Coronagipfel: Betriebe bleiben trotz hoher Todeszahlen offen

Alle ernsthaften Virologen sind sich einig: Um die Pandemie unter Kontrolle zu bringen, wäre ein europaweit koordinierter, konsequenter Lockdown notwendig, der die Neuinfektionen auf einen Bruchteil der heutigen Fallzahlen senkt. Aber die politisch Verantwortlichen sind dazu trotz ständig steigender Todeszahlen nicht bereit. Das hat die Bund-Länder-Konferenz vom gestrigen Dienstag wieder deutlich gezeigt.

Erneut haben sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Länder per Videoschalte getroffen. Herausgekommen ist kaum mehr als die schlichte Verlängerung der bisherigen, bei weitem nicht ausreichenden Maßnahmen bis Ende Januar, gepaart mit zusätzlichen Einschränkungen, die man nur als kosmetisch bezeichnen kann. Dazu gehört ein auf 15 Kilometer eingeschränkter Bewegungsradius in Regionen mit extrem hoher Inzidenz. Was dies beispielsweise in einer Stadt wie Berlin, München oder Köln bewirken soll, ist mehr als schleierhaft.

Merkel zusammen mit dem bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) und dem Berliner Oberbürgermeister Michael Müller (SPD) auf einer Pressekonferenz nach dem Gipfeltreffen am 5.Januar (Michael Kappeler/pool photo via AP)

Damit die Profite nicht versiegen, dürfen Betriebe und Produktionsstätten auch weiterhin offenbleiben. Lediglich Hotels, Gaststätten, Kaufhäuser, bestimmte Dienstleistungseinrichtungen, Museen und Kultureinrichtungen bleiben wie bisher geschlossen.

Selbst die Arbeit im Home Office hängt vom Goodwill der Arbeitgeber ab. Im Beschluss der Bund-Länder-Konferenz steht dazu folgender Satz: „Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber werden dringend gebeten, großzügige Home-Office-Möglichkeiten zu schaffen, um bundesweit den Grundsatz ‚Wir bleiben zuhause‘ umsetzen zu können.“

Infolgedessen bleiben auch Schulen und Kitas geöffnet. Damit die Produktion weiterläuft, geht ihre sogenannte „Schließung“ mit derart weitgehenden Ausnahmen und Notbetreuungsangeboten einher, dass täglich hunderttausende Pädagogen, Kinder und Jugendliche in den Präsenzunterricht und in die vollen Busse und Bahnen gezwungen werden.

Im rot-rot-grünen Berlin und im SPD-Grün-regierten Hamburg wurde in dieser Woche der Unterricht wieder aufgenommen. Und obwohl die Infektionszahlen Rekordhöhen erreichen, sind die Einrichtungen voll. In Hamburg wurden am Dienstag erstmals 700 Neuinfektionen in 24 Stunden registriert. Dennoch waren die Hamburger Kitas, wie die Medien berichteten, „zum Start ins neue Jahr vergleichsweise gut besucht“. Rund ein Drittel der Kita-Kinder und zwanzig Prozent der Grundschulkinder waren am Montagmorgen vor Ort präsent, weil ihre Eltern arbeiten mussten.

In Berlin wies der Senat die Eltern schriftlich auf die Notversorgung in den Berliner Kitas hin und forderte sie regelrecht auf, ihre Kinder dorthin zu schicken. In seinem Brief des Senats vom 30.12. heißt es, man habe darauf verzichtet, besondere „Listen systemrelevanter Berufe“ zu erstellen. Und weiter: „Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass auch die Vermeidung von Verdienstausfällen einen außerordentlich dringlichen Betreuungsbedarf darstellt.“ So wird auf Eltern und Pädagogen Druck ausgeübt, der Arbeitspflicht nachzukommen.

Unter solchen Bedingungen wundert es nicht, dass Lehrer und Betreuer ungeachtet der Corona-Gefahr täglich in den Bildungseinrichtungen präsent sein müssen. Dabei fehlt es auch neun Monate nach dem ersten Lockdown immer noch an FFP2-Masken, Luftfiltergeräten und massenhaften Schnelltests. Auch die Umstellung auf Online-Unterricht und kleine Gruppen lässt zu wünschen übrig, und es fehlt an ausreichend Geräten, Technikern und Lehrpersonal.

Der Satz in der Regierungserklärung, dem zufolge „Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen höchste Bedeutung für die Bildung der Kinder“ hätten, wird so in sein Gegenteil umgedreht: In Realität verkommen die Schulen und Kitas zu bloßen Verwahranstalten und werden zu Pandemietreibern und Todesfallen.

Die Kultusminister hatten sich schon am Montag verständigt, dass Grundschulen und Kitas als erste wieder voll geöffnet werden sollen, und dass der sogenannte Lockdown für ältere Schüler, die in einer Abschlussklasse sind, nicht zu gelten habe. Die Ministerpräsidentenrunde mit der Kanzlerin bekräftigte dies am Dienstag.

Im Interesse der Profite der Konzerne und Banken setzt die Regierung weiter auf eine Politik des Todes und kaschiert dies durch längst entlarvte Lügen, wie dass kleinere Kinder nicht so ansteckend seien. In Baden-Württemberg hat Bildungsministerin Susanne Eisenmann (CDU) noch am Wochenende kategorisch gefordert, Kitas und Grundschulen ab dem 11. Januar wieder zu öffnen.

Bei alledem sind die Corona-Infektions- und Todeszahlen weiterhin erschreckend hoch. Am Dienstag meldete das RKI neben knapp 11.900 Neuinfektionen auch wieder 944 Todesopfer. Die Feiertage, an denen diese Zahlen etwas niedriger lagen – vor allem, weil viele Gesundheitsämter weniger testen ließen und keine Zahlen übermittelten – sind definitiv vorbei. Die täglichen Todeszahlen liegen nahe bei tausend; das ist, als würden jeden Tag zwei Jumbo-Jets abstürzen.

Mehr als tausend europäische Wissenschaftler haben den Aufruf „WissenschaftlerInnen fordern europäische Strategie zur raschen und nachhaltigen Reduktion der Covid-19-Fallzahlen“ unterzeichnet, der am 18. Dezember in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet erschienen ist. Sie fordern einen europaweit koordinierten strengen Lockdown.

Am Samstag, den 2. Januar, erläuterten DIVI-Präsident Uwe Janssen, Prof. Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig und Dr. Viola Priesemann, Leiterin einer Max-Planck-Forschungsgruppe in Göttingen, den Aufruf in einem Webinar.

„Wir sind ja keine Insel“, begründete Viola Priesemann die Forderung nach einem „echten Reset“. Es sei dringend notwendig, europaweit koordinierter Aktionen gegen die Pandemie zu ergreifen. „Wie hoch die Fallzahlen in einem Land sind, hängt auch davon ab, wie hoch die Fallzahlen in allen Ländern sind.“ Wie sich in den sozialen Medien zeigt, genießen diese Forderungen in der Bevölkerung große Unterstützung.

Laut Dr. Priesemann ist von „niedrigen Fallzahlen“ erst dann zu sprechen, wenn sie im Bereich von 10 pro 100.000 Einwohner liegen. Bei wesentlich höheren Fallzahlen verlieren die Gesundheitsämter die Kontrolle und sind nicht mehr in der Lage, alle Kontakte aufzuspüren, das Umfeld systematisch zu testen und jeden neuen Fall in die Isolation zu schicken. Dann breitet sich das Virus ungehindert und exponentiell aus. Und dies führt auch zu den aus Großbritannien bekannt gewordenen Mutationen, die sich mittlerweile über ganz Europa ausbreiten.

Doch die Kanzlerin und die Länderregierungen gehen darüber großzügig hinweg. In ihrem Beschluss vom 5. Januar schreiben sie, Ziel sei es, „die 7-Tages-Inzidenz auf unter 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner zu senken“ – ein Ziel, dass sich ohne die vollständige Schließung nicht lebenswichtiger Betriebe und von Schulen und Kitas nicht erreichen lässt.

Aktuell sind die Inzidenzwerte doppelt und dreifach, in einigen Fällen auch zwanzig Mal so hoch. Die durchschnittliche Sieben-Tages-Inzidenz für Deutschland liegt aktuell bei 135 pro 100.000 Einwohner; drei Viertel der 410 Landkreise weisen Inzidenzen von mehr als 100 auf, wie die Regierung selbst einräumt, und bei über 70 Kreisen liegt sie über 200. Der sächsische Vogtlandkreis hat als Spitzenreiter sogar einen Inzidenzwert von 929 pro 100.000 Einwohner, was bedeutet, dass sich dort in der letzten Woche knapp ein Prozent der Bevölkerung mit Corona angesteckt hat.

Wie alle Regierungen Europas setzen sich auch die Merkel-Regierung und die Ministerpräsidenten und Kultusminister der Länder über jede wissenschaftsgestützte Forderung hinweg und halten an der mörderischen Durchseuchungspolitik fest.

Das zeigt sich auch an der Impfpolitik. In ihrem Beschluss rühmt sich die Regierung: „Mit der Mobilisierung aller Kräfte von Wissenschaft und Forschung ist es in Rekordzeit gelungen, Impfstoffe mit guter Verträglichkeit und hoher Wirksamkeit zu entwickeln, zu testen und zum Einsatz zu bringen.“ Allerdings ist gerade die so wichtige Impfstrategie ein krasses Beispiel für ihre kriminelle Nachlässigkeit.

Das Impfen begann am 27. Dezember, und bisher sind bundesweit laut RKI in der ersten Woche gerade mal 265.000 Menschen geimpft worden, das sind weniger als 40.000 pro Tag. Überall fehlt es an Impfstoff, und das groß angekündigte Potential eingerichteter Zentren in Messe-, Flug- oder Sporthallen kann bei weitem nicht ausgenützt werden. Viele freiwillige Ärzte und Krankenschwestern beklagen sich, dass sie gar nicht gebraucht worden seien.

Wäre genügend Impfstoff vorhanden, dann wäre es möglich, in zwei bis drei Monaten bis zu 60 Prozent der Bevölkerung zu impfen. Wie sich zeigt, hat die Regierung es jedoch versäumt, rechtzeitig ausreichend Impfstoff zu bestellen. Das betrifft nicht nur Deutschland, sondern die ganze EU.

Selbst aus der regierungsnahen Nationalen Akademie der Wissenschaften „Leopoldina“ wurden Merkel und ihr Gesundheitsminister Jens Spahn deshalb heftig kritisiert. „Vor kurzem gab es noch offizielle Totengedenken“, erklärte Leopoldina-Mitarbeiterin Frauke Zipp der Zeitung Die Welt. „Jetzt zählt offenbar nicht mehr jeder Tag, an dem Menschenleben gerettet werden können.“ Denn die Impfstrategie müsse, wenn sie erfolgreich sein solle, rasch durchgeführt werden, um weiteren Mutationen des Virus zuvorzukommen.

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