäische Mittelklasse läutete“ und jenen Aufständen als Beispiel diente, die den über Jahrhunderte angesammelten feudalen Dreck des Ancien Régime hinwegfegen sollten. [7]

Wie der Historiker Peter Gay in seiner gefeierten Studie über Kultur und Politik der Aufklärung feststellte: „Die Freiheit, die die Amerikaner gewonnen hatten und bewachten, war nicht nur eine berauschende Vorstellung, die die europäischen Zuschauer begeisterte und ihnen Grund zu einer optimistischen Sicht auf den Menschen gab. Sie erwies sich zudem als ein realistisches Ideal, das nachahmenswert war.“ [8]

R.R. Palmer, einer der gelehrtesten Historiker aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, definierte die Amerikanische Revolution als einen entscheidenden Moment in der Entwicklung der westlichen Zivilisation, als Beginn einer 40 Jahre andauernden Ära demokratischer Revolutionen. Palmer schrieb:

Die amerikanische und die französische Revolution, die beiden wichtigsten echten Revolutionen dieser Zeit, hatten – bei aller gebührenden Würdigung der großen Unterschiede zwischen ihnen – dennoch viele Gemeinsamkeiten. Und das, was sie teilten, teilten zur selben Zeit auch verschiedene Menschen und Bewegungen in anderen Ländern, insbesondere in England, Irland, Holland, Belgien, der Schweiz und Italien, aber auch in Deutschland, Ungarn und Polen sowie verstreute Einzelpersonen in Ländern wie Spanien und Russland. [9]

In jüngerer Zeit argumentierte der Historiker Jonathan Israel, der vor allem für sein Werk Radikalaufklärung bekannt ist, dass die amerikanische Revolution

Teil einer größeren transatlantischen revolutionären Reihenfolge war, einer Serie von Revolutionen in Frankreich, Italien, Holland, der Schweiz, Deutschland, Irland, Haiti, Polen, Spanien, Griechenland und Spanien-Amerika. ... Die Bemühungen der Gründerväter und ihrer Anhänger im Ausland beweisen die tiefe Wechselwirkung der Amerikanischen Revolution und ihrer Prinzipien mit den anderen Revolutionen und begründen die globale Rolle der Revolution – weniger als eine Kraft direkter Intervention als vielmehr als Quelle der Inspiration, als Modell ersten Ranges für universellen Wandel. [10]

Marxisten haben weder die amerikanische noch die französische Revolution je durch die rosarote Brille betrachtet. Bei der Untersuchung der welthistorischen Ereignisse lehnte Friedrich Engels vereinfachende, pragmatische Interpretationen ab, die „alles nach den Motiven der Handlung“ erklären und beurteilen, die „die geschichtlich handelnden Menschen in edle und unedle [teilt] und ... dann in der Regel [findet], daß die edlen die Geprellten und die unedlen die Sieger sind“. Persönliche Motive, betonte Engels, seien nur von „untergeordneter Bedeutung“. Die entscheidende Frage, die Historiker stellen müssten, laute, „welche treibenden Kräfte wieder hinter diesen Beweggründen stehn, welche geschichtlichen Ursachen es sind, die sich in den Köpfen der Handelnden zu solchen Beweggründen umformen?“ [11]

Unabhängig von den persönlichen Motiven und individuellen Beschränkungen derer, die den Unabhängigkeitskampf anführten, war die Revolution, die von den amerikanischen Kolonien gegen die britische Krone geführt wurde, in objektiven sozioökonomischen Prozessen verwurzelt, die mit dem Aufstieg des Kapitalismus als Weltsystem verbunden waren. Die Sklaverei hatte mehrere tausend Jahre lang existiert, aber die spezifische Form, die sie zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert annahm, war mit der Entwicklung und Expansion des Kapitalismus verbunden. Marx erklärte:

Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute, bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation. [12]

Marx und Engels bestanden auf dem historisch fortschrittlichen Charakter der Amerikanischen Revolution – eine Einschätzung, die durch den Bürgerkrieg bestätigt wurde. Marx schrieb 1864 an Lincoln, dass in der Amerikanischen Revolution „der Gedanke einer großen demokratischen Republik entsprungen war, von dem die erste Erklärung der Menschenrechte ausging und der erste Anstoß zu der europäischen Revolution des 18. Jahrhunderts gegeben wurde“. [13]

Nichts in Hannah-Jones‘ Aufsatz deutet darauf hin, dass sie die weltgeschichtlichen Implikationen der Verleumdung der Amerikanischen Revolution durch das 1619-Projekt durchdacht hat oder sich ihrer auch nur bewusst ist. Tatsächlich wurde das 1619-Projekt ausgeheckt, ohne die Werke der herausragendsten Historiker der Revolution und des Bürgerkriegs zu konsultieren. Dies war kein einfaches Versäumnis, sondern das Ergebnis einer bewussten Entscheidung der New York Times, die Beteiligung „weißer“ Wissenschaftler an der Entwicklung und Abfassung der Aufsätze so weit wie möglich auszuschließen. In einem Artikel mit dem Titel „How the 1619 Project Came Together“, der am 18. August 2019 veröffentlicht wurde, informierte die Times ihre Leser: „Fast alle Mitarbeiter des Magazins und der Sonderrubrik – Autoren, Fotografen und Künstler – sind schwarz – ein Aspekt des Projekts, der nicht verhandelbar ist und dazu beiträgt, dessen These zu unterstreichen …“. [14]

Tatsächlich stammen einige im 1619-Projekt enthaltene Essays - trotz der von Hannah-Jones vertretenen Hautfarben-Schranke – von „Weißen“. Diese Versuche des Soziologen Matthew Desmond sowie des Historikers Kevin Kruse waren nicht besser als der Rest. Das ist lediglich ein weiterer Beweis dafür, dass die auf „Rasse“ fokussierte Perspektive nicht in der „Rassenidentität“ der Autoren wurzelt, sondern in deren Klassenposition und ideologischer Haltung.

Dieses „nicht verhandelbare“ und rassistische Beharren darauf, dass das 1619-Projekt ausschließlich von Schwarzen produziert werden sollte, wurde jedenfalls mit der falschen Behauptung gerechtfertigt, dass weiße Historiker das Themenfeld der amerikanischen Sklaverei weitgehend ignoriert hätten. Und in den seltenen Fällen, in denen weiße Historiker die Existenz der Sklaverei anerkannt hätten, hätten sie entweder deren Bedeutung heruntergespielt oder über sie gelogen. Kurzum, so die Times: Nur schwarze Autoren konnten „unsere Geschichte wahrheitsgetreu erzählen“. Das auf „Rasse“ fixierte Narrativ des 1619-Projekts werde „die Konsequenzen aus der Sklaverei sowie die Verdienste der schwarzen Amerikaner in den Mittelpunkt der Narrative darüber … stellen, wer wir sind.“ [15]

Das 1619-Projekt ist nicht nur eine Fälschung der Geschichte, sondern auch der Geschichtsschreibung. Es ignorierte die Arbeit von zwei Generationen amerikanischer Historiker, die bis in die 1950er Jahre zurückreicht. Die Autoren und Herausgeber des 1619-Projekts haben kein Werk der seriösen Forschung über Sklaverei, die amerikanische Revolution, die Abolitionisten-Bewegung, den Bürgerkrieg oder die Jim-Crow-Rassentrennung zu Rate gezogen. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Hannah-Jones‘ Studium der amerikanischen Geschichte über die Lektüre eines einzigen Buches hinausging, das in den frühen 1960er Jahren von der mittlerweile verstorbenen, schwarzen nationalistischen Schriftstellerin Lerone Bennett jr. geschrieben wurde.

Hannah-Jones und Silverstein argumentierten, dass sie „eine neue Erzählung“ schaffen würden, um die bisherige, angeblich „weiße Erzählung“ zu ersetzen. In einer ihrer zahllosen Twitter-Tiraden erklärte Hannah-Jones, dass „das 1619-Projekt keine Geschichte“ sei. Es gehe vielmehr „darum, wer die Kontrolle über die nationale Erzählung und damit über die gemeinsame Erinnerung der Nation an sich selbst erhält“. In diesem Kommentar lobt Hannah-Jones ausdrücklich die Abtrennung der historischen Forschung von dem Bemühen um eine wahrheitsgemäße Rekonstruktion der Vergangenheit. Der Zweck der Geschichtswissenschaft bestehe, so wird erklärt, lediglich darin, eine nützliche Erzählung zur Verwirklichung dieser oder jener politischen Agenda zu schaffen. Die Wahrheit oder Unwahrheit eines gegebenen Narrativs ist nicht von Belang.

Die nationalistische Mythenbildung spielt seit langem eine bedeutende politische Rolle im Interesse von Mittelschichten, die sich einen privilegierteren Platz innerhalb der bestehenden Machtstrukturen sichern wollen. Wie Eric Hobsbawm treffend bemerkte: „Die Sozialisten ..., die das Wort ,Nationalismus‘ selten ohne die Vorsilbe ,kleinbürgerlich‘ benutzten, wussten, wovon sie sprachen“. [16]

Hannah-Jones erhob den Anspruch, mit dem 1619-Projekt einen neuen Weg für das Studium und das Verständnis der amerikanischen Geschichte einzuschlagen. Doch mit dem Beharren darauf, dass die Geschichte Amerikas um die zentrale Kategorie „Rasse“ herum aufgebaut und von afroamerikanischen Historikern verfasst wird, wurden jene rassistischen Argumente wiederbelebt, die von schwarzen Nationalisten in den 1960er Jahren vertreten wurden. Bei all dem militanten Gehabe bestand die zugrunde liegende Agenda – wie die nachfolgenden Ereignisse zeigen sollten – darin, bestimmte Karriere-Nischen für einen Teil der afroamerikanischen Mittelklasse einzurichten. In der akademischen Welt war diese Agenda mit der Forderung verbunden, dass Themen, die sich auf die historische Erfahrung der schwarzen Bevölkerung bezogen, ausschließlich Afroamerikanern zugewiesen werden sollten. So wurden im anschließenden Kampf um die Verteilung von Privilegien und Status führende Historiker, die bedeutende Beiträge zur Erforschung der Sklaverei geleistet hatten, dafür denunziert, dass sie sich als Weiße in ein Thema einmischten, das nur von schwarzen Historikern verstanden und erklärt werden konnte. Peter Novick erinnerte in seinem Buch That Noble Dream an die Auswirkungen des schwarzen, nationalistischen Rassismus auf die amerikanische Geschichtsschreibung:

Kenneth Stampp gegenüber erklärten Militante, dass er als Weißer kein Recht habe, The Peculiar Institution zu schreiben. Herbert Gutman, der der Association for the Study of Negro Life and History ein Papier vorlegte, wurde niedergeschrien. Ein weißer Kollege, der anwesend war (und die gleiche Erfahrung machte), berichtete, dass Gutman „am Boden zerstört“ gewesen sei. Gutman beteuerte vergeblich, dass er „die Befreiungsbewegung der Schwarzen aufs Äußerste unterstütze – wenn die Leute einfach vergessen würden, dass ich weiß bin, und hören würden, was ich sage … [es] würde der Bewegung zugutekommen.“ Zu den dramatischsten Vorfällen dieser Art gehörte die Behandlung von Robert Starobin, einem jungen linken Unterstützer der Black Panther, der 1969 auf einer Konferenz der Wayne State University ein Referat über Sklaverei hielt – ein Vorfall, der Starobin zu jener Zeit erschütterte und durch dessen Selbstmord im folgenden Jahr auf die Spitze getrieben wurde. [17]

Trotz dieser Angriffe verfassten weiße Historiker weiterhin wichtige Studien über die amerikanische Sklaverei, den Bürgerkrieg und die Zeit der Reconstruction nach dem Krieg. Unverschämte Versuche, die Hautfarbe eines Historikers zu einem Kriterium zur Beurteilung seines „Rechts“ darauf, sich mit der Sklaverei zu befassen, zu machen, stießen auf heftigen Widerstand. Der Historiker Eugene Genovese (1930-2012), der Autor so bemerkenswerter Werke wie The Political Economy of Slavery und The World the Slaveholders Made, schrieb:

Historiker der Vereinigten Staaten und insbesondere des Südens kommen nicht umhin, die Erfahrungen der Schwarzen einzuschätzen, denn ohne sie lässt sich gar nichts einschätzen. Wenn man mich daher fragt – wie es in unserer unsinnigen Zeit Mode geworden ist –, welches Recht ich als Weißer habe, über Schwarze zu schreiben, kann ich nur mit einem Schimpfwort antworten. [18]

Dieser Absatz wurde vor mehr als einem halben Jahrhundert geschrieben. Zu Recht polemisiert Genovese gegen die Bemühungen, die wissenschaftliche Forschung dem Rassendenken zu unterwerfen. Diese Entwicklung hat seit den späten 1960er Jahren derartige Ausmaße angenommen, dass sie nicht mehr nur als „unsinnig“ bezeichnet werden kann. Unter dem Einfluss der Postmoderne und ihres Ablegers, der „Critical Race Theory“, wurde extrem reaktionären Vorstellungen an den amerikanischen Universitäten Tür und Tor geöffnet. Gesellschaftsklassen und damit verbundene ökonomische Prozesse wurden als wichtigste analytische Kategorie abgelöst von der Identität, der „Rasse“ und Hautfarbe.

Der neueste Hype, die Theorie vom „Weißsein“ („Whiteness“), dient dazu, den historischen Fortschritt zu leugnen und die objektive Wahrheit zurückzuweisen. Alle Ereignisse und Aspekte der Gesellschaft sollen durch das Prisma angeblicher rassischer Eigeninteressen interpretiert werden. Auf dieser Grundlage kann der reinste Unsinn geschwafelt werden, um dann alle Einwände, die sich auf Fakten und Wissenschaft gründen, als „White Fragility“ oder eine andere Form von verstecktem Rassismus abzutun. In diesem heruntergekommenen Klima konnte Ibram X. Kendi in seinem Buch Gebrandmarkt: Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika den folgenden absurden Absatz schreiben, ohne Widerspruch fürchten zu müssen:

Für die Intellektuellen der Aufklärung [Enlightenment] hatte die Metapher des Lichts meist eine doppelte Bedeutung. Die Europäer hatten nach tausend Jahren religiöser Verfinsterung Gelehrsamkeit und Wissen wiederentdeckt, und ihr helles europäisches Signalfeuer der Erkenntnis strahlte mitten in einer „dunklen“ Welt, die noch nicht berührt war von Licht. Das Licht wurde so zu einer Metapher für europäisches Wesen und damit Weißsein – eine Vorstellung, die Benjamin Franklin und seine philosophische Gesellschaft begierig auf­nahmen und in die Kolonien importierten. ... Aufklärerische Ideen legitimierten die tiefsitzende rassistische „Voreingenommenheit“, nämlich die Vorstellung von der Zusammengehörigkeit von Licht und Weißsein und Vernunft auf der einen Seite und von Dunkelheit und Schwarzsein und Unwissenheit auf der anderen. [19]

Dieses lächerliche Gebräu, das dem englischen Wort „Enlightenment“ eine rassische Bedeutung zuschreibt, hat keinerlei Grundlage in der Etymologie, geschweige denn in der Geschichtswissenschaft. Der Philosoph Immanuel Kant benutzte 1784 das deutsche Wort„Aufklärung“, um diese Zeit des wissenschaftlichen Fortschritts zu beschreiben, was so viel wie geistiger Aufbruch bedeutet. Die englische Übersetzung von „Aufklärung“ als „Enlightenment“ stammt aus dem Jahr 1865 – also 75 Jahre nach dem Tod von Benjamin Franklin, auf den Kendi sich in seiner rassischen Argumentation bezieht. [20]

Ein anderer Begriff, der im englischsprachigen Raum verwendet wird, um das 17. und 18. Jahrhundert zu beschreiben, ist „The Age of Reason“ (Das Zeitalter der Vernunft). Thomas Paine, einer der Hauptdenker der Aufklärung in den USA, prägte diesen Begriff in seiner vernichtenden Kritik der Religion und aller Formen des Aberglaubens. Kendis Versuch, die Aufklärung aus einem weißen Rassismus herzuleiten, ist nichts als leere Wortklauberei. In Wirklichkeit ist der moderne Rassismus historisch und theoretisch mit antiaufklärerischen Konzeptionen verbunden, die im 19. Jahrhundert besonders prominent von dem französischen Aristokraten Gobineau in dem Buch Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen vertreten wurden. Aber historische Tatsachen spielen in Kendis pseudo-intellektuellen Hirngespinsten keine Rolle. Sein Werk strotzt von Ignoranz.

Die Geschichte ist nicht die einzige Wissenschaft, die unter Beschuss der „Rasse“-Experten steht. Professor Philip A. Ewell vom Hunter College in New York behauptet in einem Aufsatz mit dem Titel „Musiktheorie und der weiße rassische Rahmen“: „Ich stelle fest, dass es einen ‚weißen rassischen Rahmen‘ in der Musiktheorie gibt, der strukturell und institutionalisiert ist. Nur durch ein Reframing dieses weißen rassischen Rahmens können wir beginnen, positive rassische Veränderungen in der Musiktheorie zu sehen.“ [21]

Er degradiert die Musiktheorie, indem er sie ihrer wissenschaftlichen und historisch gewachsenen Eigenschaften beraubt. Die komplexen Grundlagen und Elemente der Komposition, des Kontrapunkts, der Tonalität, der Konsonanz, der Dissonanz, der Klangfarbe, des Rhythmus, der Notation usw. leiten sich, so Ewell, aus rassischen Merkmalen ab. Professor Ewell räubert im ideologischen Revier des Dritten Reichs. Seine Forderung, man müsse die Musik vom „Weißsein“ befreien, ähnelt nicht zufällig dem Versuch der NS-Wissenschaftler in den 1930er und 1940er Jahren, die Musik vom „Judentum“ zu befreien. Die Nazis prangerten das Werk von Felix Mendelssohn Bartholdy als mittelmäßig an; seine Popularität sei nur Ausdruck jener heimtückischen Versuche der Juden, die arische Kultur zu beherrschen. In ähnlicher Weise erklärt Ewell, dass Beethoven lediglich „ein überdurchschnittlicher Komponist“ gewesen sei. Er nehme „diesen großen Platz ein, weil er 200 Jahre lang durch Weißsein und Männlichkeit gefördert wurde“. [22]

Akademische Zeitschriften in praktisch allen Fachgebieten sind voll mit solchem dummen Zeug. Selbst die Physik ist dem Vormarsch der Race Theory nicht entkommen. In einem kürzlich erschienenen Essay behauptet Chanda Prescod-Weinstein, Assistant Professor für Physik an der University of New Hampshire, dass „Hautfarbe und Ethnizität die erkenntnistheoretischen Ergebnisse in der Physik beeinflussen“. Sie führt das Konzept des „weißen Empirismus“ (im Original kursiv) ein, der „im empirischen Diskurs in der Physik dominierend wird, weil Weißsein stark die vorherrschenden Entscheidungen darüber prägt, wer als Beobachter physikalischer und sozialer Phänomene gelten darf“. [23]

Der ethnische und geschlechtsspezifische Hintergrund der Wissenschaftler beeinflusse, wie wissenschaftliche Forschung betrieben wird, und daher würden die Beobachtungen und Experimente afroamerikanischer und weiblicher Physiker andere Ergebnisse liefern als die von weißen Männern. Prescod-Weinstein unterstützt die Kontingenztheorie, die „grundsätzlich die Annahme in Frage stellt, dass wissenschaftliche Entscheidungsfindung rein objektiv ist“. [24]

Die Annahme der Objektivität sei ein großes Problem, beklagt Prescod-Weinstein. Wissenschaftler sind „üblicherweise Monisten, die daran glauben, dass es nur eine Wissenschaft gibt ... Dieser monistische Ansatz in der Wissenschaft verhindert normalerweise, dass genauer untersucht wird, wie sich Identität und epistemische Ergebnisse vermischen. Doch der weiße Empirismus untergräbt eine bedeutende Theorie der Physik des 20. Jahrhunderts: die Allgemeine Relativitätstheorie.“ (Hervorhebung hinzugefügt) [25]

Prescod-Weinstein versucht ihren Angriff auf die Objektivität der wissenschaftlichen Erkenntnis zu untermauern, indem sie Einsteins Theorie verzerrt.

Albert Einsteins monumentaler Beitrag zu unserem empirischen Verständnis der Schwerkraft wurzelt im Prinzip der Kovarianz, d.h. der einfachen Idee, dass es nicht ein einziges objektives Bezugssystem gibt, das objektiver als alle anderen ist. Alle Bezugssysteme, alle Beobachter sind gleichermaßen kompetent und fähig, die universellen Gesetze zu untersuchen, die unser physikalisches Universum bestimmen. (Hervorhebung hinzugefügt) [26]

In Wirklichkeit postuliert die allgemeine Relativitätstheorie mit ihrer Aussage über die Kovarianz eine grundlegende Symmetrie, d.h. dass die Naturgesetze für alle Beobachter die gleichen sind. Als Einstein die Maxwell-Gleichungen zum Elektromagnetismus unter Berücksichtigung der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum studierte, gewann er die große (wenn auch kaum „einfache“) Einsicht, dass diese Gleichungen in jedem Bezugssystem gelten und nicht ihre Form ändern. Die Tatsache, dass zwei Beobachter ein drittes Lichtteilchen im Raum als mit derselben Geschwindigkeit reisend messen, selbst wenn sie sich relativ zueinander bewegen, führte Einstein zu einer tiefgreifenden theoretischen Neudefinition der Frage, wie Materie in Raum und Zeit existiert. Diese Theorien wurden durch Experimente bestätigt. Sie werden nicht widerlegt, wenn man Hautfarbe oder Geschlecht der Wissenschaftler ändert.

Masse, Raum, Zeit und andere Größen sind demnach je nach Bezugssystem verschieden und relativ. Aber diese Variation ist nicht subjektiv, geschweige denn durch Hautfarbe oder „Rasse“ bedingt, sondern folgt den Naturgesetzen. Diese Entdeckungen bestätigen die monistische Auffassung. In der physikalischen Realität existieren keine besonderen Erklärungen oder Bezugssysteme, die auf „rassischer Überlegenheit“, der Beobachtung „schwarzer Frauen“ oder auf „weißem Empirismus“ beruhen. Es gibt eine objektive Wahrheit über die materielle Welt, die bestimmt werden kann und unabhängig vom Bewusstsein ist.

Darüber hinaus sind nicht „alle Beobachter“ unabhängig von ihrer Bildung und ihrem Fachwissen „gleichermaßen kompetent und fähig“, die universellen Gesetze, die das Universum regieren, zu untersuchen oder gar zu entdecken. Unabhängig von ihrer persönlichen Identität müssen Physiker ordentlich ausgebildet werden – und bleiben dabei hoffentlich von dem ideologischen Blödsinn verschont, der von den Verfechtern der Race Theory und Gender-Politik verbreitet wird.

Der wissenschaftsfeindliche Unsinn von Prescod-Weinstein hat natürlich auch eine Zielgruppe. Hinter den zeitgenössischen Race- und Gendertheorien stehen zum großen Teil Frust und Wut im Gerangel um akademische Posten. Prescod-Weinstein spricht mit ihrem Essay im Namen all jener, die glauben, dass ihre berufliche Karriere durch den „weißen Empirismus“ behindert wurde. Sie versucht, ihre Verfälschung der Wissenschaft zu verschleiern, indem sie weitreichende und unbegründete Vorwürfe erhebt. Demnach sei der Rassismus unter weißen Physikern allgegenwärtig, sie würden die Legitimität der Forschung schwarzer Wissenschaftlerinnen schlichtweg ablehnen.

Es ist möglich, dass einige wenige Physiker Rassisten sind. Aber das rechtfertigt in keiner Weise Prescod-Weinsteins Versuche, der ethnischen Identität eine erkenntnistheoretische Bedeutung zuzuschreiben, die die Forschungsergebnisse beeinflusst. Sie behauptet dieser Logik zufolge, dass der Anspruch auf objektive Wahrheit, den der „weiße Empirismus“ stelle, auf Gewalt beruht. Damit vertritt sie eine Variante des postmodernen Dogmas, dass der Begriff der „objektiven Wahrheit“ lediglich die Machtverhältnisse zwischen widerstreitenden gesellschaftlichen Kräften zum Ausdruck bringt. Prescod-Weinstein schreibt:

Weißer Empirismus ist eine Praxis, die den gesellschaftlichen Diskurs in die empirische Beurteilung der Physik einfließen lässt. Er schadet der Entwicklung eines umfassenden Verständnisses der Natur, weil er ausschließt, dass ein Dialog stattfindet: zwischen provinziellen europäischen Ideen über Wissenschaft, die durch koloniale Gewalt vorherrschend geworden sind, und Ideen, die stärker mit „Indigenität“ verbunden werden, ob afrikanische Indigenität oder eine andere. (Hervorhebung hinzugefügt) [27]

Die starke Verbreitung und Legitimierung von Rassenvorstellungen geprägter Theorien ist Ausdruck einer tiefen geistigen, sozialen und kulturellen Krise der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft. Wie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert findet die Rassentheorie auch bei desorientierten Teilen der Intellektuellen aus den Mittelschichten ein Publikum. Die meisten – wenn nicht alle – Akademiker, die eine auf Ethnie und Hautfarbe orientierte Agenda vertreten, mögen aufrichtig glauben, dass sie gegen rassistische Vorurteile kämpfen. Aber unabhängig von ihren persönlichen Absichten dient ihre Propagierung antiwissenschaftlicher und irrationalistischer Vorstellungen reaktionären Zielen.

Die treibende Kraft hinter dem „1619 Project“ der New York Times ist die Verbindung zwischen einer „Rassen“-basierten Ideologie, wie sie sich über mehrere Jahrzehnte im akademischen Umfeld entwickelt hat, und der politischen Agenda der Demokratischen Partei. Unter den Bedingungen einer extremen sozialen Polarisierung, in der das Interesse und die Unterstützung für Sozialismus zunehmen, will die Demokratische Partei als politisches Instrument der kapitalistischen Klasse den Schwerpunkt der politischen Debatte auf Themen verlagern, die das Schreckgespenst der sozialen Ungleichheit und des Klassenkonflikts gar nicht erst aufkommen lassen. Darin besteht auch die Funktion der Umschreibung der Geschichte, bei der „Rasse“ und Hautfarbe in den Mittelpunkt des neuen Narrativs gestellt werden.

Das 1619-Projekt ist nicht über Nacht entstanden. Mit dem wachsenden Einfluss verschiedener Formen der Identitätspolitik in der Wahlstrategie der Demokratischen Partei hat sich die Times über mehrere Jahre hinweg in einem Maße auf Fragen von Hautfarbe und „Rasse“ fixiert, dass man mit Fug und Recht von Obsession sprechen kann. Es kommt einem häufig so vor, als ob der Hauptzweck der Berichterstattung und Kommentare der Times darin besteht, den rassischen Kern eines bestimmten Ereignisses oder Themas zu enthüllen.

Eine Suche im Archiv der New York Times zeigt, dass der Begriff „weißes Privileg“ (White Privilege) im Jahr 2010 nur in vier Artikeln erschien – im Jahr 2013 aber bereits in 22 Artikeln. 2015 veröffentlichte die Times 52 Artikel, die auf den Begriff Bezug nehmen. 2020 hatte die Times bis zum1. Dezember schon 257 Artikel veröffentlicht, in denen „weißes Privileg“ vorkommt.

Das Wort „Weißsein“ erschien im Jahr 2000 nur in 15 Times-Artikeln. Bis 2018 stieg die Zahl der Artikel, in denen das Wort genannt wird, auf 222. Bis zum 1. Dezember 2020 wurde in 280 Artikeln auf den Begriff „Weißsein“ Bezug genommen.

Der hartnäckige Fokus der Times auf das Thema Rasse im vergangenen Jahr, sogar in ihren Nachrufen, steht eindeutig mit der Wahlstrategie der Demokratischen Partei für 2020 in Zusammenhang. Das 1619-Projekt wurde als entscheidender Baustein dieser Strategie konzipiert. Das hat der Chefredakteur der Times, Dean Baquet, bei einem Mitarbeitertreffen am 12. August 2019 ausdrücklich erklärt:

[R]asse und das Verständnis von Rasse sollten Teil unserer Berichterstattung über die amerikanische Geschichte sein ... Wir haben alle dem 1619-Projekt auch deshalb zugestimmt und es so ehrgeizig und stark vorangetrieben, um unseren Lesern beizubringen, ein bisschen mehr so zu denken. Rasse wird im nächsten Jahr ein großer Teil der amerikanischen Story sein – und ich hoffe ehrlich gesagt, dass Sie das aus dieser Diskussion mitnehmen. [28]

Der Versuch der New York Times, ihren Lesern „beizubringen, ein bisschen mehr“ in Rassenbegriffen zu denken, nahm die Form der Fälschung der amerikanischen Geschichte an. Ihr Ziel war es, die revolutionären Kämpfe zu diskreditieren, die zur Gründung der Vereinigten Staaten 1776 und zur endgültigen Aufhebung der Sklaverei während des Bürgerkriegs führten. Diese Geschichtsfälschung konnte nur zu einer Erosion des demokratischen Bewusstseins beitragen, eine auf Hautfarbe fokussierte Sichtweise der amerikanischen Geschichte und Gesellschaft legitimieren und die Einheit der breiten Masse der Amerikaner in einem gemeinsamen Kampf gegen soziale Ungleichheit und Ausbeutung untergraben.

Die rassenorientierte Kampagne der New York Times wurde vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie vorangetrieben, die in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt in allen Arbeitervierteln wütet – unabhängig davon, wer welche Hautfarbe oder ethnische Zugehörigkeit hat. Die Zahl der Todesopfer hat weltweit bereits 1,5 Millionen überschritten. In den USA wird es bis Ende des Jahres über 300.000 Corona-Tote geben. Die Pandemie hat Millionen Amerikaner in eine wirtschaftliche Notlage gebracht. Die Arbeitslosenquote nähert sich dem Niveau der Großen Depression. Millionen Menschen sind ohne Einkommensquelle und für das tägliche Brot von Tafeln abhängig.

Während die Pandemie eskaliert, zerbrechen die Strukturen der amerikanischen Demokratie unter der Last der sozialen Gegensätze, die durch die enorme Konzentration des Reichtums an der Spitze der Gesellschaft hervorgerufen werden. In der Zeit des Präsidentschaftswahlkampfs 2020 betrieb der US-Präsident selbst eine rechtsextreme Verschwörung, um eine Diktatur zu errichten. Das alte Sprichwort „It Can’t Happen Here“ („Hier kann das nicht passieren“), das in den 1930er Jahren während des Aufstiegs des Faschismus in Europa geprägt wurde, ist durch die Ereignisse widerlegt. „Es passiert hier“ ist die richtige Beschreibung der amerikanischen Realität.

Inmitten dieser beispiellosen sozialen und politischen Katastrophe, die eine geschlossene Antwort aller Teile der Arbeiterklasse erfordert, verwendet die New York Times ihre Energie darauf, ein falsches historisches Narrativ zu propagieren, das die amerikanische Geschichte als einen fortwährenden Krieg zwischen den Rassen darstellt. In dieser grotesken Verzerrung ist kein Platz für die Arbeiterklasse oder für den Klassenkampf, der in den letzten 150 Jahren der dominierende Faktor in der amerikanischen Sozialgeschichte war und in dem afroamerikanische Arbeiter heldenhaft an der Seite ihrer weißen Brüder und Schwestern gekämpft haben. Die durch die Pandemie ausgelöste extreme soziale Krise und die verzweifelte Lage von Millionen Arbeitern aller Hautfarben und Ethnien sind eine unwiderlegbare Anklage gegen die reaktionären Vorstellungen des 1619-Projekts. Die Essays und Interviews mit angesehenen Historikern, die in dem vorliegenden Band veröffentlich sind, widerlegen die Geschichtsfälschung des 1619-Projekts mit Faktenmaterial.

David North

Detroit

3. Dezember 2020

Anmerkungen:

[1] „The Nat Turner Case“, in: The New York Review of Books, 12. September 1968 (aus dem Englischen).

[2] Wadim S. Rogowin, Stalins Kriegskommunismus, Essen 2006, S. 7.

[3] Laurel Leff, Buried by the Times. The Holocaust and Americas Most Important Newspaper, Cambridge 2005, S. 5 (aus dem Englischen).

[4] New York Times Magazine, 18. August 2019, S. 18 (aus dem Englischen).

[5] Zitiert nach: Peter Gay, The Enlightenment. The Science of Freedom, New York und London 1996, S. 556-57 (aus dem Englischen).

[6] Ebd., S. 557 (aus dem Englischen).

[7] Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Band 1, Berlin 1983, S. 15.

[8] Gay, The Enlightenment, S. 558 (aus dem Englischen).

[9] R.R. Palmer, The Age of Democratic Revolution. A Political History of Europe and America, 1760-1800, Princeton 1959, S. 5 (aus dem Englischen).

[10] Jonathan Israel, The Expanding Blaze. How the American Revolution Ignited the World, 1775-1848, Princeton 2017, S. 17–18 (aus dem Englischen).

[11] Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MEW 21, Berlin 1975, S. 297.

[12] Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Band 1, Berlin 1983, S. 779.

[13] Karl Marx, „An Abraham Lincoln, Präsident der Vereinigten Staaten“, in: MEW, Band 16, Berlin 1975, S. 18–20.

[14] „How the 1619 Project Came Together“, https://www.nytimes.com/2019/08/18/reader-center/1619-project-slavery-jamestown.html (Zugriff am 7.12.2020, aus dem Englischen).

[15] New York Times Magazine, 18. August 2019, S. 5 (aus dem Englischen).

[16] E. J. Hobsbawm, Nations and Nationalism Since 1780. Program, Myth, Reality, London 1991, S. 117 (aus dem Englischen).

[17] Peter Novick, That Noble Dream. The „Objectivity Question“ and the American Historical Profession, Cambridge 1988, S. 475 (aus dem Englischen).

[18] Eugene D. Genovese, In Red and Black. Marxian Explorations in Southern and Afro-American History, New York 1968, S. viii (aus dem Englischen).

[19] Ibram X. Kendi, GebrandmarktDie wahre Geschichte des Rassismus in Amerika, München 2017, S. 92–93.

[20] https://www.etymonline.com/search?q=enlightenment (Zugriff am 3.12.2020, aus dem Englischen).

[21] Philip A. Ewell, „Music Theory and the White Racial Frame“, in: MTO, Jg. 26, Nr. 2 (September 2020) (aus dem Englischen).

[22] „Beethoven Was an Above Average Composer – Let’s Leave It at That“, 24. April 2020, https://musictheoryswhiteracialframe.wordpress.com/2020/04/24/beethoven-was-an-above-average-composer-lets-leave-it-at-that/ (Zugriff am 3.12.2020, aus dem Englischen).

[23] Chanda Prescod-Weinstein, „Making Black Women Scientists under White Empiricism. The Racialization of Epistemology in Physics“, in: Signs: Journal of Women in Culture and Society, Jg. 45, Nr. 2 (2020), S. 421 (aus dem Englischen).

[24] Ebd., S. 422.

[25] Ebd.

[26] Ebd.

[27] Ebd., S. 439.

[28] „The New York Times Unites vs. Twitter“, in: Slate Magazine, 15. August 2019, https://slate.com/news-and-politics/2019/08/new-york-times-meeting-transcript.html (Zugriff am 3.12.2020, aus dem Englischen).

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